30
 
Als er den Ranger mit großen Schritten über den Grasstreifen hinweg auf den Abschleppwagen zukommen sah, schob er mit einem Fuß die Decke über seine men sah, schob er mit einem Fuß die Decke über seine Waffen. Dann legte er das Neue Testament neben sich auf den Sitz, geöffnet im dreiundzwanzigsten Kapitel des Lukas-Evangeliums. Vers 46, wo der gekreuzigte Jesus mit lauter Stimme ruft: »Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist!«
Genau die Worte, von denen er glaubte, dass Maxine sie in ihrem letzten Augenblick gerufen hatte. Oder gerufen hätte, wenn man ihr noch die Gelegenheit dazu gelassen hätte.
Er stieg nicht aus, sondern blieb in der Kabine hinter dem Lenkrad sitzen, die rauen Hände auf seinen Schenkeln und einen säuerlichen Geschmack im Mund. Er starrte aus dem Seitenfenster über das Feld hinweg auf eine Gruppe von Talgnussbäumen, die dort zwischen den Brombeeren aufragten. In den Zweigen plusterten Grackel ihre pechschwarzen Rüstungen auf.
Rule blieb neben der Tür stehen und schob seinen Hut zurück. Der Mann drinnen würdigte ihn keines Blickes.
»Tag, Mister Lomax.«
Harvey Lomax drehte sich um. Seine Augen fokussierten einen Punkt irgendwo links von Rules Schulter. Sein Gesicht war schweißnass. An einer seiner ledrigen Wangen klebte eine zerquetschte Mücke, sein kurzes ungekämmtes Haar sträubte sich wild in alle Richtungen. Dunkelgraue, bleifarbene Augen, die Haut ringsum geschwollen, die Brauen zwei wirre drahtige Bündel. Er nickte.
»Ranger Hooks.«
Rules Blick schweifte ab, über das Feld und weiter zum Highway. Er blinzelte in der grellen Sonne des späten Nachmittags.
»Heißer Tag heute.«
Lomax nickte wieder. So wie die Dinge lagen, würde er nicht über die Hitze streiten. Obwohl die Feuer der Hölle sieben mal siebzigmal heißer waren.
»Ich weiß Ihr Interesse zu schätzen, Mister Lomax, aber ich schätze, ich kann meine Arbeit besser ohne Ihre Hilfe erledigen.« Rule schaute immer noch zur Seite.
Lomax hob langsam die Hände, legte seine zerkratzten Knöchel um das Lenkrad und packte fest zu. Soweit er es beurteilen konnte, hatte der Mann mit der Arbeit nicht mal begonnen. Essen und Trinken, Verkehr mit Unzüchtigen. Ausschweifung und Lust, Schwelgen im Fleischlichen. Sein Geist war unrein, ein typischer Mann des Fleisches. Doch diese Dinge gefährdeten die Seele des Rangers, nicht seine eigene.
Also folgten Lomax’ Augen Rules Blicken, als hätten sich beide unausgesprochen darauf geeinigt, dass es besser war, sich nicht direkt anzuschauen.
»Soviel ich weiß, ist das hier immer noch ein freies Land.«
Rule verschränkte die Arme über der Brust, lehnte sich zur Seite und spuckte ins Gras.
»Ja, das ist es«, antwortete er. »Mehr oder weniger.«
Eine Weile schwiegen beide. Die Grillen im Feld begannen zu zirpen. In Wellen schwollen die Geräusche an und ab. Auf der Straße fuhren Trucks vorbei. Über ihnen brannte die Sonne am Himmel wie eine glühende Fackel aus weißer Hitze inmitten der blassblauen Weite. Während sie schwiegen, dachten beide Männer an das, was gesagt werden konnte, und daran, dass es gänzlich unnötig war, es auszusprechen. Schließlich aber wurde beiden klar, dass es trotz allem unumgänglich war. Es gab keine Möglichkeit, es zu vermeiden. Als es sich nicht länger herauszögern ließ, ergriff Rule die Initiative.
»Die Sache ist, Mister Lomax, dass Freiheit nicht umsonst ist.«
»Nein, ist sie nicht.«
»Korrekt. Sie hat ihren Preis.«
Lomax warf Rule einen scharfen Blick zu, dann wandte er sich wieder ab. Die grauen Augen wirkten flüssig in der Hitze. Als wollten sie sagen: Was können Sie mir schon über den Preis erzählen?
Rule atmete tief durch. »Es gibt nämlich ein paar Regeln, Mister Lomax. Das ist der Preis, von dem ich spreche. Regeln, die meine Freiheit gegen Ihre schützen, und Ihre gegen meine. Ein paar grundlegende Regeln wurden gebrochen. Und zwar von diesen Kerlen. Das sind ziemlich üble Burschen, Mister Lomax, und mein Job ist es jetzt, die Dinge in Ordnung zu bringen. Ich kann es nicht zulassen, dass Sie mir dazwischenfunken. Das ist auch eine Regel.«
»Ich glaub nicht, dass ich diese Regel gebrochen habe.«
Rule rieb sich über den Kiefer. »Nein, haben Sie nicht. Aber ich denke, dass Sie das vorhaben.«
Kurz starrten sich beide Männer direkt ins Gesicht und dann wie auf Kommando zum Highway hinüber, als wäre von dort eine Vermittlung zu erhoffen, eine Lösung, wenn sie bloß lange genug warteten.
Es war Lomax, der schließlich mit spröder, sachlicher Stimme das Wort ergriff. »Ich denke, ich soll das als Warnung verstehen.«
»Jawohl, das sollten Sie.«
»Gut.«
Nach einer Weile tippte Rule an den Rand seines Hutes. »Ich mach mich jetzt besser auf den Weg. Ich wünsche Ihnen alles Gute und möchte Ihnen noch mal sagen, dass Sie mein tiefstes Mitgefühl haben.«
Er drehte sich um und marschierte los. Nach einigen Schritten wandte er sich noch einmal um. »Ich bin kein Prediger, Mister Lomax, und glaube auch nicht, dass ich mich dafür eigne. Aber ich habe gehört, dass Sie ein echter Christ sind. Außerdem stehen Sie im Dienst des Gesetzes, jedenfalls oben in Waller County. Sie haben einen Eid geleistet, dieses Gesetz zu hüten. Ich gehe davon aus, dass Sie diesem Eid Folge leisten werden. Und dass Sie später dankbar dafür sein werden, wenn Sie ihm gefolgt sind.«
Lomax packte das Steuer noch fester. Seine Stimme war leise, erhob sich jedoch nach und nach zu einem rauen Singsang. »Das Gesetz, Ranger Hooks, ist nicht für den gerechten Mann geschaffen, sondern für die Gesetzlosen und Ungehorsamen, für die Gottlosen und Sünder, für die Heillosen und Profanen, für Mörder von Vätern und Mörder von Müttern, für diejenigen, die Menschen erschlagen. Und so steht es geschrieben im Brief von Paulus an Timotheus.«
Rule senkte den Kopf und zupfte sich an einem Ohr. Durch das hohe Gras trat er näher an den Abschleppwagen heran und legte eine Hand auf die Leiste des Fensters auf der Fahrerseite. Das Metall war heiß. Jetzt sah er das Neue Testament offen auf dem Sitz liegen.
»Ich glaube nicht, dass Paulus jemals die Gesetze des Staates Texas studiert hat, Mister Lomax. Ich weiß auch nicht, ob Sie das getan haben. Jedenfalls heißt es dort, dass die Gesetze für uns alle gelten. So heißt es ganz ausdrücklich, und ich kann mich an keine Ausnahmen erinnern. Vielleicht reden wir beide also nicht von denselben Gesetzen.«
Lomax starrte geradeaus.
»Ist das so, Mister Lomax?«
Der Mann musterte den Ranger. »Könnte schon sein.«
»Nun, dann haben wir ein Problem.« Rule klopfte mehrmals mit der flachen Hand auf die metallene Fensterleiste. »Mister Lomax, wie viel wissen Sie über diese Kerle?«
Der ausgemergelte Mann zog einen Papierfetzen aus seinem Overall und streckte ihn ihm entgegen. Darees Ledoo.
»Das ist nicht der Mann, der Ihre Frau erschossen hat.«
»Er war dabei.«
»Ja, das war er. Was wissen Sie sonst noch?«
»Der andere Kerl hatte rote Haare.«
»Dann wissen Sie genauso viel wie wir.«
Lomax steckte das Papier wieder in die Tasche des Overalls. »Also wissen Sie nicht besonders viel.«
»Richtig, bis jetzt nicht. Deshalb schlage ich vor, Sie fahren nach Hause. Wenn wir Sie brauchen, rufen wir Sie an.«
Wieder sah Lomax Rule direkt in die Augen. Eine seiner struppigen Brauen bebte. »Sie erfahren gar nichts, wenn Sie sich in einem Motelzimmer einmotten.«
Rule grunzte. »Sind Sie mal auf die Jagd gegangen, Mister Lomax?«
»Sicher.«
»Dann wissen Sie sicher eine Menge übers Warten.«
»Ich weiß’ne Menge übers Jagen.«
»Sie denken, ich packe es falsch an.«
Der Mann wandte sich ab. Sein Gesichtsausdruck war gelassen. »Wie Sie schon sagen, das geht mich nichts an.«
»Mister Lomax, ich wünschte nur, dass Sie es auch so meinen. Überlassen Sie diese Kerle mir. Das ist mein Job, und ich habe vor, ihn zu erledigen.«
»Nur zu. Es ist ein freies Land hier.«
Rule nickte einmal, dann drehte er sich um und überquerte mit großen Schritten das Feld. Lomax beobachtete, wie er sich dem Motel näherte. Der Mann war ein Ranger, vielleicht hatte er ja seine eigene Methode zu arbeiten. Eine merkwürdige Methode, die er, Lomax, nicht kannte. Andererseits waren ihm mehr als einmal irgendwelche Regierungsbürokraten über den Weg gelaufen, die Uniformen trugen und Waffen mit sich herumschleppten und sich doch nur an der Brust des Steuerzahlers ernährten. Dafür, dachte er, muss ich beim nächsten Steuertermin also auch noch bezahlen. So wie ich für diesen roten Dodge Pick-up bezahle. Und Gott weiß, wofür sonst noch. Für dieses Motelzimmer zum Beispiel.
Er fragte sich, ob er auch für die Hure bezahlen musste, die der Ranger angeschleppt hatte.
Während der hochgewachsene Mann aus seinem Blickfeld verschwand, dachte Lomax: Es gibt solche Gesetze und solche. Solche Eide und solche. Die eine Pflicht und die andere. Solange beide zusammenfielen, war alles in Ordnung. Aber wenn sie sich widersprachen, gab es für ihn keinen Zweifel, welche den Vorrang hatte. Es stand gleich hier, in der Schrift: Wenn du aber vom Geist geleitet wirst, stehst du nicht unter dem Gesetz.
Galater 5, Vers 18.
Robbers: Thriller
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