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Als er den Ranger mit großen Schritten über den
Grasstreifen hinweg auf den Abschleppwagen zukommen sah, schob er
mit einem Fuß die Decke über seine men sah, schob er mit einem Fuß
die Decke über seine Waffen. Dann legte er das Neue Testament neben
sich auf den Sitz, geöffnet im dreiundzwanzigsten Kapitel des
Lukas-Evangeliums. Vers 46, wo der gekreuzigte Jesus mit lauter
Stimme ruft: »Vater, in deine Hände lege ich meinen
Geist!«
Genau die Worte, von
denen er glaubte, dass Maxine sie in ihrem letzten Augenblick
gerufen hatte. Oder gerufen hätte, wenn man ihr noch die
Gelegenheit dazu gelassen hätte.
Er stieg nicht aus,
sondern blieb in der Kabine hinter dem Lenkrad sitzen, die rauen
Hände auf seinen Schenkeln und einen säuerlichen Geschmack im Mund.
Er starrte aus dem Seitenfenster über das Feld hinweg auf eine
Gruppe von Talgnussbäumen, die dort zwischen den Brombeeren
aufragten. In den Zweigen plusterten Grackel ihre pechschwarzen
Rüstungen auf.
Rule blieb neben der
Tür stehen und schob seinen Hut zurück. Der Mann drinnen würdigte
ihn keines Blickes.
»Tag, Mister
Lomax.«
Harvey Lomax drehte
sich um. Seine Augen fokussierten einen Punkt irgendwo links von
Rules Schulter. Sein Gesicht war schweißnass. An einer seiner
ledrigen Wangen klebte eine zerquetschte Mücke, sein kurzes
ungekämmtes Haar sträubte sich wild in alle Richtungen.
Dunkelgraue, bleifarbene Augen, die Haut ringsum geschwollen, die
Brauen zwei wirre drahtige Bündel. Er nickte.
»Ranger
Hooks.«
Rules Blick
schweifte ab, über das Feld und weiter zum Highway. Er blinzelte in
der grellen Sonne des späten Nachmittags.
»Heißer Tag
heute.«
Lomax nickte wieder.
So wie die Dinge lagen, würde er nicht über die Hitze streiten.
Obwohl die Feuer der Hölle sieben mal siebzigmal heißer
waren.
»Ich weiß Ihr
Interesse zu schätzen, Mister Lomax, aber ich schätze, ich kann
meine Arbeit besser ohne Ihre Hilfe erledigen.« Rule schaute immer
noch zur Seite.
Lomax hob langsam
die Hände, legte seine zerkratzten Knöchel um das Lenkrad und
packte fest zu. Soweit er es beurteilen konnte, hatte der Mann mit
der Arbeit nicht mal begonnen. Essen und Trinken, Verkehr mit
Unzüchtigen. Ausschweifung und Lust, Schwelgen im Fleischlichen.
Sein Geist war unrein, ein typischer Mann des Fleisches. Doch diese
Dinge gefährdeten die Seele des Rangers, nicht seine
eigene.
Also folgten Lomax’
Augen Rules Blicken, als hätten sich beide unausgesprochen darauf
geeinigt, dass es besser war, sich nicht direkt
anzuschauen.
»Soviel ich weiß,
ist das hier immer noch ein freies Land.«
Rule verschränkte
die Arme über der Brust, lehnte sich zur Seite und spuckte ins
Gras.
»Ja, das ist es«,
antwortete er. »Mehr oder weniger.«
Eine Weile schwiegen
beide. Die Grillen im Feld begannen zu zirpen. In Wellen schwollen
die Geräusche an und ab. Auf der Straße fuhren Trucks vorbei. Über
ihnen brannte die Sonne am Himmel wie eine glühende Fackel aus
weißer Hitze inmitten der blassblauen Weite. Während sie schwiegen,
dachten beide Männer an das, was gesagt werden konnte, und daran,
dass es gänzlich unnötig war, es auszusprechen. Schließlich aber
wurde beiden klar, dass es trotz allem unumgänglich war. Es gab
keine Möglichkeit, es zu vermeiden. Als es sich nicht länger
herauszögern ließ, ergriff Rule die Initiative.
»Die Sache ist,
Mister Lomax, dass Freiheit nicht umsonst ist.«
»Nein, ist sie
nicht.«
»Korrekt. Sie hat
ihren Preis.«
Lomax warf Rule
einen scharfen Blick zu, dann wandte er sich wieder ab. Die grauen
Augen wirkten flüssig in der Hitze. Als wollten sie sagen: Was
können Sie mir schon über den Preis erzählen?
Rule atmete tief
durch. »Es gibt nämlich ein paar Regeln, Mister Lomax. Das ist der
Preis, von dem ich spreche. Regeln, die meine Freiheit gegen Ihre
schützen, und Ihre gegen meine. Ein paar grundlegende Regeln wurden
gebrochen. Und zwar von diesen Kerlen. Das sind ziemlich üble
Burschen, Mister Lomax, und mein Job ist es jetzt, die Dinge in
Ordnung zu bringen. Ich kann es nicht zulassen, dass Sie mir
dazwischenfunken. Das ist auch eine Regel.«
»Ich glaub nicht,
dass ich diese Regel gebrochen habe.«
Rule rieb sich über
den Kiefer. »Nein, haben Sie nicht. Aber ich denke, dass Sie das
vorhaben.«
Kurz starrten sich
beide Männer direkt ins Gesicht und dann wie auf Kommando zum
Highway hinüber, als wäre von dort eine Vermittlung zu erhoffen,
eine Lösung, wenn sie bloß lange genug warteten.
Es war Lomax, der
schließlich mit spröder, sachlicher Stimme das Wort ergriff. »Ich
denke, ich soll das als Warnung verstehen.«
»Jawohl, das sollten
Sie.«
»Gut.«
Nach einer Weile
tippte Rule an den Rand seines Hutes. »Ich mach mich jetzt besser
auf den Weg. Ich wünsche Ihnen alles Gute und möchte Ihnen noch mal
sagen, dass Sie mein tiefstes Mitgefühl haben.«
Er drehte sich um
und marschierte los. Nach einigen Schritten wandte er sich noch
einmal um. »Ich bin kein Prediger, Mister Lomax, und glaube auch
nicht, dass ich mich dafür eigne. Aber ich habe gehört, dass Sie
ein echter Christ sind. Außerdem stehen Sie im Dienst des Gesetzes,
jedenfalls oben in Waller County. Sie haben einen Eid geleistet,
dieses Gesetz zu hüten. Ich gehe davon aus, dass Sie diesem Eid
Folge leisten werden. Und dass Sie später dankbar dafür sein
werden, wenn Sie ihm gefolgt sind.«
Lomax packte das
Steuer noch fester. Seine Stimme war leise, erhob sich jedoch nach
und nach zu einem rauen Singsang. »Das Gesetz, Ranger Hooks, ist
nicht für den gerechten Mann geschaffen, sondern für die
Gesetzlosen und Ungehorsamen, für die Gottlosen und Sünder, für die
Heillosen und Profanen, für Mörder von Vätern und Mörder von
Müttern, für diejenigen, die Menschen erschlagen. Und so steht es
geschrieben im Brief von Paulus an Timotheus.«
Rule senkte den Kopf
und zupfte sich an einem Ohr. Durch das hohe Gras trat er näher an
den Abschleppwagen heran und legte eine Hand auf die Leiste des
Fensters auf der Fahrerseite. Das Metall war heiß. Jetzt sah er das
Neue Testament offen auf dem Sitz liegen.
»Ich glaube nicht,
dass Paulus jemals die Gesetze des Staates Texas studiert hat,
Mister Lomax. Ich weiß auch nicht, ob Sie das getan haben.
Jedenfalls heißt es dort, dass die Gesetze für uns alle gelten. So
heißt es ganz ausdrücklich, und ich kann mich an keine Ausnahmen
erinnern. Vielleicht reden wir beide also nicht von denselben
Gesetzen.«
Lomax starrte
geradeaus.
»Ist das so, Mister
Lomax?«
Der Mann musterte
den Ranger. »Könnte schon sein.«
»Nun, dann haben wir
ein Problem.« Rule klopfte mehrmals mit der flachen Hand auf die
metallene Fensterleiste. »Mister Lomax, wie viel wissen Sie über
diese Kerle?«
Der ausgemergelte
Mann zog einen Papierfetzen aus seinem Overall und streckte ihn ihm
entgegen. Darees Ledoo.
»Das ist nicht der
Mann, der Ihre Frau erschossen hat.«
»Er war
dabei.«
»Ja, das war er. Was
wissen Sie sonst noch?«
»Der andere Kerl
hatte rote Haare.«
»Dann wissen Sie
genauso viel wie wir.«
Lomax steckte das
Papier wieder in die Tasche des Overalls. »Also wissen Sie nicht
besonders viel.«
»Richtig, bis jetzt
nicht. Deshalb schlage ich vor, Sie fahren nach Hause. Wenn wir Sie
brauchen, rufen wir Sie an.«
Wieder sah Lomax
Rule direkt in die Augen. Eine seiner struppigen Brauen bebte. »Sie
erfahren gar nichts, wenn Sie sich in einem Motelzimmer
einmotten.«
Rule grunzte. »Sind
Sie mal auf die Jagd gegangen, Mister Lomax?«
»Sicher.«
»Dann wissen Sie
sicher eine Menge übers Warten.«
»Ich weiß’ne Menge
übers Jagen.«
»Sie denken, ich
packe es falsch an.«
Der Mann wandte sich
ab. Sein Gesichtsausdruck war gelassen. »Wie Sie schon sagen, das
geht mich nichts an.«
»Mister Lomax, ich
wünschte nur, dass Sie es auch so meinen. Überlassen Sie diese
Kerle mir. Das ist mein Job, und ich habe vor, ihn zu
erledigen.«
»Nur zu. Es ist ein
freies Land hier.«
Rule nickte einmal,
dann drehte er sich um und überquerte mit großen Schritten das
Feld. Lomax beobachtete, wie er sich dem Motel näherte. Der Mann
war ein Ranger, vielleicht hatte er ja seine eigene Methode zu
arbeiten. Eine merkwürdige Methode, die er, Lomax, nicht kannte.
Andererseits waren ihm mehr als einmal irgendwelche
Regierungsbürokraten über den Weg gelaufen, die Uniformen trugen
und Waffen mit sich herumschleppten und sich doch nur an der Brust
des Steuerzahlers ernährten. Dafür, dachte er, muss ich beim
nächsten Steuertermin also auch noch bezahlen. So wie ich für
diesen roten Dodge Pick-up bezahle. Und Gott weiß, wofür sonst
noch. Für dieses Motelzimmer zum Beispiel.
Er fragte sich, ob
er auch für die Hure bezahlen musste, die der Ranger angeschleppt
hatte.
Während der
hochgewachsene Mann aus seinem Blickfeld verschwand, dachte Lomax:
Es gibt solche Gesetze und solche. Solche Eide und solche. Die eine
Pflicht und die andere. Solange beide zusammenfielen, war alles in
Ordnung. Aber wenn sie sich widersprachen, gab es für ihn keinen
Zweifel, welche den Vorrang hatte. Es stand gleich hier, in der
Schrift: Wenn du aber vom Geist geleitet wirst, stehst du nicht
unter dem Gesetz.
Galater 5, Vers
18.