19
 
Den Lone-Ranger-Koffer lieferten sie bei Dellas Mutter in Missouri City ab. Das kleine aus Schindeln errichtete Haus thronte auf Betonpfeilern, die von Rissen durchzogen waren. Die gegenüberliegende Seite der mit Schlaglöchern übersäten Straße wurde ebenfalls von bröckelnden Betonpfeilern mit ähnlichen Holzhäusern gesäumt. Zwischen den Häusern und der Straße lagen Gräben und schäbige, überwucherte Vorgärten, in deren Unkraut Autowracks ohne Räder aufragten. Eine Arbeitergegend auf dem besten Weg zum Asozialenviertel. Das Haus von Dellas Mutter neigte sich ein wenig nach links, als wäre es müde und könnte sich nicht entscheiden, ob es stehen bleiben oder umfallen sollte.
»Hübsches Haus«, sagte Eddie.
»Findest du wirklich?«
»Na klar, echt hübsch.«
»Tja, jedenfalls war es das mal«, erklärte Della. »Bevor alles den Bach runtergegangen ist. Jetzt ist das ganze Viertel ein einziger Schrottplatz. Wenn hier mal ein Tornado durchfegen würde, könnte es eigentlich nur besser werden.«
Sie parkten am Straßenrand neben einem flachen, fast zugewachsenen Graben mit brackigem Wasser. Von dem trüben Gewässer wehte ein merkwürdiger Gestank herüber, eine Mischung aus warmen faulen Eiern und Schlamm. Della stieg zur Straßenseite hin aus, nahm den Koffer für die Kinder und ging die schmale, mit Austernschalen bedeckte Einfahrt hinauf, vorbei an einem zerbeulten Dodge Dart. Sie kam nur taumelnd voran, weil die spitzen Absätze ihrer Pumps auf den Muschelschalen schwer Halt fanden. Sie trug eine Sonnenbrille mit riesigen Gläsern, um ihr geschwollenes linkes Auge zu verbergen.
»Für mich sieht das nicht nach Schrottplatz aus«, erklärte Eddie. »Scheiße, das erinnert mich an Zuhause.«
»Aber nicht an meins«, sagte Ray Bob.
»Ich wusste gar nicht, dass du eins hast.«
»Jetzt weißt du’s.«
Als Della die fünf mal zwanzig Zentimeter messenden Holzstufen auf die durchhängende Veranda erklomm, stürmten zwei Kinder aus dem Haus und schlangen ihr die Arme um die Beine. Sie packte den größeren Jungen am Ohr und schüttelte seinen Kopf hin und her, bis ihm die Augen hervortraten. Eddie und Ray Bob konnten sie hören.
»Nimmst du deine Medizin, Randy?«
Der Junge steckte einen Daumen in den Mund und nickte.
»Schluckst du sie auch runter?«
Wieder nickte er. Mit einer Hand hielt er sich immer noch an Dellas Bein fest. Auch der kleinere Junge hatte begonnen, am Daumen zu lutschen. Della schlug ihm fest auf den Kopf, und er zuckte zusammen. »Also gut«, sagte sie. »Und dass ihr euch ja anständig benehmt. Hört ihr?«
»Ich schätze, das dürfte das Beste sein«, sagte Eddie.
Die Fliegengittertür zur Veranda öffnete sich, und eine Frau steckte den Kopf heraus. Ihr vertrocknetes Schildkrötengesicht war von tiefen Falten durchzogen und wirkte erschöpft und verhärmt. Sie trug einen langen Bademantel, den sie am Hals mit zittriger Hand zusammenhielt. Die Augen zu Schlitzen verengt wie ein Scharfschütze, starrte die Frau den Caddy an. Ihr kurz geschnittenes Haar war in einem Ton nahe an Kadmiumgelb gefärbt.
»Na, wenn das keine Perücke ist«, sagte Eddie.
»Wo?«
»Da drüben. Auf Dellas Mama.«
»Für mich wirkt das echt«, sagte Ray Bob. »Hässliche alte Hexe.«
»Darauf kannst du wetten.«
»Ein einziger müder Haufen Scheiße.«
»Sie nimmt ihr Eisen nicht.«
»Was hat das mit den Reispreisen in China zu tun?«
Eddie zuckte die Schultern. Er schnippte die Asche seiner Zigarette in den Straßengraben. »Keine Ahnung, jedenfalls ist es eine Perücke.«
»Blödsinn«, beharrte Ray Bob. »Fünf Scheine, dass es echte Haare sind.«
»Einverstanden.«
Die Frau hörte auf, sie anzustarren, und zog den Kopf wie eine Schildkröte ins Innere des Hauses zurück. Della und die Kinder folgten ihr. Im nächsten Augenblick öffnete sich die Fliegengittertür wieder. Della winkte. »Ich bin gleich zurück.«
Eddie lächelte und winkte zurück.
Ray Bob legte den Arm über die Fahrertür und zündete sich eine Zigarette an. Er musterte Eddie, dann blickte er die Straße hinunter. »Scheiße«, sagte er. »Dass du dich von einer Möse hast einwickeln lassen. Muss ja richtig gut gewesen sein, Kumpel.«
Als Eddie nicht reagierte, fragte er: »Wie war’s denn?«
»Ganz gut.«
»Besser als’ne Kuh?«
»Ich hab noch nie’ne Kuh gefickt«, sagte Eddie.
»Gestern hast du was anderes behauptet.«
»Nein, ich hab gefragt, ob du es schon mal getan hast.«
Ray Bob runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern.
»Dein Problem ist, dass du nicht richtig zuhörst«, sagte Eddie. »Und am Ende erschießt du Leute.«
Della trat heraus auf die Veranda, stieg seitlich die Treppe herunter und bewegte sich dann schnell, aber vorsichtig durch den Vorgarten, bemüht, den schlammigen Behausungen von Flusskrebsen auszuweichen. Die roten Stilettoabsätze versanken immer wieder im Boden. Um die Balance nicht zu verlieren, hielt sie die Arme ausgestreckt. Als sie den Graben erreicht hatte, schob sie die Sonnenbrille hoch und fragte mit verzweifeltem Augenrollen: »Habt ihr zehn Dollar? Meine Mama hat kein Geld mehr, um den Kindern was zum Essen zu kaufen.«
Eddie griff unter seinen Sitz und zog die Plastiktüte heraus. Er tastete darin herum und förderte schließlich eine Rolle Zehner und drei Rollen Fünfer zutage. Er warf sie ihr einzeln über den Graben zu – dünne, steinharte Zylinder, die sich im Weltraum um die eigene Achse drehten, Odyssee der Münzrollen.
»Das sind elf.«
»Danke, Eddie.« Sie lächelte ihn an, drehte sich um, machte einen Schritt und sank auf einer Seite ein. »Verdammt noch mal.«
Dann zog sie die Schuhe aus und ging weiter. »Haut jetzt bloß nicht ab. Ich bin gleich zurück.«
Sie schauten ihr nach, wie sie mit einem Schuh in jeder Hand zurück ins Haus ging.
»Beschwer dich jetzt bloß nicht«, sagte Eddie. »Das Geld war von meinem Anteil.«
»Mösenknecht.«
»Besser als’ne Wassermelone.«
»Fick dich.«
»Steck ihn doch quer rein.«
»Steck ihn rein und wieder raus.«
Eddie wollte schon sagen »im Mund deiner Mutter«, entschied sich aber lieber dagegen. Stattdessen erklärte er: »Falls du es noch nicht bemerkt hast, so langsam geht uns das Geld aus.«
»Darum kümmern wir uns.« Ray Bob klopfte gegen die Benzinanzeige. »Und wenn wir schon dabei sind, besorgen wir uns gleich ein bisschen preiswertes Benzin.«
»Ich nicht.«
»Entweder du bist drinnen oder draußen, Kumpel. Dazwischen gibt’s nichts.«
In diesem Moment erschien Della auf der Veranda. Mit den Schuhen in der Hand trippelte sie durch das Unkraut des Vorgartens und sprang hinter dem Caddy über den Graben. Sie kletterte auf den Rücksitz. Eddie sagte, sie könne auch vorne sitzen, doch sie meinte, es würde ihr nichts ausmachen, und vorne sei es ihr sowieso zu voll. Jetzt tauchten auch die Kinder auf und schauten ihr nach. Beide lutschten an ihren Daumen. Della winkte und rief ihnen zu, sie sollten hineingehen. Sie bewegten sich kein Stück. »Geht sofort rein!«, brüllte sie. Ray Bob ließ den Wagen an und fuhr los.
In der Mitte des Blocks drehte Eddie sich um und blickte zurück. Die beiden Kinder standen immer noch auf der Veranda und starrten ihnen hinterher, die Hände an den Mündern. Traurig blickende rotznasige Mannequins für einen Werbespot des Sozialamts. »Du musst ihnen das Daumenlutschen abgewöhnen.«
»Ich weiß.«
»Es ruiniert ihre Zähne«, sagte Eddie. »Mein Cousin Earl hat alle seine Zähne verloren und konnte bloß noch Haferbrei essen. Er war ein dürrer kleiner Bastard. Und nervös.«
»Sie tun’s ja auch nur, wenn sie nervös sind«, entgegnete Della. »Das ist ja der Grund, warum sie es tun.«
»Und weshalb sind sie nervös?«
»Hast du in letzter Zeit mal einen Blick auf die Welt geworfen, Eddie? Du müsstest dir bloß mal die Nachrichten anschauen.«
Eine Weile dachte er über ihre Antwort nach. »Bist du sicher, dass du nicht hier vorn sitzen willst?«
»Nein, aber trotzdem danke. Willst du hier hinten sitzen?«
Eddie kniff ein Auge zu und zog eine Grimasse. »Nee, das würde irgendwie komisch aussehen. Als ob wir’ne Limousine gemietet hätten oder so was. Wir wollen doch keine Aufmerksamkeit erregen.«
»Das müsst ihr wissen. Ihr seid die Experten.«
Della nahm eine Bürste aus ihrer Tasche, zerrte das rote elastische Band vom Kopf, bürstete ihre Dauerwellen nach hinten und machte das Band wieder fest. »Der Wind bringt meine Frisur ganz durcheinander.« Sie kämmte die Fransen in ihrer Stirn nach vorn. »Ich werde meine Kinder vermissen.«
»Klar«, sagte Eddie. »Die sind echt süß. Trägt deine Mama eigentlich’ne Perücke?«
Della kicherte. »Ich werd ihr nicht sagen, dass du danach gefragt hast.«
»Dann lass es bleiben.«
»Sicher lass ich es bleiben. Sie ist ziemlich empfindlich, wenn es um ihre Haare geht. Ich hab’s selbst gemacht. Professionelle Arbeit.«
Della verstummte. Dann bemerkte sie, dass Ray Bob sie im Rückspiegel musterte. Er wirkte argwöhnisch. Sie rutschte ein Stück zur Seite, aus seinem Blickfeld heraus. »Ich hab euch noch gar nicht erzählt, dass ich auf der Kosmetikschule war. Natürlich nur, um was in der Hinterhand zu haben. Als Absicherung. Falls aus meiner Modelkarriere nichts geworden wäre.«
»Das war’ne clevere Idee«, erklärte Eddie. Er beugte sich vor, schnappte sich eine Fünf-Dollar-Rolle Zehner aus seinem Plastikbeutel und reichte sie Ray Bob. »Umso besser, dass es geklappt hat.«
»Was willst du damit sagen?«
»Nichts.«
»Sicher?«
»Hab ich doch gesagt.«
»Es klang, als ob du etwas andeuten wolltest.«
»Ich kann nichts dafür, wie es klang.«
»Ich kann nämlich Gedanken lesen.«
»Gut, dann mal los.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob du es wirklich wissen willst.«
»Wenn ihr verdammt noch mal eine beschissene Sekunde lang die Fresse halten würdet«, fuhr ihnen Ray Bob ins Wort, »dann könnte mir verdammt noch mal jemand sagen, wie ich aus diesem Scheißviertel hier rauskomme.«
»Herrgott«, sagte Della. »Du weißt wahrhaftig, wie man sich ausdrückt. Fahr hier weiter, dann links, dann ein Stück weiter noch mal links auf den Highway. Die Alvin Sugar Land Road.«
»Gut. Gibt’s da auch irgendwo’ne verdammte Tankstelle?«
»Klar.«
Sie nahm einen roten Lippenstift heraus und formte den Mund zu einem großen O.
»Jede Menge.«
Robbers: Thriller
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