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Den Lone-Ranger-Koffer lieferten sie bei Dellas
Mutter in Missouri City ab. Das kleine aus Schindeln errichtete
Haus thronte auf Betonpfeilern, die von Rissen durchzogen waren.
Die gegenüberliegende Seite der mit Schlaglöchern übersäten Straße
wurde ebenfalls von bröckelnden Betonpfeilern mit ähnlichen
Holzhäusern gesäumt. Zwischen den Häusern und der Straße lagen
Gräben und schäbige, überwucherte Vorgärten, in deren Unkraut
Autowracks ohne Räder aufragten. Eine Arbeitergegend auf dem besten
Weg zum Asozialenviertel. Das Haus von Dellas Mutter neigte sich
ein wenig nach links, als wäre es müde und könnte sich nicht
entscheiden, ob es stehen bleiben oder umfallen
sollte.
»Hübsches Haus«,
sagte Eddie.
»Findest du
wirklich?«
»Na klar, echt
hübsch.«
»Tja, jedenfalls war
es das mal«, erklärte Della. »Bevor alles den Bach runtergegangen
ist. Jetzt ist das ganze Viertel ein einziger Schrottplatz. Wenn
hier mal ein Tornado durchfegen würde, könnte es eigentlich nur
besser werden.«
Sie parkten am
Straßenrand neben einem flachen, fast zugewachsenen Graben mit
brackigem Wasser. Von dem trüben Gewässer wehte ein merkwürdiger
Gestank herüber, eine Mischung aus warmen faulen Eiern und Schlamm.
Della stieg zur Straßenseite hin aus, nahm den Koffer für die
Kinder und ging die schmale, mit Austernschalen bedeckte Einfahrt
hinauf, vorbei an einem zerbeulten Dodge Dart. Sie kam nur taumelnd
voran, weil die spitzen Absätze ihrer Pumps auf den Muschelschalen
schwer Halt fanden. Sie trug eine Sonnenbrille mit riesigen
Gläsern, um ihr geschwollenes linkes Auge zu
verbergen.
»Für mich sieht das
nicht nach Schrottplatz aus«, erklärte Eddie. »Scheiße, das
erinnert mich an Zuhause.«
»Aber nicht an
meins«, sagte Ray Bob.
»Ich wusste gar
nicht, dass du eins hast.«
»Jetzt weißt
du’s.«
Als Della die fünf
mal zwanzig Zentimeter messenden Holzstufen auf die durchhängende
Veranda erklomm, stürmten zwei Kinder aus dem Haus und schlangen
ihr die Arme um die Beine. Sie packte den größeren Jungen am Ohr
und schüttelte seinen Kopf hin und her, bis ihm die Augen
hervortraten. Eddie und Ray Bob konnten sie hören.
»Nimmst du deine
Medizin, Randy?«
Der Junge steckte
einen Daumen in den Mund und nickte.
»Schluckst du sie
auch runter?«
Wieder nickte er.
Mit einer Hand hielt er sich immer noch an Dellas Bein fest. Auch
der kleinere Junge hatte begonnen, am Daumen zu lutschen. Della
schlug ihm fest auf den Kopf, und er zuckte zusammen. »Also gut«,
sagte sie. »Und dass ihr euch ja anständig benehmt. Hört
ihr?«
»Ich schätze, das
dürfte das Beste sein«, sagte Eddie.
Die Fliegengittertür
zur Veranda öffnete sich, und eine Frau steckte den Kopf heraus.
Ihr vertrocknetes Schildkrötengesicht war von tiefen Falten
durchzogen und wirkte erschöpft und verhärmt. Sie trug einen langen
Bademantel, den sie am Hals mit zittriger Hand zusammenhielt. Die
Augen zu Schlitzen verengt wie ein Scharfschütze, starrte die Frau
den Caddy an. Ihr kurz geschnittenes Haar war in einem Ton nahe an
Kadmiumgelb gefärbt.
»Na, wenn das keine
Perücke ist«, sagte Eddie.
»Wo?«
»Da drüben. Auf
Dellas Mama.«
»Für mich wirkt das
echt«, sagte Ray Bob. »Hässliche alte Hexe.«
»Darauf kannst du
wetten.«
»Ein einziger müder
Haufen Scheiße.«
»Sie nimmt ihr Eisen
nicht.«
»Was hat das mit den
Reispreisen in China zu tun?«
Eddie zuckte die
Schultern. Er schnippte die Asche seiner Zigarette in den
Straßengraben. »Keine Ahnung, jedenfalls ist es eine
Perücke.«
»Blödsinn«, beharrte
Ray Bob. »Fünf Scheine, dass es echte Haare sind.«
»Einverstanden.«
Die Frau hörte auf,
sie anzustarren, und zog den Kopf wie eine Schildkröte ins Innere
des Hauses zurück. Della und die Kinder folgten ihr. Im nächsten
Augenblick öffnete sich die Fliegengittertür wieder. Della winkte.
»Ich bin gleich zurück.«
Eddie lächelte und
winkte zurück.
Ray Bob legte den
Arm über die Fahrertür und zündete sich eine Zigarette an. Er
musterte Eddie, dann blickte er die Straße hinunter. »Scheiße«,
sagte er. »Dass du dich von einer Möse hast einwickeln lassen. Muss
ja richtig gut gewesen sein, Kumpel.«
Als Eddie nicht
reagierte, fragte er: »Wie war’s denn?«
»Ganz
gut.«
»Besser als’ne
Kuh?«
»Ich hab noch nie’ne
Kuh gefickt«, sagte Eddie.
»Gestern hast du was
anderes behauptet.«
»Nein, ich hab
gefragt, ob du es schon mal getan hast.«
Ray Bob runzelte die
Stirn und versuchte sich zu erinnern.
»Dein Problem ist,
dass du nicht richtig zuhörst«, sagte Eddie. »Und am Ende erschießt
du Leute.«
Della trat heraus
auf die Veranda, stieg seitlich die Treppe herunter und bewegte
sich dann schnell, aber vorsichtig durch den Vorgarten, bemüht, den
schlammigen Behausungen von Flusskrebsen auszuweichen. Die roten
Stilettoabsätze versanken immer wieder im Boden. Um die Balance
nicht zu verlieren, hielt sie die Arme ausgestreckt. Als sie den
Graben erreicht hatte, schob sie die Sonnenbrille hoch und fragte
mit verzweifeltem Augenrollen: »Habt ihr zehn Dollar? Meine Mama
hat kein Geld mehr, um den Kindern was zum Essen zu
kaufen.«
Eddie griff unter
seinen Sitz und zog die Plastiktüte heraus. Er tastete darin herum
und förderte schließlich eine Rolle Zehner und drei Rollen Fünfer
zutage. Er warf sie ihr einzeln über den Graben zu – dünne,
steinharte Zylinder, die sich im Weltraum um die eigene Achse
drehten, Odyssee der Münzrollen.
»Das sind
elf.«
»Danke, Eddie.« Sie
lächelte ihn an, drehte sich um, machte einen Schritt und sank auf
einer Seite ein. »Verdammt noch mal.«
Dann zog sie die
Schuhe aus und ging weiter. »Haut jetzt bloß nicht ab. Ich bin
gleich zurück.«
Sie schauten ihr
nach, wie sie mit einem Schuh in jeder Hand zurück ins Haus
ging.
»Beschwer dich jetzt
bloß nicht«, sagte Eddie. »Das Geld war von meinem
Anteil.«
»Mösenknecht.«
»Besser als’ne
Wassermelone.«
»Fick
dich.«
»Steck ihn doch quer
rein.«
»Steck ihn rein und
wieder raus.«
Eddie wollte schon
sagen »im Mund deiner Mutter«, entschied sich aber lieber dagegen.
Stattdessen erklärte er: »Falls du es noch nicht bemerkt hast, so
langsam geht uns das Geld aus.«
»Darum kümmern wir
uns.« Ray Bob klopfte gegen die Benzinanzeige. »Und wenn wir schon
dabei sind, besorgen wir uns gleich ein bisschen preiswertes
Benzin.«
»Ich
nicht.«
»Entweder du bist
drinnen oder draußen, Kumpel. Dazwischen gibt’s
nichts.«
In diesem Moment
erschien Della auf der Veranda. Mit den Schuhen in der Hand
trippelte sie durch das Unkraut des Vorgartens und sprang hinter
dem Caddy über den Graben. Sie kletterte auf den Rücksitz. Eddie
sagte, sie könne auch vorne sitzen, doch sie meinte, es würde ihr
nichts ausmachen, und vorne sei es ihr sowieso zu voll. Jetzt
tauchten auch die Kinder auf und schauten ihr nach. Beide lutschten
an ihren Daumen. Della winkte und rief ihnen zu, sie sollten
hineingehen. Sie bewegten sich kein Stück. »Geht sofort rein!«,
brüllte sie. Ray Bob ließ den Wagen an und fuhr los.
In der Mitte des
Blocks drehte Eddie sich um und blickte zurück. Die beiden Kinder
standen immer noch auf der Veranda und starrten ihnen hinterher,
die Hände an den Mündern. Traurig blickende rotznasige Mannequins
für einen Werbespot des Sozialamts. »Du musst ihnen das
Daumenlutschen abgewöhnen.«
»Ich
weiß.«
»Es ruiniert ihre
Zähne«, sagte Eddie. »Mein Cousin Earl hat alle seine Zähne
verloren und konnte bloß noch Haferbrei essen. Er war ein dürrer
kleiner Bastard. Und nervös.«
»Sie tun’s ja auch
nur, wenn sie nervös sind«, entgegnete Della. »Das ist ja der
Grund, warum sie es tun.«
»Und weshalb sind
sie nervös?«
»Hast du in letzter
Zeit mal einen Blick auf die Welt geworfen, Eddie? Du müsstest dir
bloß mal die Nachrichten anschauen.«
Eine Weile dachte er
über ihre Antwort nach. »Bist du sicher, dass du nicht hier vorn
sitzen willst?«
»Nein, aber trotzdem
danke. Willst du hier hinten sitzen?«
Eddie kniff ein Auge
zu und zog eine Grimasse. »Nee, das würde irgendwie komisch
aussehen. Als ob wir’ne Limousine gemietet hätten oder so was. Wir
wollen doch keine Aufmerksamkeit erregen.«
»Das müsst ihr
wissen. Ihr seid die Experten.«
Della nahm eine
Bürste aus ihrer Tasche, zerrte das rote elastische Band vom Kopf,
bürstete ihre Dauerwellen nach hinten und machte das Band wieder
fest. »Der Wind bringt meine Frisur ganz durcheinander.« Sie kämmte
die Fransen in ihrer Stirn nach vorn. »Ich werde meine Kinder
vermissen.«
»Klar«, sagte Eddie.
»Die sind echt süß. Trägt deine Mama eigentlich’ne
Perücke?«
Della kicherte. »Ich
werd ihr nicht sagen, dass du danach gefragt hast.«
»Dann lass es
bleiben.«
»Sicher lass ich es
bleiben. Sie ist ziemlich empfindlich, wenn es um ihre Haare geht.
Ich hab’s selbst gemacht. Professionelle Arbeit.«
Della verstummte.
Dann bemerkte sie, dass Ray Bob sie im Rückspiegel musterte. Er
wirkte argwöhnisch. Sie rutschte ein Stück zur Seite, aus seinem
Blickfeld heraus. »Ich hab euch noch gar nicht erzählt, dass ich
auf der Kosmetikschule war. Natürlich nur, um was in der Hinterhand
zu haben. Als Absicherung. Falls aus meiner Modelkarriere nichts
geworden wäre.«
»Das war’ne clevere
Idee«, erklärte Eddie. Er beugte sich vor, schnappte sich eine
Fünf-Dollar-Rolle Zehner aus seinem Plastikbeutel und reichte sie
Ray Bob. »Umso besser, dass es geklappt hat.«
»Was willst du damit
sagen?«
»Nichts.«
»Sicher?«
»Hab ich doch
gesagt.«
»Es klang, als ob du
etwas andeuten wolltest.«
»Ich kann nichts
dafür, wie es klang.«
»Ich kann nämlich
Gedanken lesen.«
»Gut, dann mal
los.«
»Ich bin mir nicht
sicher, ob du es wirklich wissen willst.«
»Wenn ihr verdammt
noch mal eine beschissene Sekunde lang die Fresse halten würdet«,
fuhr ihnen Ray Bob ins Wort, »dann könnte mir verdammt noch mal
jemand sagen, wie ich aus diesem Scheißviertel hier
rauskomme.«
»Herrgott«, sagte
Della. »Du weißt wahrhaftig, wie man sich ausdrückt. Fahr hier
weiter, dann links, dann ein Stück weiter noch mal links auf den
Highway. Die Alvin Sugar Land Road.«
»Gut. Gibt’s da auch
irgendwo’ne verdammte Tankstelle?«
»Klar.«
Sie nahm einen roten
Lippenstift heraus und formte den Mund zu einem großen
O.
»Jede
Menge.«