58
 
In der verqualmten Bar des Stingaree herrschte reges Treiben, ja, Rufus war ganz in seinem Element. Seine Gibson hatte einen vollen, perfekten Klang, während er mit der linken Hand den Bund rauf- und runterjagte und die Finger seiner rechten über die Saiten flitzen ließ. Dazu das heisere Kieksen in seiner Stimme. Das hatte er nur an bestimmten Abenden. So wie heute. Rufus ließ es mächtig krachen.
Nachdem er Robert Johnsons »Hellhound on My Trail« beendet hatte, wischte er sich mit einem Barhandtuch das Gesicht ab und rückte seine Roy-Orbison-Sonnenbrille zurecht. Er genoss den Applaus und die Zurufe, nickte zum Dank und gab, ganz seiner Rolle entsprechend, ein abgeklärtes, müdes Knurren von sich, das vor allem an den Tisch vorne bei den Fenstern gerichtet war.
Dort hockten drei sportlich-adrett gekleidete Frauen; sie nippten an ihrem kalten Bier und versuchten einen coolen Eindruck zu erwecken. Alle drei hatten kurzes, glänzendes Haar, manikürte Fingernägel und eine weiche Haut. Sie hockten kerzengerade auf ihren Stühlen, als hätten sie eine Stahlstange im Arsch. Geschieden, vermutete er, und entschlossen, denselben Fehler kein zweites Mal zu begehen, zumindest nicht bevor sie fünfundvierzig wurden und es mit der Torschlusspanik bekamen. In der Zwischenzeit probierten sie das eine oder andere aus. Sie hatten ihm schon den ganzen Abend über schöne Augen gemacht. Seine Frauenliga-Groupies.
Er nahm einen Schluck von seinem Bier und steckte sich eine Zigarette an, dann beugte er sich zum Mikrofon vor und blickte in ihre Richtung. »Tja, Baby, ich hab gerade mit meinen Kumpel Ray unten in Nuevo Lardo gesprochen, er hat da unten eine Bar mit Bordell eröffnet.«
Er sprach mit gedämpfter Stimme, in einem entspannten, vertraulichen Tonfall. Er legte eine Pause ein und schaute die Frauen direkt an; sie lächelten und nickten ihm zu, dann fuhr er fort.
»Na ja, der gute alte Ray meinte, das Bordell im ersten Stock wirft einen hübschen Gewinn ab, fünf Riesen im Monat, aber die Bar musste er dichtmachen. Oben wurde einfach zu viel gevögelt.«
Er schlug einmal kräftig auf die Saiten, und ein schepperndes Geräusch, wie von einem Hi-Hat in einem Varieté, ertönte, während er die drei Frauen musterte. Mit glasigen Augen griff jede der drei nach ihrem Bier, den Mund ein wenig verkrampft, aber immer noch ein Lächeln im Gesicht. Sie genossen ihre kleine Eskapade. Und er schenkte ihnen sein müdes Rufus-Grinsen.
Das Nächste, was Eddie mitkriegte, war, dass Bubba Bear plötzlich neben ihm stand., »Schalt mal’nen Gang runter, Kumpel, das hier ist ein Familienlokal.«
»Kein Problem«, sagte Eddie, »ich wollte sowieso kurz unterbrechen.« Er stellte seine Gibson in die Ecke und schlenderte rüber zur Bar, wo er im Spiegel sein Haar betrachtete und sich an seinem neuen Aussehen erfreute, bevor er es an den Seiten glatt strich. Schließlich drehte er sich um und lehnte sich mit den Ellbogen gegen die Bar; er stand neben Bubba Bear, der einen Teller gegrillter Krabben aß und ein Malzbier trank. Der riesige Bursche schüttete etwas davon in ein Glas und reichte es Eddie, der es einen Moment anstarrte und sich dann bedankte.
»De nada.«
»Wie war ich?«
Bubba Bear schüttelte den Kopf und fuhr sich über seinen Trapperbart. »Saugut, Rufus, abgesehen von dem letzten Witz, wirklich verdammt gut. Erinnert mich an die coolen Jungs von früher, wie Wolf und Lighnin’, Sonny Terry, an die Ursprünge. Du hast dieses je ne sais quoi. Diese rohe, ungehobelte Energie. Weißer Blues mit einem Rockabilly-Einschlag, eine Art Psychobilly Blues Noir, weißt du?«
»Und ob«, sagte Eddie. »Was heißt noir
»Schwarz. Ist französisch.«
Er nahm einen Schluck von seinem Malzbier. »Hatte ganz vergessen, dass du ein Cajun bist.«
Bubba Bear lutschte an einer Krabbenschere, wischte sich an einer Serviette die Hände ab und grinste. »Mit beglaubigtem Stammbaum. Mein Großvater stammt aus Vermilion Parish, er hatte dort eine Piroge. Und mein alter Herr hat oben am Golf in Port Arthur in einer Raffinerie gearbeitet. Die Stadt ist inzwischen ein einziges Dreckloch. Völlig abgefahren, die Bevölkerungsentwicklung da oben, es gibt da kaum noch Weiße. Die Ölfirmen haben alles aus der Stadt rausgeholt und sich dann aus dem Staub gemacht. Überall hängen jetzt Crackheads und Gangsta Rapper rum, die Blues nicht von Liberace unterscheiden können. Keine Tradition, keine Zukunft. Hier, die Krebse, greif zu.«
»Nein, danke.« Eddie zündete sich eine Zigarette an und hörte, wie draußen auf dem Intracoastal ein Lastkahn vorbeistampfte. Durch das Fenster konnte er auf der anderen Seite der Bucht jetzt ein paar Lichter erkennen. Die letzten Regenwolken waren inzwischen landeinwärts gezogen.
»Hör mal«, sagte er, »weißt du eigentlich, was Ledoux bedeutet? Auf Cajun-Französisch, mein ich?«
Bubba Bear hielt inne, in den Händen einen Krebs, dessen hellblauer, ovaler Panzer voller Soße klebte. Er zuckte mit den Schultern. »Soweit ich weiß, ist das ein Name. Könnte ›zwei‹ bedeuten, oder ›süß‹. Aber ich bin kein Linguist. Ich weiß nur eins: Wenn du auf die Welt kommst, verpassen sie dir einen Namen und sagen, ›Auf geht’s, Junge, jetzt liegt’s an dir, viel Glück, bleib sauber und halt die Augen auf, wenn du über die Straße gehst. Und lass die Finger von den Drogen.‹«
Der massige Mann nahm einen großen Schluck Malzbier und gab einen Rülpser von sich, während er einen Träger seiner Latzhose zurechtzog. »Tja, auf jeden Fall kann ich dir sagen, was Bubba Bear bedeutet, denn den Namen hab ich mir selbst verpasst. Irgendwann erzähl ich dir, wie’s dazu kam. Damals in Haight-Ashbury, auf einem LSD-Trip während eines Santana-Konzerts im Golden Gate Park. Da gibt’s nämlich eine Geschichte dazu. Wie zu Rufus Slim. Ich wette, mit dem Namen hat es ebenfalls etwas auf sich, hab ich recht?«
»Absolut«, sagte Eddie und nickte zaghaft. Er fummelte an seinem Ohrring herum. Mann, er hatte keine Ahnung, der Name war ihm spontan eingefallen.
»Genau, das will ich damit sagen. Ein Name hat immer eine Bedeutung, wenn man die Einzelheiten kennt. Aber wofür steht Ledoux? Oder Guidroz? Sie bedeuten absolut gar nichts, denn das sind amerikanisierte Namen. In Pulp Fiction gibt’s einen Dialog darüber, zwischen dem Boxer, der von Bruce Willis gespielt wird, und der Taxifahrerin. Klasse Streifen, mal gesehen?«
Eddie schüttelte den Kopf und meinte, er kenne nicht viele Filme. Eine Unterhaltung mit Bubba Bear war wie ein Gespräch mit seinem Cousin Wade auf Speed, nur noch merkwürdiger. Er war mit seinen Gedanken überall gleichzeitig und stellte seltsame Verbindungen und Querverweise her, wie ein bekifftes Jazz-Riff.
»Vergiss nicht, du bist ein Mann der Tradition«, sagte Bubba Bear, »du bist nicht modern, postmodern oder Avant Pop, vergiss das ganze Klugscheißer-Geschwätz. Die Welt ist so theoretisch geworden, so austauschbar und abstrakt. Das Image ist wichtiger als der Inhalt. Die Leute interessieren sich nicht mehr fürs Wahrhaftige – nicht dass ihnen so was oft über den Weg läuft. Sie haben keinen Zugang zur Natur mehr. Doch du bist anders. Hab ich recht oder nicht?«
Er schätzte schon, meinte Eddie, auf die eine oder andere Weise.
Bubba Bear lachte. »Du bist ein aufgeweckter Bursche, Rufus, du hast diese angeborene natürliche Intelligenz. Weil du mit beiden Beinen auf dem Boden stehst. Den Mississippimatsch zwischen deinen Zehen, dazu dein Bauchgefühl. Du schaust nicht bloß zu, du erschaffst etwas. Ein stattlich Lustschloss meiner Seel’ ich baute, auf immer drin zu wohnen, unbeschwert. Stammt von Tennyson. Ich feiere mich selbst und singe mich selbst. Whitman, ebenfalls ein Mann der Tradition. Was ich damit sagen will, Kumpel, du bist viel zu sehr damit beschäftigt, ein Universum hervorzubringen, als irgendwelchem belanglosen Mist Beachtung zu schenken. Denn du bist ein bodenständiger Typ. Andernfalls lebst du ein Leben aus zweiter Hand, dröhnst dich mit Fernsehen und Popmusik zu, liest das People-Magazin, und deine Seele schrumpft auf die Größe meines linken Eis. Hast du eine Ahnung, wie sich das anfühlt?«
Eddie gab zu, dass er sich nicht sicher sei, jedoch eine ungefähre Vorstellung habe.
»Genau«, schwadronierte Bubba Bear weiter, »ein Konsument. Ein Wirtschaftsfaktor. Jemand, der nur dem Geld verpflichtet ist. Jemand, der innerhalb der Grenzen seiner Verbindlichkeiten lebt, im politischen Dauerexil. Bei dem es nur noch um eins geht: Geld verdienen und wieder ausgeben, Schulden begleichen – ein Leben auf Pump. Jemand, der alles schluckt, was man ihm hinwirft. Mmh, lecker. Müll ist das einzige, was so jemand produziert.«
Bubba Bear fuchtelte mit der Hand. »Weißt du, Rufus, du könntest so ein Jemand sein. Aber das bist du nicht. Du hast das alles verschmäht. Du bist ein Bluesman. Ein Künstler.«
Eddie kratzte sich verwundert am Kinn und lachte verlegen. Das meiste war an ihm vorbeigerauscht, bis auf diese letzte Bemerkung, die Sache mit dem Künstler. Mannomann. Bisher hatte ihn niemand als Künstler bezeichnet, zumindest keine andere Person, niemand, der sich auskannte. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken.
»Ich, ich bin kein Künstler«, sagte Bubba Bear, »ich weiß, wo meine Grenzen liegen. Was ich hier im Stingaree treibe? Ich sorge für das leibliche Wohl der Menschen, man kann hier in netter Atmosphäre bei einem Bier die Seele baumeln lassen, und fürs Herz gibt’s die Musik. Ich habe auch keine Antworten parat, Rufus. Ich mache den Leuten das Leben nur ein bisschen angenehmer. Ich schätze, ich bin so eine Art Vermittler, weißt du?«
Eddie nickte und nippte an seinem Malzbier. »Das Leben eines Künstlers unterscheidet sich eigentlich nicht von dem eines Verbrechers.« Er starrte auf den Grund seines Glases. Hey, wo kam das denn jetzt her?
Bubba Bear lachte herzlich, brach erneut die Schere eines Krebses ab und stimmte ihm zu. Wenn man sich ernsthaft der Kunst widme, sei das dem Leben eines Verbrechers nicht unähnlich, oder dem eines Mönchs auf der Suche nach göttlichen Visionen. All das mache einen zum Außenseiter, konfrontiere einen mit der eigenen Schwäche und Verkommenheit. Sodass man gezwungen sei, sich dem Bedürfnis nach Erlösung zu stellen.
Eddie lauschte seinen Worten und lächelte jetzt; er begriff zwar nicht alles, aber doch das, worauf es ankam. Die Wahrheit in der Abfolge von Bubba Bears Worten, die ihm jedes für sich genommen zu hoch waren, war so real wie der Duft eines Jasminstrauchs bei Neumond, dessen Blüten im Verborgenen lagen. Es war schon komisch, wie alles auf eine Weise zusammenhing, die ihm bisher nicht bewusst gewesen war, Verbrechen, Erlösung und Kunst. Dennoch würde er Della wohl nichts davon erzählen, zumindest nicht von der Verwandtschaft zwischen Künstler und Verbrecher. Ray Bob hingegen würde das vielleicht verstehen. Er war sich nicht sicher, warum, aber er hatte so ein Gefühl.
»Du solltest mal was von Jean Genet lesen«, sagte Bubba Bear, »diesem Typen aus Frankreich, ein Profidieb, hat ein paar gute Bücher geschrieben hat. Er war allerdings schwul und ist deswegen hier in den Staaten nicht besonders erfolgreich, denn Homophobie ist hier so de rigueur wie ein Tannenbaum an Weihnachten.«
Eddie erwiderte nichts, er hörte nicht einmal zu. Ihm war ein wenig schwindlig, als wäre gerade etwas Außergewöhnliches geschehen, als hätten sich in seinem Innern ein paar Gewichte verschoben, ein Prozess, der bereits seit einiger Zeit im Gange war, ohne dass er es gemerkt hatte, und der jetzt, mit seiner völlig neuen Identität, endgültig abgeschlossen war. Etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte und worauf er sich auch rückblickend keinen Reim machen oder es in Worte fassen konnte. Aber es war passiert. Als wäre er ein anderer Mensch. Mannomannomann. Das und dazu die Sache mit Della und den Kindern, seine neue Rolle als Vater – die Welt und sein Platz darin hatten sich völlig verändert. Das war wirklich ein kräftiger Tritt in den Arsch.
Er lächelte erneut in sich hinein und kriegte kaum mit, dass die drei Frauen von vorne mit ihren Handtaschen an ihm vorbeigingen und meinten, dass ihnen die Musik sehr gefallen hatte; er starrte ihnen nicht einmal auf den Hintern, während sie durch die Tür verschwanden. Er war völlig benommen.
Vielleicht hatte man ihm armen Würstchen inzwischen tatsächlich vergeben. Vielleicht hatte er den Heiligen Geist gesehen, ohne es mitzukriegen, genau wie seine Mutter.
Dann hörte er, wie Bubba Bears Stimme sagte: »Vielleicht solltest du dir die Gitarre wieder umschnallen, die Leute werden etwas unruhig. Wie gefällt dir das Stingaree bis jetzt? Hier ist ganz schön was los, die Leute mögen deine Musik. Bleibst du länger hier?«
Eddie nickte. »Schätze, schon.«
»Freut mich zu hören, Kumpel. Dann fahren wir mal mit meinem Boot angeln.«
»Solange es windstill ist«, sagte Eddie. »Ich werd nämlich schon in der Badewanne seekrank.«
Robbers: Thriller
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