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Ton und Licht
Giseh
Die Morgendämmerung war noch einige Stunden entfernt, als sie das Plateau erreichten. Hier am Stadtrand war der Himmel schwärzer, funkelten die Sterne heller. Morgen Nacht, dachte Jack, hängt vor den Galaxien ein Leichentuch aus Rauch und Asche. Rauch und Asche von mehr als tausend menschlichen Wesen, die Überreste von Prinzen und Präsidenten vermischt mit denen von Kairos Armen und Verstoßenen.
Selim begleitete sie durch die Sicherheitszone, die das ganze Plateau umfasste. Er schickte nach seinem Stellvertreter, und der Stellvertreter schickte nach seinen Vertretern. Der Verantwortliche der amerikanischen Sicherheitsfirma, der an diesem Morgen Dienst hatte, wurde aus dem Hauptkontrollraum geholt, und man weckte seinen Chef in seinem Zimmer im Mena House Hotel. Man versammelte sich zusammen mit Jack und den anderen in einer provisorischen Hütte, vor einem Jahr als Unterkunft für ein Team von Archäologen errichtet, die in der Nekropolis im Westen der großen Pyramide Ausgrabungen durchgeführt hatten.
Der Sicherheitschef stellte Jack als »den Professor« vor, und die Frauen als seine Assistentinnen. Im Weiteren erklärte er, wonach es zu suchen galt, wobei er das Wort »nuklear« sorgsam vermied. Ihm war klar, wenn durchsickerte, dass sich auf dem Gelände eine Atombombe befinden könnte, brach allgemeine Panik aus, und jeder Wächter auf dem Plateau saß in einem Auto und brachte sich so schnell aus der Gefahrenzone wie nur möglich.
»Haltet Ausschau nach etwas in einer Tasche oder Ähnlichem. Einem Gegenstand, der groß genug ist, dass er zwischen dreißig und sechzig Kilo wiegen könnte. Meldung jede halbe Stunde. Durchkämmt das Gelände, aber niemand darf merken, dass es sich um etwas anderes handelt als einen abschließenden Sicherheitscheck, und kein Wort zu irgendeinem von den Leibwächtern des Präsidenten oder unserer Gäste.«
Von allen Seiten hagelte es Fragen, doch er stand einfach auf und sagte, Einzelheiten gäbe es später. Momentan war es wichtiger, die Tasche mit Sprengstoff zu finden. Finden, aber nicht berühren, unter keinen Umständen: das Bombenentschärfungskommando befasst sich damit. Nachdem die Untergebenen gegangen waren, telefonierte er mit dem BEK in den Militärbaracken in der Zitadelle.
Eine Amerikanerin, Angestellte der Sicherheitsfirma, übernahm es, Dschamila, Samiha und Georgina einer gründlichen Durchsuchung zu unterziehen. Sie führte sie in ihr Dienstzimmer, wo sie sich bis auf die nackte Haut ausziehen mussten. Georgina erlaubte sich einen Scherz, um der Prozedur die Peinlichkeit zu nehmen, erntete aber nur ein Stirnrunzeln und eine barsche Zurechtweisung. Jack wurde von einem von Selims Männern kontrolliert.
Als sie herauskamen, wartete Selim auf sie.
»Eins bereitet mir Kopfzerbrechen«, sagte er. »Wann soll al-Masri die Bombe hergebracht haben? Dieses Areal ist seit Wochen hermetisch abgeriegelt und wird streng bewacht. Die Pyramiden sind für Besucher geschlossen. Hätten wir eine Vorstellung davon, wann die Bombe hier abgelegt wurde, gäbe uns das vielleicht einen Hinweis darauf, wo wir suchen müssen.«
Er ließ die Flutlichtanlage einschalten, die für Ton-und-Licht-Shows benutzt wurde. Der Sphinx und die drei Hauptpyramiden wurden von den Scheinwerfern in gleißende Helligkeit getaucht, umso schwärzer wirkte dagegen die Dunkelheit über dem Rest des Plateaus. Taschenlampen wurden ausgeteilt, aber es gab nicht genug für alle. Die Suchaktion nahm ihren Anfang; das Hauptaugenmerk richtete sich auf den Sektor, wo die Ehrengäste während der Feier sitzen würden.
Die Sicherheitsleute schwärmten aus. Dies war die Aufgabe, vor der sich alle gefürchtet hatten. In Giseh nach einer einzelnen Bombe zu suchen war das Äquivalent zu der sprichwörtlichen Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.
Jack und die drei Frauen teilten sich auf. Dschamila ging mit Georgina, und ohne dass Jack gefragt hätte, fand er Samiha an seiner Seite. Er kannte sich auf dem Plateau aus, weil er oft Freunden aus der Heimat, die ihn besuchten, die berühmten Sehenswürdigkeiten gezeigt hatte, und auch mit neuen Universitätsmitarbeitern oder Studenten war er oft hier oben gewesen. So konnte er Samiha helfen, sich zu orientieren.
»Das ist gewaltig«, meinte sie. »Unsere Chancen, die Bombe zu finden, sind minimal.«
»Dies hier ist einer der ältesten Friedhöfe der Welt«, bemerkte er sinnend. »Vielleicht ist es passend, dass er so endet. Passend und sehr traurig. Aber du hast recht – eine gründliche Suche würde Wochen dauern, und man brauchte mehrere Tausend Leute. Grabmäler, Mastabas, Tempel, die drei großen Pyramiden und sieben kleinere. Überall Höhlen, unterirdische Kammern, versteckte Räume in den Pyramiden. Doch uns bleibt nichts anderes übrig, als zu suchen. Und zu hoffen.«
Samiha hatte vor langer Zeit schon den Glauben an Gott verloren, war seit Jahren eine Abtrünnige, sowohl im Herzen als auch dem Verstand nach. Ihre Kultur duldete keine Abweichung vom graden Weg, ermutigte keinen kritischen oder neuen Gedanken, bestrafte jedes Aufkeimen von Unglauben. Äußerlich war sie eine gute Muslima geblieben, denn sie hatte keine andere Wahl. Innerlich suchte sie nach etwas anderem.
Unbewusst tat sie das Schockierendste, was eine muslimische Frau in ihrer Situation tun konnte – sie streckte die Hand aus und legte sie auf die seine. Dort, wo sie herkam, konnte eine Frau für eine solche Geste gegenüber einem Fremden getötet werden. Er lächelte und schwieg.
»Ich habe Angst«, bekannte sie.
»Angst vor dem Tod?«
»Nein.« Er konnte ihr Gesicht nicht sehen. »Angst, hier allein zu sterben. Dieser Ort erscheint mir unwirklich, fremd. Man hat mich aus meinem Leben herausgerissen, und diese ganzen letzten Monate habe ich mich wie tot gefühlt. Vielleicht bin ich tot, vielleicht ist dies ein Alptraum, in dem ich für den Rest der Ewigkeit leiden muss.«
»Ich bleibe bei dir«, sagte er. Jetzt, in der Dunkelheit, schien ihre Hand das Einzige zu sein, was ihn an die Erde band.
Sie erforschten bei ihrer Suche jeden Riss, jeden Spalt, die Rückseite jeder Mauer. Jack leuchtete mit der Taschenlampe in jeden dunklen Winkel. Nichts. Vielleicht hatte man die Bombe in eine tiefe Höhlung gelegt und Steine davor gehäuft, vielleicht waren sie bereits an dem Versteck vorbei, ohne es gemerkt zu haben. Er war müde, und er spürte Samihas Erschöpfung, als sie nebeneinander hergingen, Hand in Hand. Er dachte an Emilia und Naomi, vor allem an Naomi, die jetzt in Alexandria war, dachte daran, dass sie von nun an allein sein würde für den Rest ihres Lebens. Die Leute würden sich immer daran erinnern, dass ihr Vater ein Massenmörder gewesen war, dass er seine Frau und seine Eltern umgebracht hatte.
Der Morgen stieg aus dem Wüstensand, färbte ihn blutrot, dann golden, als hätte man flüssiges Metall darüber ausgegossen. Es war 7.00 Uhr. Jack schaute Samiha an. Wenn die Galgenfrist abgelaufen und die Bombe nicht gefunden war, wenn man nichts anderes mehr tun konnte, als dastehen und auf die Explosion warten, das Ende aller Dinge, wollte er sie in die Arme nehmen und festhalten. Mehr war ihm nicht geblieben.
Während ihrer Suche unterhielten sie sich. Sie erzählte ihm ihre Geschichte, über die dürren Fakten hinaus, die er bereits kannte, und er erwiderte ihr Vertrauen. Stockend berichtete er von dem Tag, an dem er Emilia mit durchschnittener Kehle gefunden hatte. Nicht jedes Detail, nicht jede Nuance seiner Gefühlsregungen schilderte er, aber genug, mehr als genug. Sie lauschte, jedes seiner Worte traf sie ins Herz. Sie wollte, dass er glücklich war, wollte die Leere in seinem Herzen mit dem füllen, was ihr an Gefühl und Verständnis noch geblieben war. Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihnen. Der Tod würde ihnen den Schmerz nehmen, doch gab er nichts dafür. Sie glaubte seit langem nicht mehr an ein Paradies. Dieser fremde Mann war alles, was sie hatte, für das bisschen Zeit, das ihnen noch blieb, bevor die Dunkelheit über sie kam.
Er schaute sie an, spürte ihre Hand in seiner, eine kleine Hand leicht wie Staub, und kam sich immer noch vor wie in einem Traum. Die bedrückenden Erinnerungen begannen zu verblassen.
Neben dem Grab der Königin Chentkaus, auf der anderen Seite des Aufwegs zur Pyramide des Chephren, trafen sie auf Dschamila und Georgina. Auch ihre Suche war ergebnislos geblieben. Bis jetzt hatte es noch aus keiner Richtung die Meldung gegeben, dass etwas Verdächtiges gefunden worden wäre.
Jack und Samiha machten sich wieder auf den Weg. Er fragte sich, ob Selim daran gedacht hatte, Metalldetektoren einzusetzen, andererseits – woher so viele Geräte so schnell beschaffen? Nach seiner Vermutung war der Zeitzünder der Bombe so eingestellt, dass sie hochging, sobald alle ihre Plätze eingenommen hatten und die Feierlichkeiten begannen. Die Zeit verflog rasend schnell. Anfangs hatte er alle fünf Minuten auf die Uhr geschaut. Jetzt zwang er sich, damit aufzuhören. Als er das nächste Mal nachschaute, war es 8.30 Uhr. Drüben im offiziellen Bereich wurden Stühle zurechtgerückt und Teppiche über den unebenen Boden gelegt. Die ersten Gäste trafen ein. Fernsehteams machten ihre Geräte einsatzbereit; Moderatoren prüften den Sitz ihrer Frisur.
Die Flutlichtanlage hatte man abgeschaltet, Sonnenschein lag auf dem einzigen noch erhaltenen der sieben Wunder der antiken Welt. Er betrachtete die Große Pyramide in ihrer ehrfurchtgebietenden Majestät. Im selben Moment hatte er eine Idee.
Die Chancen standen gut, dass die Vorbereitungen für den Festakt länger dauern würden als bis 9.00 Uhr. Staatsoberhäupter ließen sich nicht gern drängen. Die wichtigsten Honoratioren – der ägyptische Präsident, seine Amtskollegen aus den Vereinigten Staaten, dem United Kingdom und Frankreich, der König von Saudi-Arabien – würden als Letzte ihre Plätze einnehmen, und bis dahin war es nach Jacks Schätzung halb zehn, vielleicht später.
Er fand Selim im Kontrollraum, wo er Anordnungen und Befehle brüllte.
»Selim, einen Moment. Ich muss Sie etwas fragen.«
»Nur zu. Führt aber zu nichts. Ihre Bombe kann jeden Augenblick hochgehen. Falls es eine Bombe gibt.«
»Sie haben gesagt, das Plateau wäre seit Wochen für die Öffentlichkeit gesperrt gewesen. War davor irgendjemand hier, von Touristen abgesehen? Archäologen zum Beispiel?«
Selim überlegte, fuhr einen Assistenten an und überlegte wieder.
»Hier sind immer Archäologen«, meinte er. »Sie kommen aus aller Herren Länder. Eine Gruppe hat da drüben in der westlichen Nekropole gegraben. Amerikaner, glaube ich. Dann war ein japanisches Team bei einer der Mastabas draußen vor der Großen Pyramide. Ach ja, und wir hatten eine kleine Gruppe von einer deutschen Universität hier. Sie haben mit Erkundungsrobotern im Innern der drei großen Pyramiden gearbeitet.«
»Von welcher Universität?«, fragte Jack.
»Da haben Sie mich auf dem falschen Fuß erwischt.« Selim runzelte die Stirn. »Tut mir leid, ich habe zu tun. Falls Ihre Bombe nicht explodiert, muss ich für den ungestörten Ablauf der Feierlichkeiten sorgen.«
Selim wandte sich zum Gehen. Vielleicht war es doch nur vergeudete Zeit?, dachte Jack. Kurz bevor Selim die Tür erreichte, drehte er sich noch einmal um.
»Jetzt fällt es mir ein. Sie mussten mir den Namen buchstabieren. Die Universität von Wildeshausen. Je davon gehört?«
»O ja. Oft.« Jack stürmte an Selim vorbei nach draußen.
Es gab keine Universität in Wildeshausen. Aber ein Flugfeld.
Das Telefon im Kontrollraum war ständig belagert gewesen. Jack zog sein Handy aus der Tasche und fand die Nummer, unter der Schwester Clare zu erreichen sein sollte. Er rief an und betete, dass sie ihr Handy eingeschaltet hatte. Es klingelte mehrmals. Samiha stand neben ihm und musterte ihn gespannt.
Die Nonne meldete sich. Jack fragte, ob er Naomi sprechen könne.
»Nun ja, die Kleine ist ein wenig erschöpft von der Bahnfahrt und dem Fieber und allem. Ich habe ihr gesagt, sie soll sich ausschlafen.«
»Geben Sie ihr das Telefon«, sagte Jack. »Ich muss sie sprechen. Dringend.«
Naomi wurde geweckt und meldete sich verschlafen.
»Schatz« – Jack atmete tief ein –, »ich habe leider keine Zeit, lange mit dir zu reden. Ich muss dich etwas fragen. Im Krankenhaus hast du einiges erzählt, was ich nicht ganz verstanden habe. Du hast etwas über den Mann gesagt, den Mann, der dir den Finger abgeschnitten hat. Du hast gesagt, er hätte dir erzählt, dass er etwas an den heiligen Ort gebracht hat.«
Naomi, von Jacks drängendem Tonfall verunsichert, hatte Mühe, sich zu besinnen.
»Schatz«, wiederholte er, »es ist sehr wichtig, dass du dich erinnerst.«
»Ich weiß wieder«, sagte sie. »Er hat gesagt, er hat etwas in das haram gebracht.«
»Denk noch einmal ganz genau nach. Ihr habt Englisch gesprochen. Auf Arabisch, was hätte er da gesagt?«
Sie wiederholte den Satz, diesmal auf Arabisch, und er wusste, seine Eingebung war richtig gewesen.
Im Arabischen gibt es das Wort haram zweimal. Das erste, mit einem stark aspirierten »h« bedeutet Heiligtum, und Jack hatte angenommen, al-Masri meinte vielleicht Mekka, dass er das Schwert in Mekka hinterlegt hatte, einem der zwei heiligen Orte des Islam. Das andere haram aber, mit einem normalen »h« gesprochen, hat eine andere Bedeutung. Es heißt »Pyramide«.
»Hat er gesagt, in welche der Pyramiden?«, fragte er.
»In welche? Ja, Paps. In die große. Die haram kabir.«
Die Große Pyramide.
»Du hast mir sehr geholfen, Kleines. Ich rufe wieder an, und wenn alles gut geht, sehen wir uns bald. Denk immer daran, dass ich dich sehr lieb habe. Ganz egal, was passiert.«
Er drückte die Aus-Taste.
»Samiha, wenn Selim fragt, ich bin zur Großen Pyramide gegangen.«
Sie nickte.
»Ist die da drin? Die Bombe?«
»Ja. Bleib hier. Bete zu allen Göttern, dass ich noch rechtzeitig komme.«
»Wirst du sie entschärfen können?«
»Ich will’s versuchen. Falls Selim einen von den Bombenexperten auftreiben kann, soll er ihn hinter mir herschicken.«
Er zögerte, dann schloss er sie in die Arme und küsste sie auf die Stirn.
»Wenn du das getan hast, warte hier auf mich.«
Er setzte sich in Trab. Das Leben aller im weiten Umkreis hing davon ab, wie schnell er die Bombe finden konnte und ob es ihm gelang, sie zu entschärfen.
Samiha schaute ihm nach und war sich sicher, sie würde ihn nie wiedersehen. Nun musste sie doch allein sterben. Sie machte sich auf den Weg ins Kontrollzentrum, aller Hoffnung beraubt.