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Im Garten des Lichts
Straße zwischen Gardes und Sarghun Schahr
10 Meilen südlich von Sareh Scharan
Ost-Afghanistan
Montag, 27. November
Hoch oben in den Bergen, wo Fischadler am Himmel mit Amurfalken tanzten und Weißschwanzadler im Sturzflug auf Beute niederstießen, die selten genug war in dieser kargen, unwirtlichen Landschaft, beobachtete ein Mann durch ein starkes Fernglas die Vorgänge unten im Tal. Das Doppelfernrohr saß auf einem kleinen Stativ. Es erlaubte die Vergrößerung von Objekten um das 150-fache und versetzte den heimlichen Beobachter in die Lage, aus seinem Felsenhorst die Ereignisse so genau zu verfolgen, als wäre er dabei.
Tags zuvor hatte man einen langen Holzpfahl, ungefähr fünfzehn Zentimeter im Durchmesser und etwas mehr als mannshoch, in dem ausgetrockneten Flussbett aufgepflanzt. An diesem Morgen war ein Jeep gekommen, besetzt mit sieben Taliban-Soldaten. Sie zerrten einen einzelnen Mann heraus, ohne jeden Zweifel ihr Gefangener. Allem Anschein nach hatte man ihn brutal misshandelt. Sein Körper – was der Beobachter davon sehen konnte – war übersät von Platzwunden und Blutergüssen, und jeder Schritt schien ihm Schmerzen zu bereiten, als hätte man ihn mit Stöcken auf die Fußsohlen geschlagen oder seine Beine mit Peitschenhieben traktiert.
Sie stellten den Gefangenen an den Pfahl, zogen seine Arme nach hinten und fesselten ihm die Hände. Obgleich es ihm unmöglich gelingen konnte, sich zu befreien, musste einer der Taliban als bewaffneter Wächter zurückbleiben. Die anderen fuhren in dem Jeep davon, eine ockerfarbene Staubfahne hinter sich herziehend, die mit ihnen in der Ferne verschwand. Nachdem das Röhren des zu hoch drehenden Motors verstummt war, senkte sich eine vollkommene Stille über das Tal.
Der Beobachter überprüfte den Sitz eines winzigen Funkempfängers in seinem Ohr. In Verbindung mit einem hochempfindlichen Parabolmikrophon, bereits in der vergangenen Nacht an verborgener Stelle im Tal platziert und auf den Pfahl ausgerichtet, ermöglichte er ihm, über eine Entfernung von bis zu einem halben Kilometer eine in normaler Lautstärke geführte Unterhaltung zu belauschen. Den ganzen Vormittag hatte Stille geherrscht. Jetzt hörte man Musik aus dem Radio des Wächters.
Gar nicht weit entfernt, trugen die Berggipfel weiße Kappen aus Schnee. Eine bittere Kälte lag über allem. Die Luft war wie Eis.
Ein paar Meter abseits der Straße hörte der Gefangene dieselbe Musik. Irgendwo hinter ihm tönte ein Lied auf Dari krächzend aus einem kleinen Kofferradio. Es hatte Tempo und einen eingängigen Beat, ein Party-Schlager: Az jad-e rochat mastam ... »Ich bin berauscht von der Erinnerung an dein Gesicht«. Er bemühte sich, den Text zu verstehen, wie um diesen letzten Minuten seines Lebens einen Sinn abzuringen. Der Sender war Radio Free Afghanistan. Regionale Stationen wagten nicht mehr, Musik zu spielen, nicht einmal die Hits von Pop-Idol Farhad Darja. Das Land geriet langsam, aber sicher wieder unter den Einfluss der Taliban, und Musik war wie früher verboten. Aber, dachte der Gefangene, Ausnahmen bestätigen die Regel: Er befand sich in der Gewalt der Taliban, und sein Wächter dudelte die neusten Hits.
Er seufzte und versuchte sich einen Eindruck von der Gegend zu verschaffen, in die man ihn gebracht hatte. Wacholder, Tamarisken und wilde Pistazienbäume an den mit Strauchwerk bewachsenen Hängen, aber hier in der Talsohle nichts als Steine. Als sie vor ein paar Stunden angekommen waren, er und seine Peiniger, ging eben die Sonne über Indien und Pakistan auf und erklomm das Toba-Kakar-Gebirge, auf das er schaute. Im Norden bekrönte der Hindukusch die Welt; die schneebedeckten Gipfel Symbole des Unmöglichen.
Gleich hinter der Grenze zu Pakistan, und geprägt von dem Hauptmassiv des Toba-Kakar, erstreckten sich die Stammesgebiete Wasiristans, eine wilde, archaische Region, wo Muslim-Missionare der heidnischen Bevölkerung den einzig wahren Glauben predigten. Dort oben in den Bergen hatte Pakistan seine Nuklearwaffen gebaut und etwas weiter südlich die international verurteilten Atomtests durchgeführt. Schlimmer noch, Wasiristan war nun wieder Taliban-Gebiet; Städte und Dörfer waren an die Fundamentalisten zurückgefallen. Chost, nur wenige Meilen entfernt von dort, wo er jetzt stand, war die ursprüngliche Rekrutierungsbasis für al-Qaida gewesen, unter der Führerschaft von Ajman Sawahiri, Bin Ladens Arzt und rechter Hand.
Westliche Analysten glaubten, al-Qaida und die Taliban wären unschädlich gemacht. Der Gefangene wusste es besser. Immer noch überquerten militante Sympathisanten ungehindert die Grenze. Manche kamen in Autos, die Pakistans Geheimdienst zur Verfügung stellte, andere langsamer, aber dafür unbemerkt und ungefährdet, im Schutz der Dunkelheit zu Fuß, geführt von Ortskundigen.
Sein derzeitiger Auftrag aber hatte damit nichts zu tun, sondern betraf etwas gänzlich Anderes, und zwar etwas, dachte er mit einem flauen Gefühl in der Magengrube, das unter Umständen eine größere Gefahr darstellte, als Atombombe und Taliban zusammengenommen.
Seine Entführer hatten ihn ein paar Meter von der Straße weg ins flache Gelände gebracht – es war eher ein unbefestigter Weg als eine Straße –, an einen dort eingerammten hohen Pfahl gefesselt und in der Obhut eines der Ihren zurückgelassen, eines kräftig gebauten Angehörigen des Durrani-Stammes. Er trug einen gestreiften Turban; die beiden Enden hingen ihm wie Zöpfe über die Schultern.
Seit der Abfahrt seiner Kameraden saß er auf einem Stein in der Vormittagssonne, die noch einen langen Weg bis zum Zenit zurückzulegen hatte, und tippte im Takt der verbotenen Musik mit dem Fuß auf den Boden.
Der Gefangene, ein Mann Ende zwanzig mit Namen John Navai, musterte zum hundertsten Mal seine Umgebung. Dies war einer der einsamsten Orte der Welt, dachte er, keine Gegend, wo man sich vorstellen konnte, dass die Kavallerie mit Hurra von den Hängen herabstürmte. Es wunderte ihn nicht, dass niemand gekommen war, um ihn zu retten, weder zu Lande, noch aus der Luft, per Helikopter. Von Anfang an hatte er gewusst, dass er allein arbeiten würde und, falls er in Gefangenschaft geriet, allein sterben. Seine Identität musste um jeden Preis geheim bleiben, auch den seines Lebens. John war ein Agent des MI6, des britischen Auslandsgeheimdienstes, und seine Mission in Afghanistan – hatte man ihm gesagt – von allergrößter Wichtigkeit für die nationale Sicherheit Großbritanniens.
Sie hatten ihn bereits verhört, weiter oben in den Bergen, in einem ihrer Verstecke, die man nur mit dem Maultier erreichen konnte oder zu Fuß. Lotrechte Steilwände, gewundene Pfade über lockeres Felsgestein, tiefe Klüfte und die schneebedeckten Nadeln unzähliger Gipfel – eine ihm vertraute Welt und doch eigentlich so fremd wie die Oberfläche des Mars, ein geheimes, uneinnehmbares Reich, welches niemand ohne Erlaubnis betrat oder verließ.
Sein Gefängnis war eine verräucherte Höhle gewesen, die er, angekettet an einen tief in den Fels eingelassenen Ring, mit einer Herde stinkender Schafe und Ziegen teilte. Fledermauskot bedeckte den Boden, und ein Stück weiter hinten von dort, wo er saß, war am Tag die Höhlendecke schwarz von ihren samtigen, kopfüber hängenden Leibern.
Seine Höhle, begriff er nach und nach, war Teil eines größeren, durch unterirdische Gänge verbundenen Systems. Sie befand sich etwa fünfzehn Meter unter der Erdoberfläche, zugänglich durch einen steil nach unten führenden Tunnel, dessen Öffnung hinter dichtem Buschwerk verborgen lag. Ein Schacht in der Decke bildete die einzige Luftzufuhr.
Jeden Morgen erhielt er ein Frühstück, bestehend aus Quark und altem Brot. Während er aß, redete ein Turban tragender Geistlicher namens Hadschi Achmad mit sanfter Stimme und in englischer Sprache auf ihn ein, bat ihn, zum Islam zu konvertieren und sich damit Schmerz und Tod zu ersparen. Jeden Tag hatte er geschwiegen, und der Achund hatte lächelnd seine Entscheidung respektiert. Er war ein Christ, hatten sie gesagt, also würden sie ihn nicht töten, weil er sich weigerte zu konvertieren. Falls sie ihn töteten, dann nicht wegen religiöser Unbelehrbarkeit, sondern wegen seiner anderen Verbrechen.
Worin diese bestanden, war schnell erklärt. Nach Hadschi Achmads Überzeugung war der Gefangene ein britischer Spion im Dienst des MI6 oder gehörte als Offizier des britischen militärischen Geheimdienstes zu der Schnellen Eingreiftruppe der Alliierten in Kabul. Der Gefangene trug einen flachen afghanischen Hut und einen wollenen Umhang; man konnte ihn für einen Einheimischen halten. Er gab vor, weder Dari noch Paschtu zu verstehen, aber sein Befrager brauchte ihm nur ins Gesicht zu blicken, um zu erkennen, dass er wahrscheinlich iranischer Abstammung war, auch wenn er Englisch mit starkem britischem Akzent sprach. Hadschi Achmad hatte an der Universität Newcastle in Ingenieurswesen promoviert und ein feines Ohr für englische Dialekte. Sein Gefangener entstammte der Mittelschicht und war irgendwo im Süden des Landes beheimatet. Viele Iraner waren nach der Revolution in Städte wie Brighton geflohen, und Hadschi Achmad glaubte, dass die Eltern des Gefangenen zu diesen gehörten. Alles nur Vermutungen, natürlich, aber Hadschi Achmads Vermutungen pflegten meistens zuzutreffen.
Die Folter begann jeden Tag nach der Aufforderung zu konvertieren. Ausgeführt wurde sie von wechselnden Mitgliedern der Gruppe nach den Anweisungen des Mannes mit der sanften Stimme und den wohlgesetzten Worten, Hadschi Achmad. Der Gefangene wusste genau, mit wem er es zu tun hatte. Hadschi Achmad war ein ägyptischer Araber, wie sein Busenfreund Sawahiri. Ursprünglich ein Mitglied von Ägyptens berüchtigtem Islamic Jihad, war er 1981 von einer von Bin Laden ins Leben gerufenen Gruppe rekrutiert worden, für den Kampf gegen die Russen in Afghanistan.
Geblieben war er als Mitglied von al-Qaida, einer von etlichen hundert »Afghan Arabs«, die erkannten, dass ihnen die Rückkehr in die Heimat verwehrt war, wo ein Haftbefehl auf sie wartete. Später, 1998, half er, Bin Ladens Dachorganisation aufzubauen, die »Islamische Front für den heiligen Krieg gegen die Juden und Kreuzritter«. Ein mittelalterlich anmutender Name vielleicht, aber die Juden standen für die Bewohner moderner Länder, und die Kreuzritter waren Amerikaner, Europäer, Australier und alle, die sie unterstützten.
Er hatte die Kunst der Folter bei den Russen studiert und sich mit sorgfältig kalkulierten Häppchen geheimer Informationen revanchiert, um sie glauben zu machen, er sei ihr Mann, während er die ganze Zeit doch nur Gott gehörte und sonst niemandem. Sein Rufname war Achmad, und der nächste Ibn Abdullah, der Sohn von Gottes Diener. Was immer er tat, in seinem Herzen versuchte er, seinem Schöpfer zu dienen.
Zur Folter ihres Gefangenen bedienten sie sich der Mittel, die ihnen zu Gebote standen. Sie verfügten nicht über die übliche technische Ausrüstung – keine Elektroschocker, keine Hochgeschwindigkeitsbohrer, keine Kopfhörer für die Beschallung mit hochfrequenten Tönen –, aber lange Jahrhunderte immer wieder neuer Kriege sowie Hadschi Achmads Lehrer hatten dafür gesorgt, dass sie wussten, wie man einem Menschen Schmerzen zufügt.
Sie wussten, wann man beginnt und wann man aufhört, wann man Blut vergießt und wann die Blutung stillt, wann es angebracht ist, den Gefangenen mit Drohungen zu zermürben und wann, ihn mit Freundlichkeit dankbar zu stimmen. Sie hatten ihn mit Feuer gebrannt – ein wenig hier, ein wenig dort –, ihm schwere Steine aufgelegt, deren Gewicht ihm beinahe das Rückgrat brach und den Brustkorb zusammenpresste, bis er zu ersticken glaubte; sie gebrauchten scharfe Messer, um ihm die Haut abzuschälen, und Verbände und Salben, um die Heilung zu beschleunigen, damit er nach drei, vier Tagen für ein neues Verhör bereit war. Die Stunden vergingen langsam, als hätten sie einzig und allein den Zweck, Schmerzen zu bringen und noch mehr Schmerzen.
Sie handelten nicht aus Sadismus. Sie wollten Informationen von ihm, und er war entschlossen, nichts preiszugeben, nicht einmal seinen Namen. Er hätte die Tortur jederzeit beenden können, indem er ihnen einfach sagte, was sie wissen wollten. Andererseits war ihm klar, wenn er das tat, würden sie ihn dennoch töten.
Er hatte Englisch mit ihnen gesprochen, denn der geringste Hinweis, dass er verstand, was man auf Dari oder Paschtu zu ihm sagte, bedeutete das Ende seiner Tarnung. Um ihn auf die Probe zu stellen, hatte Hadschi Achmad einen seiner Mudschahed aufgefordert, ihm persische Lyrik vorzutragen. Zwischen den Foltersitzungen rezitierte der Mann also auswendig, in halblautem Singsang mystische Verse des Dichters Rumi, und sein Gefangener lauschte und hörte in der Erinnerung seines Vaters Stimme dieselben Worte sprechen. Doch er verriet sich nicht, mit keiner Geste, keinem Wimpernzucken.
Ein klammes Frösteln kroch in die Höhle, wo es zu allen Jahreszeiten kalt war. Manchmal tat es weh, an das Tageslicht zu denken. Bei Sonnenschein war Afghanistan schöner als jeder andere Fleck auf Erden, den er kannte.
Irgendwann einmal hatte er das Grabmal des Kaisers Babur in Kabul besucht. Obwohl in den vergangenen Kriegen erheblich beschädigt, hat es seinen Charakter behalten: ein niedriges Dach auf Säulen über einem schlichten Sarkophag, eine Ruhestätte, umfangen von Licht und klarer Luft. Die Inschrift auf dem Grab besagte, Babur lebe ewiglich in dem lichten Garten des Engelskönigs, wo er zugleich König ist und Engel.
Manchmal gestatteten sie ihm, am Eingang der Höhle zu sitzen, unter einem Nachthimmel, an dem Millionen Sterne gleißten. Sie sagten ihm, die Sterne wären Lampen in den Händen von Engeln im ersten Firmament. Er glaubte ihnen nicht. Sie sagten ihm, Gott wacht über uns. Und auch das glaubte er ihnen nicht.