19
Der Wind des Paradieses

Kairo

Montag, 4. Januar

8.45 Uhr

Mohammed al-Masri vibrierte vor innerer Anspannung. Vor wenigen Stunden hatte sein Bruder sich gemeldet und berichtet, dass es ihm endlich gelungen sei, den Engländer aufzuspüren, dass er ihm gefolgt war, seinen Spuren, wie einem Wüstenfuchs zu seinem Bau. Bald würde das Schwert nun in seinem Besitz sein, und die Botschaft sich verbreiten, dass der Kalif lebte, der Schatten Gottes auf Erden. Das Schwert in der Hand, würde er den letzten Dschihad gegen die Ungläubigen der Welt anführen.

Die Tür ging auf, und ein kleiner Junge kam herein. Er war mittelgroß, ungefähr zwölf Jahre alt, mit pechschwarzem Haar und abstehenden Ohren. Er trug eine blaue Schuluniform, ungefähr eine Nummer zu groß für ihn, und fühlte sich merkbar unwohl in seiner Haut. Sein Name war Farid, und er wollte ein Märtyrer sein. Er kam aus Gaza, wo Kinder im Alter von vier Jahren Attrappen von Sprengstoffgürtel anlegen, nicht aus Spaß oder zum Spielen, sondern um sich an den Gedanken zu gewöhnen, einen echten zu tragen, wenn sie erwachsen sind.

Al-Masri begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln.

»Farid«, sagte er, »wie gut du aussiehst.«

Farid schaute ihn ausdruckslos an.

»Wenn ich sterben soll, Sayyid Mohammed, will ich als Muslim sterben, in der Kleidung eines Muslim.«

Der Ältere schüttelte, weiterhin lächelnd, den Kopf.

»In dem Moment, wenn du ins Paradies eingehst, Farid, wird Gott wissen, dass du ein Muslim bist. Viele tragen das Kleid eines Muslim, doch sie haben das Herz eines Ungläubigen. Du hast das Herz eines wahren Muslim, das Herz eines Mudschahed, das Herz eines Märtyrers. Der Prophet selbst wird dort sein, um dich willkommen zu heißen. Die Engel werden dich preisen bis in alle Ewigkeit.«

Farid, dem man vom Paradies erzählt hatte, seit er sprechen konnte, brachte das Gespräch zurück zu den irdischen Dingen.

»Was wird aus meinen Eltern? Wird man für sie sorgen? Und für meine Brüder und meine Schwester?«

Al-Masri nickte. Es war üblich, sich um die Familien der Märtyrer zu kümmern.

»Für den Rest ihres Lebens. Du hast mein Wort.«

Farid wusste, dass seine älteren Brüder, Walid und Nasser, wie auch seine vierzehnjährige Schwester, die demnächst verheiratet werden sollte, ebenfalls auf al-Masris Liste künftiger Märtyrer verzeichnet standen. Er malte sich aus, welche Freude es sein würde, wenn er sie alle im Himmel wiedersah.

»Ist es so weit?«, fragte er, weil er fürchtete, der Mut könnte ihn verlassen.

Al-Masri schaute auf seine Armbanduhr.

»Ja«, antwortete er. »Es ist so weit.«

Farid spürte, wie der kühle Wind des Paradieses ihn umbrauste. Nun stand sie dicht bevor, die Verwandlung von einem menschlichen Wesen in einen Märtyrer. Der Kalif selbst hatte ihm erzählt, man tat einen Atemzug in dieser Welt und den nächsten im Paradies, oder dass es schneller ging als der Schritt von einer Seite einer geraden Linie auf die andere. In weniger als einer Sekunde würde sein zerfetzter und blutender Körper in dem unsterblichen Leib eines Märtyrers wiederauferstehen, gemacht aus dem Stoff des Paradieses. In einem himmlischen Palast würde er wohnen und niemals krank werden oder alt oder ein zweites Mal sterben müssen.

Wenn er ehrlich war, fühlte er sich elend. Wohin er wirklich wollte, war nach Hause zu seiner Mutter. Gott allein wusste, wie er sich vor einer Stunde von ihr verabschiedet hatte, und sie nichtsahnend, arglos. Panik stieg in ihm auf, die Angst, sterben zu müssen. Und wenn es nun vielleicht keine Belohnung gab, kein Paradies?

Das Schulgebäude lag genau gegenüber. Autos hielten vor dem Eingang, ließen Kinder aussteigen und fuhren weiter. Andere Schüler kamen zu Fuß, alle in Schuluniformen wie der seinen, die Jungen und auch die Mädchen. Sie gehörten einer Vielzahl von Nationalitäten an, überwiegend schienen es aber Briten zu sein. Dies war die britische Schule in Kairo, eine altehrwürdige Institution in dem wohlhabenden Viertel Zamalek, gegründet als Bildungsstätte für die Söhne und Töchter von außerhalb des Vaterlandes lebender und arbeitender Briten. Im Lauf der Jahre begannen gutsituierte Ägypter ihre Kinder herzuschicken, einige Juden, und ausgewanderte Europäer, wie die Niederländer und die Dänen, die keine eigenen Schulen hatten.

Vor drei Tagen waren bei einem Angriff der Briten nahe Basra dreißig Aufständische getötet worden, darunter der führende Organisator der al-Qaida im Irak. Er war ein persönlicher Freund al-Masris gewesen. Sie waren zusammen ausgebildet worden, hatten Seite an Seite gekämpft, erst in Afghanistan, dann im Nordirak. Heute wollte der Kalif Vergeltung üben für den Tod seines Freundes. Heute würde er den Briten einen Schlag versetzen, den sie niemals vergaßen. Danach würden sie Ägypten in Scharen verlassen.

Der Mann, der neben Farid stand, war Universitätsdozent, ein enger Mitarbeiter von al-Masri, zu einem großen Teil für die Strategie der Gruppe verantwortlich. Er sprach ein ausgezeichnetes Englisch, das er an der Universität von Kairo gelernt hatte.

In einem Moment, als das Gedränge am Eingang besonders dicht war, überquerte er mit Farid die Straße und trat zu einer der zwei Lehrerinnen, die an dem kleinen schmiedeeisernen Tor standen und die Schüler abhakten, die hineingingen.

»Entschuldigung«, sagte er.

Die Lehrerin, die mit einem jungen Mädchen gesprochen hatte, drehte sich um und lächelte. Sie war neu an der Schule und fing erst an, sich die Schüler und ihre Eltern einzuprägen.

»Ja, selbstverständlich, Mr. ...?«

»Sabri. Tarik Sabri. Das ist mein Sohn, Farid. Er ist heute den ersten Tag in Ihrer Schule, und er ist ein wenig nervös. Ich möchte Sie bitten, wenn es Ihnen nichts ausmacht, ihn zur Morgenandacht zu bringen und anschließend zu – nun ja, wo er dann hin muss. Er geht in die zweite Klasse.«

»Ist er bei Mr. McKenzie gewesen?«

»Vor zwei Tagen. Alles hat seine Richtigkeit.«

Die Kinder fingen an zu laufen. In wenigen Minuten begann die Andacht. Es war höchste Zeit. Die Lehrerin, Miss Evans, griff nach Farids Hand. Farid zog sie weg. Miss Evans lächelte. Er erwiderte das Lächeln nicht.

»Ich werde dich nicht fressen«, sagte sie.

Sich zu dem angeblichen Mr. Sabri umwendend, sagte sie: »Die Andacht fängt gleich an. Mr. McKenzie mag keine Zuspätkommer, und wir wollen doch nicht, dass unser Farid hier gleich am ersten Tag unangenehm auffällt, nicht wahr? Vielleicht sehen wir uns noch häufiger. Wenn Farid in die zweite Klasse geht, hat er bestimmt auch Unterricht bei mir.«

Sabri schüttelte ihr die Hand, dann beugte er sich zu seinem »Sohn« hinunter.

»Gott hat dich bereits gesegnet«, raunte er. »Wenn du ins Paradies kommst, bitte ihn, mich ebenso zu segnen. Die Märtyrer warten auf dich. Gott wartet auf dich.«

Er richtete sich auf, streifte Miss Evans mit einem Lächeln und war im nächsten Moment verschwunden, während die Lehrerin mit Farid in Richtung Aula hastete.

In dem Jungen brodelten die widerstreitendsten Empfindungen. Er wollte bei seiner Mutter sein, aber wie sollte er die Schande ertragen, wenn er jetzt einen Rückzieher machte. Seit er denken konnte, priesen alle Leute, die er kannte, den Märtyrertod als das höchste und edelste Ziel menschlichen Strebens. Von Kindheit an waren seine Idole nicht Fußballspieler gewesen, sondern Märtyrer für den Glauben aus Gaza und dem Westjordanland. An den Wänden seines Schlafzimmers hingen Poster von ihnen, so, wie ein anderer Junge vielleicht sein Zimmer mit Bilder von David Beckham oder Wayne Rooney tapeziert. Er kannte ihre Namen und wusste, wie sie gestorben waren.

Der Sprengstoffgürtel um seine Taille, mit Klebeband auf der nackten Haut befestigt, scheuerte beim Laufen. Gebetsfetzen schwirrten durch das Chaos seiner Gedanken. Er schluckte die Tränen hinunter, denn Märtyrer weinen nicht. Die Lehrerin glaubte, er wäre verstört wegen der Hektik und der vielen fremden Menschen. Sie beschloss, ihn unter ihre Fittiche zu nehmen.

Mit Hilfe der Gebete, die ihm seit frühester Kindheit tägliche Gewohnheit waren, und anderen, die er von al-Masri gelernt hatte, vertrieb er die Zweifel und Ängste aus seinem Kopf. Es war Zeit, alles andere auszuschließen, seine Gedanken auf die heilige Tat zu richten, die er gleich vollbringen würde.

Miss Evans bugsierte ihn durch eine Doppeltür in die Aula, einen Saal mit quadratischem Grundriss, der groß genug war, um die etwa dreihundert Schüler der Oberstufe samt dem Lehrerkollegium aufzunehmen. Der Direktor stand in seinem akademischen Talar auf der Bühne, weiße Haarbüschel sträubten sich rechts und links an seinem Kopf. Hinter ihm saß in einer Reihe die Lehrerschaft, und an der Seite schickte das Schulorchester sich an, »Abide with me« zu intonieren. Ein ganz ähnliches Szenario hätte man an jeder beliebigen britischen Privatschule finden können, nur war hier das Spektrum der Nationalitäten vielfältiger.

Miss Evans, besorgt, sie selbst könnte Mr. McKenzie als »Zuspätkommer« auffallen, erspähte einen freien Stuhl ziemlich in der Mitte des Saals, in den Reihen der Zweitklässler. Dorthin schob sie Farid mit der Versicherung, ihn nach der Andacht wieder abzuholen, und eilte dann zu der Treppe, die zum Podium hinaufführte, dabei spürte sie die ganze Zeit den Blick des Direktors auf sich ruhen.

Farid schlängelte sich durch die Stuhlreihen zu seinem Platz, verfolgt von neugierigen Augen. Sobald er sich hinsetzte, fühlte er sich besudelt. Überall um ihn herum waren Ungläubige mit blondem Haar und blassen Gesichtern neben Schülern mit dunklerer Haut, vielleicht Muslime aus unreligiösen Familien. Der Junge neben ihm sah chinesisch aus, und er wusste, die Chinesen waren Götzendiener. Ein anderer Junge trug einen indischen Turban, und einer seiner Lehrer hatte gesagt, Inder, die keine Muslime waren, beteten das Goldene Kalb an. Da waren Mädchen, die kurze Röcke anhatten, Mädchen, die älter waren als er und längst verheiratet gehörten, aber hier schamlos zwischen den Jungen saßen. Einige trugen sogar Make-up. Dies war ein Sündenpfuhl, und Gott würde ihm dankbar sein, dass er ihn vernichtete.

Die Musik setzte ein, und auf einen Wink des Direktors erhob sich die gesamte Schule. Einzig Farid hatte kein Gesangbuch und wusste nicht einmal, was ein Gesangbuch war. Alle fingen an zu singen.

Farid schob die rechte Hand in die Jackentasche. Sein Zeigefinger ertastete den Knopf, der mit dem Gürtel verbunden war. Er holte noch einmal tief Luft. Das Letzte, was er sah, war ein Mädchen in der Reihe vor ihm, das sich umgedreht hatte, um ihn anzulächeln, und das Letzte, was er fühlte, war der glatte Kunststoff unter seinem Finger, als er fest auf den Knopf drückte. Er hörte nicht die Explosion, sah nicht das Blut, spürte nicht die Druckwelle. Seine Engel riefen ihn zu Gott.

Das Schwert - Thriller
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