15
Hintergründe

Straße nach Loch Killin

Am selben Abend

Die Jahre in den Bergen Afghanistans hatten Raschid gelehrt, was Kälte war. In Schottland war es kalt, aber nicht so kalt wie dort, wo die afghanische Grenze die Höhen von Hindukusch und Himalaja erklomm. Nacht lag über dem Land wie die schwarzen Schwingen von Asrael.

Er hielt an, schaltete die Scheinwerfer und den Motor aus, stieg aus dem Wagen und wartete darauf, dass seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Zuletzt war er lange durch Kiefernwald gefahren, aber von hier ging es weiter durch offenes Gelände. Nach und nach erschien ihm die Schwärze weniger undurchdringlich, und er entdeckte, wonach er Ausschau gehalten hatte: zwei winzige Lichtpunkte in der Ferne. Sie bewegten sich nicht. Das war kein Fahrzeug, das waren die erleuchteten Fenster eines Hauses.

Er beschloss, den Wagen stehenzulassen und zu Fuß weiterzugehen. Aus dem Kofferraum holte er das Scharfschützengewehr und den Colt, als Reserve, dann legte er die vorsorglich mitgebrachten Schneeschuhe an.

Er nahm einen tiefen Atemzug von der kalten Bergluft. Die Angelegenheit ist so gut wie erledigt, sagte er sich. Spätestens um Mitternacht würde er seinen Bruder anrufen und ihm berichten können, dass er das Schwert in Händen hatte. Das Mädchen brauchten sie dann nicht mehr. Mohammed würde ihr die Kehle durchschneiden und den Leichnam in den Nil werfen.

Bailebeag Cottage

Am selben Abend

»Was ist mit Osama bin Laden?«, fragte Jack. »Befindet er sich nicht immer noch in Afghanistan? Er will das Kalifat wieder einführen. Wird er nichts gegen diese neue Konkurrenz einzuwenden haben?«

»Bin Laden ist tot, Jack. Die Konkurrenz übernimmt das Ruder. Mit dem Schwert in seinem Besitz wird Mohammed die islamischen Extremisten weltweit kontrollieren. Schon jetzt hat er heimliche Anhänger in den inneren Kreisen von al-Qaida, Hisbollah, Hamas, der muslimischen Bruderschaft – ziemlich überall.«

Es sah aus, als wollte er weitersprechen, dann aber schien er sich anders zu besinnen und verstummte.

Jack griff nach dem Schüreisen und schob die glosenden Scheite im Kamin zurecht. Funken sprühten wie feurige Dämonen. Harz quoll aus dem größten Klotz und lief zischend in die Flammen.

»Jack.« Simon schien eine Entscheidung getroffen zu haben. »Da gibt es noch etwas. Ich bin nicht sicher, inwieweit es wichtig ist, aber Sie sollten es wissen. Der Großvater unseres Freundes Mohammed war ein Kampfgefährte von Hadschi Amin al-Husseini. Klingelt’s?«

Jack schüttelte den Kopf.

»Jemand, den ich kennen sollte?«

»Dem Namen nach ja, wahrscheinlich. Er war von den Zwanzigern bis in die vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die maßgebliche palästinensische Führungspersönlichkeit, der Großmufti von Jerusalem.«

Jack nickte.

»Aha. Jetzt weiß ich, wen Sie meinen.«

»Dann wissen Sie auch, dass Husseini ein enger Verbündeter Hitlers war, während des Zweiten Weltkriegs die Nazis unterstützte und die Ausrottung der Juden im Mittleren Osten plante? Dass er vorhatte, in Nablus ein Konzentrationslager zu errichten?«

»Vage.«

»Er war ein schlimmer Finger. 1941 half er dabei, die geheime Operation der Nazis im Irak zu organisieren. Ein oder zwei Jahre später stellte er eine Division Waffen-SS aus bosnischen Muslimen zusammen, die für die Ermordung von neunzig Prozent der Juden in Bosnien verantwortlich waren. Sie wurden die Lieblinge Himmlers. Besaßen in Dresden ihr eigenes Ausbildungszentrum.

Nun, nach Ende des Krieges wurde Husseini als Kriegsverbrecher gebrandmarkt, doch über die Schweiz und Frankreich gelang ihm die Flucht. In Kairo tauchte er wieder auf, zusammen mit einem Haufen anderer Nazis. Er wurde als Held willkommen geheißen, und nach der Machtergreifung Nassers wurde Ägypten zu einem sicheren Zufluchtsort für Dutzende von ehemaligen Nazis. Natürlich hatte Nasser selbst sein politisches Leben als Mitglied von Young Egypt begonnen, der größten arabischen nationalsozialistischen Bewegung.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Husseini hielt sich bis Anfang der sechziger Jahre in Kairo auf und entwickelte eine beachtliche Geschäftigkeit. 1951 arrangierte er die Ermordung von Jordaniens König Abdullah. Er sorgte mit seinen Nazi-Freunden für die Verbreitung von Büchern wie ›Mein Kampf‹ in der gesamten arabischen Welt. Es ist dort nach wie vor ein Bestseller.«

Jack runzelte die Stirn.

»Ich weiß. Man sieht es überall an den Bücherständen.«

»Geboren wurde der Mufti in Jerusalem, aber studiert hat er in Kairo, an der Al-Aschar, und er hatte Familie in Ägypten. Wenigstens von einem seiner Verwandten werden Sie gehört haben: Jassir Arafat. Und da schließt sich der Kreis. Unser Mohammed scheint ebenfalls ein Mitglied der Familie Husseinis zu sein. Emilia glaubt – tut mir leid, glaubte –, Emilia glaubte, er hatte Verbindungen zu Nazi-Kreisen in Kairo. Hätte sie noch.«

»Nazis? Die müssen doch alle längst tot sein.«

»Nicht alle. Alois Brunner, Eichmanns Helfer, wohnt noch in Damaskus. Im Hotel Meridian. Und es gibt andere in anderen arabischen Hauptstädten. Einige lebten unter Saddam Hussein in Bagdad. Saddam wuchs bei einem Onkel auf, der einer der Führer bei dem Pro-Nazi-Coup des Muftis von 1941 war. Husseini selbst ist erst 1974 gestorben. Der Faschismus lebt und gedeiht im Mittleren Osten, Jack. Hast du nie Filmaufnahmen von einer Hisbollah-Kundgebung gesehen? Oder der Hamas? Mit dem allgemeinen Hitlergruß? Den ganzen Plakaten mit der Aufschrift: ›Gott segne Hitler?‹ Emilia war der Überzeugung, dass in manchen arabischen Ländern noch die Kinder von ehemaligen Nazis ihr Unwesen treiben und dass der Zirkel, der seinerzeit in Kairo von Husseini gegründet wurde, mittlerweile in dritter Generation aktiv ist. Und sie glaubte, Mohammed wäre ihre große Hoffnung.«

»Warum erzählen Sie mir das alles?«, wollte Jack wissen.

»Weil Sie Bescheid wissen müssen. Sie haben das Schwert. Sie kennen die Hintergründe. Sie sprechen fließend Arabisch. Sie können auf sich aufpassen. Und Sie haben eine engere Verbindung zu diesen Leuten, als irgendjemand vom Geheimdienst bei uns oder den Amis.«

»Um Himmels willen, Simon, ich bin nichts weiter mehr als ein Akademiker. Das Kämpfen habe ich vor Jahren aufgegeben. Spaß hat es mir ohnehin nicht gemacht. Mein Tummelplatz sind obskure Texte in mittelalterlichem Arabisch. Ich bin ein Stubenhocker, Simon, ein staubtrockener Bewohner der unaufregenden Stadt der Gelehrsamkeit. Ich kann Ihnen wirklich nicht helfen.«

»Im Gegenteil. Gerade deshalb sind Sie überzeugend. Sie haben den perfekten Hintergrund. Keine Tarnung, ein wirkliches Leben an Universitäten, reale Kontakte in verschiedenen muslimischen Ländern, eine umfassende Kenntnis der Dinge, um die es geht. Ich möchte Ihnen die Gelegenheit geben, Rache zu nehmen für Emilia und Naomi zu befreien. Sie sollen als Köder fungieren. Streuen wir das Gerücht aus, dass Sie das Schwert haben, warten ab und sehen, wer aus dem Bau kommt und anfängt, herumzuschnüffeln.

Packen Sie das Schwert und den Brief gut ein, Jack. Sorgen Sie dafür, dass ihnen nichts passiert. Wir gehen zurück nach Kairo. Einer der führenden Leute in der Botschaft hat eine Verbindung zu den Saudis hergestellt – ein weiterer Grund, weshalb wir das Schwert so dringend brauchen.«

»Die Saudis? Ich sehe den Zusammenhang nicht.«

»Ist der nicht offensichtlich? Das saudische Herrscherhaus nimmt für sich die Führungsrolle in der islamischen Welt in Anspruch, weil es die beiden heiligen Städte kontrolliert, Mekka und Medina. Dieser Mohammed droht die Saudis zu entmachten, aus dem Spiel zu drängen. Möglicherweise entfacht er einen Dschihad in Arabien und reißt sich Mekka unter den Nagel. Dann hätte er die Öldollars zur Verfügung und könnte sich erst recht in den Nimbus der göttlichen Sendung hüllen. Die Saudis wollen das Schwert. Damit behalten sie die Oberhand.«

»Die Saudis sind Geldgeber des Terrorismus, Simon.«

»Überlassen Sie das uns, Jack. Sie müssen sich darauf konzentrieren, Naomi zurückzubekommen.«

»Dann bleiben Sie am besten über Nacht hier, und morgen früh fahren wir los.«

Simon schüttelte den Kopf.

»Packen Sie Ihre Sachen, Jack. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir brechen sofort auf.«

Das Schwert - Thriller
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