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Totenwache

Jack ließ die beiden Frauen in Georginas Wohnung zurück, wo sie sich der Computerrecherche widmen wollten. Samiha war immer noch vom Blutverlust geschwächt, aber die in Monaten aufgestaute Wut und Erbitterung motivierten sie, bis an die Grenze ihrer Kräfte zu gehen, in der Hoffnung, al-Masri einen Strich durch die Rechnung zu machen.

»Gib auf dich acht, Jack«, sagte sie. »Bleib nicht zu lange weg.«

Er legte ihr die Hand an die Wange und nickte.

»Wenn du dich schlecht fühlst, lass dich von Georgina wieder in die Klinik fahren. Ich komme zurück, so schnell ich kann.«

Für die Rückfahrt brauchte er länger als für den Hinweg. Der Verkehr war dichter. Am Ostufer begegnete er zweimal einer Kolonne von Limousinen, eine in Richtung des Abdin Palastes fahrend, die andere kam von dort. Der Präsident empfing seine Gäste.

Immer noch harrte eine Menschenmenge vor St. Sergius aus und hielt Totenwache. Die Leute trugen keine Kerzen mehr, doch Priester von anderen Kirchen in der ganzen Stadt waren gekommen und beteten mit kleinen Gruppen, während Akolythen mit Weihrauchfässern umhergingen. Jack hatte damit gerechnet, eine Horde Reporter und Kameraleute vorzufinden, sah sich in dieser Hinsicht aber getäuscht. Er nahm an, dass die Behörden die Presse noch nicht informiert und eine Nachrichtensperre verhängt hatten: Das Letzte, was der Mann im Abdin Palast wünschte, war, dass dieser Vorfall die Konferenz überschattete. Dschamila hatte Jack von einem Selbstmordattentat in einer Schule in Zamalek erzählt und dem weltweiten Aufschrei, der die Folge gewesen war.

Ein Polizeikordon versuchte, Neugierige vom Schauplatz des Verbrechens fernzuhalten. Jack umging die Polizisten und bahnte sich durch die Menschenmenge einen Weg zum Haus der Jakubs. Dort hatte sich eine kleinere Anzahl Trauernder versammelt. Sie knieten vor dem Haus, flüsterten Gebete, beschworen einen Gott, der niemals ferner gewesen war als heute. Ein Priester wanderte mit einer Ikone vor ihnen auf und ab, blieb in Abständen stehen und beugte sich nieder, damit die Betenden das Marienbild küssen oder mit den Händen berühren konnten. Etwas zur Seite stand ein Mönch mit einem goldenen Kruzifix. Jack fand, dass die alten Mütterchen, aus denen diese Gruppe hauptsächlich bestand, durchfroren und hungrig aussahen, was sie nicht daran hindern würden, den ganzen Tag hier im Gebet zu verharren.

Ein kräftig gebauter Mann verwehrte Jack an der Tür den Zutritt.

»Ich muss hinein«, sagte Jack. »Ich muss mit Dschamila Lochud sprechen. Sie ist eine Freundin der Jakubs und jetzt bei ihnen im Haus.«

»Ich kann Sie nicht hereinlassen.« Der Mann blieb hart. »Besucher sind nicht erwünscht.«

Es entspann sich ein langes Hin und Her; zu guter Letzt ging der Mann ins Haus, sprach mit Vater Joseph, und als er wiederkam, ließ er Jack eintreten.

»Er sagt, Sie können nicht bleiben«, richtete er aus. »Er sagt, Sie verstehen schon.«

Jack nickte. Er verstand sehr gut.

Vater Joseph trat Jack in einer weiten schwarzen Galabija entgegen und bat ihn ins Wohnzimmer. Dort befanden sich die vier Kinder mit Dschamila, zwei Priester und eine alte Dame, die Jack als Josephs Mutter vorgestellt wurde. Das Ehepaar Sachary war anwesend und Schwager Butros. Nebenan hörte man Schadia weinen. Dschamila erklärte, Mutter und Schwester wären gekommen, um ihr beizustehen.

Jack unterhielt sich kurz mit Vater Joseph und versicherte ihm, er werde die Mörder seiner Kinder zur Rechenschaft ziehen.

»Leider muss ich euch Dschamila entführen«, sagte er dann. »Ich tue es nicht gern, da ich weiß, dass ihr sie nötig braucht, besonders die Kinder. Aber wir haben eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Wenn wir diesen Mann nicht aufhalten, gibt es eine Katastrophe, noch um Vieles größer als die Untat von heute Morgen.«

Der Priester nickte. Seine Augen waren trocken, aber Jack konnte nachfühlen, wie es in ihm aussah. Genau wie er, seit er Emilias Leiche gefunden hatte und auch Naomi tot glaubte, würde Vater Joseph nie wieder derselbe sein. Manchmal ist selbst bei Gott kein Trost, dachte er.

»Dschamila hat mir das alles erklärt. Du hast recht. Du musst es verhindern. Möge Gott mit dir sein.«

»Vater, es mag abgedroschen klingen, aber ich verstehe, was Sie durchmachen. Es wäre leicht für mich, zu sagen, es geht vorbei, aber ich weiß, es geht nie vorbei. Ich weiß keinen Ausweg und keine Medizin. Die eine Trauer heilt nicht die andere. Mein Schmerz kann den Ihren nicht lindern. Aber ich schwöre, ich werde Gerechtigkeit üben. Marie und Hannah werden nicht ungerächt bleiben.«

Der Priester schaute ihn groß an.

»Ich strebe nicht nach Rache«, sagte er. »Es ist nicht der christliche Weg.«

»Das sei Ihnen unbenommen. Aber Raschid al-Masri wird dennoch sterben. Für das, was er meiner Frau angetan hat. Meinen Eltern. Diesen Leuten in Schottland. Der kleinen Fiona Taggart. Gott allein weiß, wie viele unschuldige Menschen er ermordet hat, wie viele er noch ermorden wird, wenn man ihm nicht Einhalt gebietet. Ich schwöre, dass ich ihn töten werde. Langsam oder schnell, es macht keinen Unterschied. Und ich werde nicht für seine Seele beten, weil ich glaube, dass er keine hat.«

Joseph machte das Kreuzeszeichen.

Dschamila verabschiedete sich von den Kindern. Auf der Treppe unterrichtete Jack sie über die jüngsten Entwicklungen.

Er nannte ihr O’Malleys Namen und seine Adresse – »Für den Fall, dass etwas schiefgeht, musst du wissen, wo Naomi ist.« Aber sie meinte, sie wüsste Bescheid über diese Klinik der besonderen Art.

Zu guter Letzt gab er ihr Georginas Visitenkarte und legte ihr ans Herz, sie nicht zu verlieren.

Draußen wurde immer noch gebetet. Sie gingen zwischen den Knienden hindurch und schlugen den Weg zum Auto ein. Die Menge vor der Kirche beanspruchte inzwischen auch die ganze Straße und wuchs immer noch weiter an, denn Trauernde aus Misr al-Qadima und anderen christlichen Bezirken trafen nach und nach ein. In dem Gedränge wurden Jack und Dschamila getrennt.

Er sah den Peugeot, entdeckte nicht weit davon entfernt Dschamila und steuerte auf sie zu, da tauchten wie aus dem Nichts zwei Männer auf.

»Professor Jack Goodrich?«

Als Jack den Kopf wandte, stand der Sprecher bereits neben ihm. Der zweite Mann kam von der anderen Seite.

»Sind Sie Jack Goodrich?« Die Aussprache verriet den Engländer.

»Wer will das wissen?«

Der Mann steckte die Hand in die Tasche, und für einen Moment war Jack überzeugt, er würde eine Waffe ziehen. Stattdessen präsentierte er ein aufgeklapptes kleines Etui mit einem goldfarbenen Abzeichen darin.

»Detective Inspector Norman Alderton von der Kriminalpolizei Norfolk. Mein Partner ist DI Iain Ferguson von der Scottish Northern Constabulary. Ich möchte Sie bitten, mir zu bestätigen, dass Sie Jack Goodrich sind, Professor an der Amerikanischen Universität in Kairo, zuletzt wohnhaft in der Fouad Street 17 im Bezirk Garden City in Kairo?«

»Was soll das? Was zum Teufel wollen Sie von mir? Wer sind Sie?«

»Geben Sie zu, dass Ihr Name Professor Jack Goodrich ist?«

»Ja. Aber warum? Ich habe nichts getan. Was ...?«

»In diesem Fall, Professor Goodrich, muss ich Sie auffordern, uns zu einem nahe gelegenen Polizeirevier zu begleiten, wo man Sie wegen Mordverdacht in Haft nehmen wird. Genauer gesagt, wegen des Mordes an ihren Eltern, Arthur und Nancy Goodrich, wohnhaft in Norwich, Ian und Jean Stewart sowie Angus und Ailsa Gilfillan, wohnhaft in Whitebridge in der schottischen Grafschaft Inverness. Desgleichen werden Sie verdächtigt, Simon Henderson von der Britischen Botschaft in Kairo getötet zu haben. Nach Abschluss der erforderlichen Formalitäten erfolgt Ihre Auslieferung an die Behörden des Vereinigten Königreichs, worauf man Sie nach englischem Gesetz unter Anklage stellen wird. Sie haben das Recht, zu schweigen oder einen Anwalt zu benennen, der Sie vertreten soll.«

Sobald er erste Beamte sein Sprüchlein aufgesagt hatte, winkte sein schottischer Kollege, und zwei uniformierte ägyptische Polizisten traten aus der Menge.

Ein schwarzer Wagen rollte heran und hielt neben ihnen. Jack wurde auf den Rücksitz verfrachtet; die beiden Detectives nahmen links und rechts von ihm Platz. Einer der Uniformträger setzte sich nach vorn.

»Los!«, befahl Alderton dem Mann hinter dem Lenkrad. Der meint es wirklich ernst, dachte Jack, der Mühe hatte zu begreifen, was ihm da widerfuhr.

Als der Wagen sich langsam in Bewegung setzte, wandte Jack den Kopf und sah durchs Seitenfenster Dschamila mit offenem Mund der davonrollenden schwarzen Limousine hinterherschauen.

In vierundzwanzig Stunden sollte die Internationale Konferenz für Frieden und Wiederaufbau im Mittleren Osten eröffnet werden.

Das Schwert - Thriller
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