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Assistent des Chargé d’Affaires
Kairo
10.35 Uhr
Er benutzte den Geldautomaten der Filiale an der Gezira Street in Zamalek. Das Gemeinschaftskonto war nie besser gepolstert gewesen. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, hob er nur so viel ab, wie er brauchte, um sich neu einzukleiden und andere Kleinigkeiten zu besorgen.
Seine Einkäufe tätigte er im Chan el-Chalili, einem lärmenden, betriebsamen, chaotischen Basar aus dem 14. Jahrhundert, der so gut wie alle modernen Bedürfnisse bediente. Der riesige, überdachte Markt war ein Irrgarten winziger Läden und Kioske, die verkauften, was das Herz begehrte, von Büchern bis zu respektabler Damenunterwäsche, Touristen-Tinnef und Herrenoberbekleidung jeglicher Machart, außer modern.
Durch die Maski-Straße mit ihren Parfümhändlern ging er in Richtung der Schneiderläden westlich des Midan Hussein, des alten Platzes, der einmal das Zentrum des mittelalterlichen Kairo gewesen war. Jack kannte einige der Ladenbesitzer mit Namen und besaß die nötige Geduld, um zu handeln. Zu jeder Einkehr gehörte ein Glas Pfefferminztee oder ein Tässchen Mokka, und weil er fließend Arabisch sprach, entspannen sich darum herum lange Gespräche. Feilschen war ein unabdingbarer Teil des Prozesses: Ohne das verlor der Händler an Gesicht, und der Kunde fühlte sich betrogen, auch wenn es gar nicht der Fall war. Unter vielem Händeschütteln und scherzhaftem Geplänkel erstand er einen Maßanzug nach europäischem Schnitt, an Ort und Stelle angepasst, mehrere Hemden, eine grelle Krawatte, neue Schuhe und Unterwäsche zum Wechseln.
Er zog sich gleich um und ließ die übrigen Sachen von einem Jungen ins Hotel bringen. In dem neuen Anzug sah er aus wie ein Geschäftsmann, nicht der erfolgreichste, zugegeben, aber seriös genug, um nicht an der Tür der Botschaft abgewiesen zu werden. Nach diesem Besuch jedoch wollte er zur Tarnung schnellstmöglich ägyptische Kleidung anlegen. Ein paar Schritte weiter war ein anderer Laden, der Galabijas in allen Schattierungen von Braun und Grau anbot. Er kaufte eine in Grau, und wieder fand sich ein Junge, der sie, zusammen mit einer grauen Scheitelkappe, in sein Hotel brachte, für später.
In einem anderen Teil des Chan suchte er sich einen Barbier, der bereit war, ihm die Haare zu stutzen und ihn zu rasieren. Während er bedient wurde, kam ein Mann in einer hellen Gabardine-Galabija herein und nahm auf der Bank ihm gegenüber Platz. Ab und zu schaute er zu Jack hin, wich aber seinem Blick aus, irritiert von der Tatsache, dachte Jack, dass er nicht aussah wie ein Tourist, aber eindeutig kein Ägypter war. Ein Schuhputzer erschien und wienerte für ein paar Pennies seine Schuhe. Ihm folgte ein Wahrsager, der Jack anbot, ihm die Zukunft vorherzusagen.
»Nein, danke«, wehrte er ab. Er zog es vor, nicht zu wissen, was die nächste Zeit für ihn bereithielt.
Er nahm ein Taxi zur Botschaft in Garden City. Dem Fahrer versprach er ein besonders reichliches Trinkgeld, wenn er es schaffte, vor Mittag da zu sein. Sie wühlten sich durch den Verkehr, der etwas dünner wurde, weil die Zeit für das Mittagsgebet heranrückte. Die Straßen waren geschmückt mit den an Laternenpfählen aufgehängten Fahnen von einem Dutzend oder mehr Ländern, und ihm fiel ein, dass das muslimische Neujahr bevorstand.
Nachdem er aus dem Taxi gestiegen war und den Fahrer bezahlt hatte, blickte er über den Sicherheitswall auf die imposante Residenz des Britischen Botschafters. Das langgestreckte weiße Gebäude mit den hohen Fenstern und glänzendem Pediment kündete von den Tagen, als Ägypten quasi eine britische Kolonie gewesen war. Die meisten anderen Botschaften wirkten dagegen wie aufgehübschte Bruchbuden. Einst war sie das Regierungszentrum des Landes gewesen, und mochten auch diese glanzvollen Tage vergangen sein, präsentierte das diplomatische Corps nach wie vor der Welt eine unerschütterte, hoheitsvolle Fassade.
Er zeigte an der Sperre seinen weinroten Pass vor und noch einmal am Haupteingang. Eine Frau in grauem Hosenanzug erschien und eskortierte ihn in das Innere des Gebäudes. Er kannte sie nicht. An einem Tresen im Foyer nannte er wieder seinen Namen, zeigte zum dritten Mal seinen Pass vor und bat darum, jemanden sprechen zu dürfen in einer, wie er es formulierte, dringenden Sicherheitsangelegenheit.
»Einen Augenblick, bitte.« Der Sekretär, ein junger Farbiger, griff nach dem Telefonhörer und gab eine vierstellige Nummer ein. Er sprach schnell und unhörbar und legte auf.
»Bitte nehmen Sie auf einem der Stühle dort drüben Platz, Professor. Gleich wird jemand kommen, mit dem Sie sprechen können.«
Er setzte sich hin. Und saß. Und saß. Die Zeit verging, und niemand kam. Irgendwo tickte eine Uhr. An der Wand hinter der Rezeption zeigten zwei elektrische Uhren lautlos die Zeit in London und Kairo an. Einmal ging er zurück zum Tresen und wurde gebeten, sich noch etwas zu gedulden. Seine Angaben würden geprüft, sagte der Angestellte. In Kürze würde jemand herunterkommen. Jack bemerkte, dass ihn seit seiner Ankunft in der Botschaft niemand angelächelt hatte. Niemand hatte ihn gefragt, ob seine Angelegenheit dringend sei.
Halb erwartete er, ein bekanntes Gesicht zu sehen, doch obwohl mehrere Botschaftsangestellte das Foyer durchquerten, die breite Treppe hinauf- und hinuntergingen, erkannte er niemanden und wurde nicht erkannt. Sogar die Zeit schien hier erfroren zu sein.
Ein Mann in einem schwarzen Anzug mit messerscharfer Bügelfalte kam die Treppe hinunter und zielstrebig auf ihn zu. Die harten Sohlen seiner Schuhe klackten auf dem Marmorboden. Er lächelte und streckte die Hand aus, lange bevor er ihn erreichte. Jack ließ sich von diesem Lächeln nicht einen Moment täuschen, es war nicht echt, und als der Mann seine Hand drückte, geschah es nur pro forma: die Finger schlossen sich kurz und ließen sofort wieder los.
»Professor Goodman, wenn ich nicht irre? Malcolm Purvis, Assistent des Geschäftsträgers.«
»Goodrich«, berichtigte Jack. »Mein Name ist Goodrich.«
»Ach, selbstverständlich. Tut mir leid.«
Seine Miene verriet Unmut über den Lapsus, der ihm unterlaufen war, und Gleichgültigkeit gegenüber der Wirkung auf den Betroffenen. Er schien nicht sehr erfreut, Jack zu sehen. Möglicherweise hatte man ihn vom Mittagessen weggeholt oder aus einer wichtigen Besprechung. Seine Augen standen auffallend dicht zusammen, als gäbe es nicht genug Platz für sie in seinem bleichen Patriziergesicht. Die Lippen waren schmal, das Auftreten selbstsicher, der exakte Haarschnitt verriet den Absolventen einer Privatschule.
»Darf ich Sie bitten, mich zu begleiten, Professor?«, fragte er. »Sie müssen mir erklären, weshalb Sie zu uns gekommen sind. Wirklich, Sie hätten sich an das Konsulat wenden sollen. Dort kann man die meisten Ihrer Fragen beantworten. Sofern sie die nationale Sicherheit betreffen.«
»Darum geht es nicht, vielen Dank. Ich komme wegen ...«
»Warten Sie, bis wir in meinem Büro sind. Dort können wir unter vier Augen sprechen.«
Jack folgte ihm schweigend die Treppe hinauf und einen langen Flut entlang zu einer Tür mit der Aufschrift »Assistent Chargé d’Affairs«. Purvis ließ ihn eintreten und wies auf einen Sessel, während er selbst hinter einem ausladenden Mahagonischreibtisch Platz nahm. Er studierte kurz ein Blatt Papier auf der Schreibunterlage, dann richtete er den Blick auf Jack.
»Professor, die Notiz, die man mir heraufgegeben hat, besagt, dass Sie Nachforschungen über zwei Personen anstellen, die, wie Sie behaupten, in dieser Botschaft tätig waren oder sind. Die Namen sind Simon Henderson und Emilia Goodrich. Ich nehme an, die Dame ist eine Verwandte von Ihnen, wahrscheinlich Ihre Frau. Ich habe unsere Datenbank überprüft. Diese Namen sind leider nirgends aufgeführt. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht geirrt haben? Wenn Sie mir die Namen vielleicht noch einmal buchstabieren könnten.«
Jack schrieb sie auf ein Stück Papier, genau wie vorhin bereits. Purvis tippte auf seiner Tastatur herum, seine flinken Finger gaben Daten ein, riefen Daten ab. Nach ein paar Minuten hob er wieder den Blick.
»Und Sie sind überzeugt, dass Sie sich nicht vertan haben?«, fragte er. »Ich kann die Namen nicht finden. Aber ich habe einen James und eine Susan Henderson.«
»James Henderson – wie sieht er aus? Können Sie mir sein Foto ausdrucken?«
»Bedaure. Sicherheit, Sie verstehen. Informationen über Botschaftspersonal dürfen nicht an Außenstehende weitergegeben werden.«
»Was ist mit meiner Frau? Emilia Goodrich. Sie hat mit Simon zusammengearbeitet. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass beide dem SIS angehörten.«
Purvis bedachte ihn mit einem frostigen Lächeln.
»Da müssen Sie sich irren, Sir. Sie haben zu viele Spionageromane gelesen. Der SIS operiert von London aus. Er hat kein Büro hier in Kairo, das kann ich Ihnen versichern.«
»Meine Frau ist vor einigen Monaten hier in Kairo ermordet worden. Inzwischen habe ich erfahren, dass die Leute, die für ihren Tod verantwortlich sind, meine Tochter in ihrer Gewalt haben. Simon Henderson ist gestern am frühen Morgen erschossen worden. Der SIS muss davon in Kenntnis gesetzt werden.«
»Das wird er ganz sicher. Sie brauchen nur zum Telefon zu greifen. Übrigens, haben Sie ihn getötet? Sind Sie gekommen, um mir das zu sagen?«
»Ich möchte mit jemandem sprechen, der mich kennt. Rufen Sie Richard Bailey her. Er wird für mich bürgen. Er wird Ihnen bestätigen, wer ich bin.«
Richard war ein alter Freund noch aus ihrer Anfangszeit in Kairo. In den ersten zwölf Monaten hatte er ihnen mit Rat und Tat zur Seite gestanden und ihnen geholfen, sich in der Stadt zurechtzufinden. Jack hatte immer geglaubt, dass Richard in der Abteilung für Wirtschaftsförderung arbeitete, aber jetzt beschlichen ihn Zweifel.
Purvis zögerte kurz, dann griff er wieder nach dem Telefonhörer.
»Richard? Hier ist Malcolm Purvis. Hören Sie, würde es Ihnen sehr viel ausmachen, Ihre Arbeit kurz zu unterbrechen und eben zu mir ins Büro zu kommen? Wunderbar. Ich habe einen alten Freund von Ihnen bei mir sitzen. Sagt er. Nein, es soll eine Überraschung sein.«
Er legte auf.
»Mr. Bailey wird gleich da sein. Sie können hier warten. Ich habe einen Bericht, den ich fertig schreiben muss.«
Der ACA widmete sich wieder seinem Computer. Minuten vergingen; nur das gedämpfte Klappern der weichen Tasten unterbrach die Stille im Zimmer.
Die Tür ging auf, und Richard Bailey trat ein. Jack durchströmte eine Woge der Erleichterung. Er stand auf.
»Richard, Gott sei Dank, dass Sie kommen. Ich kann mich Ihrem Kollegen nicht verständlich machen. Nicht einmal Emilias Namen findet er in seinem verdammten Computer ...«
Richard musterte ihn wie einen völlig Fremden. Er wandte sich an Purvis.
»Malcolm? Haben Sie nicht etwas von einem alten Freund gesagt? Diese Person habe ich noch nie gesehen.«
Purvis zuckte die Achseln.
»Er behauptet, Sie zu kennen. Er behauptet, seine Frau hätte hier im Haus für den SIS gearbeitet. Sie soll vor ein paar Monaten ermordet worden sein. Behauptet er. Noch jemand, den er kannte, wurde gestern erschossen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
»Richard!« Jack umklammerte den Arm des Freundes. »Du weißt ganz genau, wer ich bin. Deine Frau Nancy war eine von Emilias besten Freundinnen. Ihr habt beide an der Gedenkfeier hier in der Botschaft teilgenommen. Richard, man hat Simon Henderson getötet. Man hat versucht, mich zu töten.«
Richard drehte sich halb herum und löste Jacks Hand von seinem Arm. Seine Miene war abweisend.
»Tut mir leid, guter Mann, ich habe keine Ahnung, wer Sie sind. Vermutlich bin ich der falsche Richard Bailey.«
Aber Jack bemerkte, dass Richards Nonchalance gespielt war. In seinen Augen stand so etwas wie Angst. Jack kannte den Ausdruck. Er hatte ihn oft genug in den Augen von Männern im Kampfeinsatz gesehen. Hier war sie nicht so stark, dennoch unverkennbar.
Zu Purvis gewandt, äußerte Bailey: »Rufen Sie lieber jemanden, der den Burschen hinausbegleitet. Man hätte ihn gar nicht erst hereinlassen dürfen.«
»Richard, warte ...«, sagte Jack beschwörend, aber Richard war bereits halb aus der Tür, und Purvis hatte den Hörer am Ohr und bat den Sicherheitsdienst, jemanden heraufzuschicken.
»Professor«, sagte er dann in dem Bemühen, die peinliche Angelegenheit versöhnlich zu beenden – auch das gehörte zur Ausbildung eines Diplomaten –, »ich kann begreifen, dass der Tod Ihrer Frau Sie sehr belastet, und ich respektiere das. Aber ich habe den Eindruck, dass der Schmerz und die Trauer Sie ein wenig aus der Bahn geworfen haben. Um ganz offen zu sein, Ihre Geschichte klingt nicht sehr überzeugend. Ziemlich weit hergeholt, wenn ich so sagen darf. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein kann. Wenn es nicht zu unverfroren ist, würde ich Ihnen empfehlen, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auf dem Konsulat wird man Ihnen in dieser Hinsicht raten können. Zögern Sie nicht, sich wieder an mich zu wenden, sobald Sie Beweise in der Hand haben, die stichhaltig genug sind, dass ich damit zu meinen Vorgesetzten gehen kann. Bis dahin aber kann ich nichts weiter für Sie tun.«
Fünf Minuten später stand Jack wieder auf der Straße, ratloser und verstörter als je zuvor in seinem Leben.