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Schlagzeilen

Bab al-Hadid/Bahnhof Ramses

12.04 Uhr

Die Wintersaison war in vollem Gange, und ungeachtet der Bomben lockten die jahreszeitlich bedingten Billigreisen Touristen aus Europa, Australien, Südafrika und den USA in Scharen nach Kairo. Im Ramses-Bahnhof bestiegen sie die Luxuszüge zu den Stränden von Alexandria im Norden oder den Sehenswürdigkeiten von Luxor und Assuan weit unten im Süden. Die Fahrpreise empfanden sie als Schnäppchen. Studenten und Rucksackreisende gingen noch einen Schritt weiter und zwängten sich in Dritte-Klasse-Waggons zu lebenden Hühnern, rotznasigen Kindern und Fellachen, die für einige Tage zurückkehrten in die Dörfer, die sie vor Jahren verlassen hatten, um in der großen Stadt ihr Glück zu suchen. Auf dem Querbahnsteig herrschte Betrieb wie in King’s Cross am frühen Freitagabend, nur stand man hier nicht geduldig in der Schlange, sondern Menschenknäuel wälzten sich schiebend und stoßend zu den Bahnsteigen. Im Bahnhof wie auch davor hingen mehr Orientierungsfähnchen denn je. Touristen suchten herdenweise nach den Logos ihres Reiseunternehmens in dem kunterbunten Geflatter.

Jack kaufte sich einen Orangensaft an einem Stand in Sichtweite der Schließfachanlage. Er und Dschamila hatten sich überlegt, dass die Terroristen logischerweise nach einem Paar Ausschau halten würden, deshalb hatten sie den Bahnhof getrennt und durch verschiedene Eingänge betreten. Dschamila hatte den Schlüssel. Sobald sie sicher sein konnten, dass die Luft rein war, sollte sie zu dem betreffenden Fach gehen, die Tasche mit dem Schwert und dem Brief an sich nehmen und den Bahnhof auf demselben Weg, den sie gekommen war, wieder verlassen. Seine Aufgabe bestand darin, sie die ganze Zeit über im Auge zu behalten, um ihr dann in unauffälligem Abstand zum Auto zu folgen. Seine Angreifer von letzter Nacht hatten zwei Handfeuerwaffen zurückgelassen, Walther P99, und diese steckten nun in Jacks und Dschamilas Hosenbund.

Er sah sie stehen bleiben und die Zugänge zu den Bahnsteigen mustern, um herauszufinden, ob jemand in der Menge ein ähnliches Verhalten an den Tag legte. Sie hatte ihm gesagt, der Gegner könnte an diesem Vormittag eine Heerschar von Spitzeln in Marsch gesetzt haben. Zwei Jahre lang hatte sie in Zusammenarbeit mit Simon die Aktivitäten dieser Gruppe beobachtet. Simon hatte speziell sie angeheuert, weil er an der Integrität einiger seiner MI6-Agenten zweifelte. Nach ihrer Darstellung war die Gruppe damals bereits sehr mitgliederstark gewesen und wuchs immer noch weiter. Heute konnte sie jederzeit Dutzende, ja Hunderte Glaubenskrieger mobilisieren. Sie hatte ihn gewarnt, er solle sich um Himmels willen nicht der Illusion hingeben, ihre Gegner könnten immer so leicht zu erkennen sein wie in der vergangenen Nacht. Nach ihren Erkenntnissen musste man damit rechnen, dass die Beobachter am und im Bahnhof aussahen wie Geschäftsleute, Zugpersonal, Studenten, Schuhputzer, sogar Urlaubsreisende. Sie mussten auf jeden achten, der an Vorübergehenden mehr Interesse zeigte als normal. Der ganze Bahnhof wimmelte von Männern und Jungen, die sich an die Reisenden hefteten und ihnen anboten, die Koffer zu tragen, Geld zu wechseln, als Führer zu dienen. Gehörten auch davon welche zu al-Masri?, fragte sich Jack.

Das Glas Saft in der Hand, schlenderte er näher an die Schließfächer heran. Er hatte nicht versucht, sein Äußeres zu verändern. Mit seinem dichter werdenden Bart sah er mit jedem Tag, der verging, etwas mehr wie ein Ägypter aus. Die zerknautschten Kleider, aus denen er, seit er sie tags zuvor angezogen hatte, noch nicht wieder herausgekommen war, trugen dazu bei, dass er sich organisch in die alles andere als klinisch reine Welt des durchschnittlichen Ägypters einfügte.

Dicht bei dem Getränkestand gab es einen Zeitungskiosk. Jack ging hin und las die Schlagzeilen von al-Ahram, al-Achbar und des englischsprachigen Daily Star. Alle widmeten sich dem Hauptthema des Tages: dem rätselhaften Schusswechsel bei einer Hochzeit auf dem Südfriedhof. Die Artikel waren illustriert mit Fotografien von dem Blutbad. Chadidscha, die junge Braut, würde später an diesem Tag bestattet werden. Ihr untröstlicher Ehemann posierte für die Kameras, die Wangen benetzt mit den Tränen des um sein eheliches Glück betrogenen Gatten.

Gerade, als er wieder aufschauen wollte, fiel Jacks Blick auf die rechtsseitige Kolumne von al-Ahram. Sie enthielt eine Aufnahme von ihm selbst, die er sofort als das Brustbild von seiner Universitäts-Website erkannte. Dazu gehörte ein Kasten mit der Überschrift: Anzeige.

Er reichte dem Händler ein paar Münzen und ging mit der Zeitung ein Stück beiseite, um zu lesen.

Der arabische Text war kurz und knapp.

An Professor Jack Goodrich von der Amerikanischen Universität. Wir haben etwas von Ihnen, das Sie unbedingt wiederhaben wollen. Sie haben etwas, das uns gehört. Bitte rufen Sie uns an, damit wir einen Austausch arrangieren können. Wir garantieren Ihre Sicherheit und die Sicherheit einer Ihnen nahestehenden Person. Die Telefonnummer ist: 401-9354.

Jack faltete die Zeitung zusammen. Als er den Kopf hob, merkte er, dass Dschamila zu den Schließfächern unterwegs war. Hastig überprüfte er, ob ihr jemand folgte, und manövrierte sich dabei in ihre Nähe. Er sah, wie sie die Nummern auf den Türen kontrollierte. Plötzlich blieb sie stehen und bückte sich, um den Schlüssel in das Schloss des hohen Gepäckfachs zu schieben, zu dem er gehörte. Die Tür ging auf, sie zog die Tasche heraus, schwang sie mit einer geübten Bewegung über die Schulter und schickte sich an, auf kürzestem Weg, aber ohne Hast, den Bahnhof zu verlassen. Jack folgte ihr in einigem Abstand und behielt die Umgebung im Auge.

Dschamila hatte fast den Ausgang erreicht, als Jack sah, wie sich rechts von ihnen ein Mann von der Wand abstieß. Er wandte den Kopf und entdeckte zwei weitere, die sich einen Weg durch das Gedränge bahnten; von ihnen ausgehend liefen Wellen des Protests durch die zu den Zügen brandende Flut der Fahrgäste.

Jack schob die Hand in die Tasche. Er hatte ein Loch hineingeschnitten, um unauffällig und ohne Umwege die Pistole im Hosenbund greifen zu können. Der Mann am Ausgang hielt geradewegs auf Dschamila zu, und Jack sah, wie auch er die Hand in die Tasche steckte und etwas herauszog.

»Dschamila!«, schrie er. »Pass auf!«

Sie blickte auf, sah den Verfolger und begann zu laufen, doch sofort tauchten noch drei Männer auf und verstellten ihr den Weg.

Jack winkte heftig. »Hierher!«

Blitzschnell war sie neben ihm, aber auch ihre Verfolger kamen näher, von beiden Seiten. Jack war klar, wenn er an diesem Ort anfing zu schießen, war ihm künftig nicht nur die Mördertruppe des Kalifen auf den Fersen, sondern auch die gesamte Kairoer Polizei.

Statt zu versuchen, das Hauptportal vor ihnen zu erreichen, rannte Jack mit Dschamila an der Hand in Richtung der Bahnsteige.

An Gleis 4 stand der Regionalzug 12.15 Uhr nach Alexandria kurz vor der Abfahrt. Das Gitter war bereits geschlossen, aber Jack setzte darüber hinweg, blieb stehen und half Dschamila, die von ihren langen Gewändern behindert wurde. Die Verfolger holten auf. Dschamilas Melaya verfing sich an einem vorstehenden Stück Metall. Jack fand die Stelle, nestelte den Stoff los, und sie sprang zu ihm auf den Bahnsteig.

»Schnell«, sagte er. »Die Türen sind noch nicht geschlossen.«

Sie liefen um ihr Leben; ein Mann im letzten Wagen hielt die Tür für sie auf. Als sie hineinsprangen, schaute Jack sich um und sah, dass ihre Verfolger ebenfalls über die Sperre kletterten und sich sputeten, den Zug zu erreichen. Genau in dem Moment, als er ihnen die Tür vor der Nase zuschlug, setzte sich der Zug mit einem scharfen Ruck in Bewegung.

»Achte auf die Tür«, wies er Dschamila an, bevor er sich durch den vollgepfropften Waggon kämpfte, über Kisten stolpernd und Beutel und krakeelende Kinder. Eine sehr dicke Frau, die an einem auf der Holzbank stehenden Paket hantierte, blockierte den Gang. Jack schubste sie auf den Sitz, wobei das Paket zerdrückt wurde, und sprintete zum Ende des Waggons.

Dort stand die Tür bereits sperrangelweit offen, und zwei weitere von al-Masris Sendboten bemühten sich unter akrobatischen Verrenkungen, den Fahrt aufnehmenden Zug zu entern. Jack, an eine Haltestange geklammert, ließ einen Fuß vorschnellen. Ein gezielter Tritt, der den vordersten Mann gegen den Hals traf, dicht unterhalb des Kinns. Mit einem schmerzvollen Grunzen kippte er nach hinten, verlor den Halt und stürzte mit einem satten, unheilverkündenden Plumps auf den Bahnsteig.

Sein Kumpan hielt sich mit einer Hand fest, mit der anderen zog er eine Pistole, aber der Zug ruckelte, und er hatte noch keinen festen Stand. Er drückte ab, doch der Schuss ging ins Leere. Jack bekam sein Handgelenk zu fassen, die Pistole fiel aus den sich öffnenden Fingern, als er dem Angreifer, indem er ihn um 90 Grad herumwirbelte, die Schulter auskugelte und ihn dann rücklings in Leere stieß. Sekunden später raste ein Gegenzug über das Gleis, auf dem er gelandet war. Jack angelte nach dem Griff der Tür und riss sie krachend ins Schloss.

Langsam ging er durch den Wagen zurück. Er spürte, dass man ihn anstarrte. Die Frauen hielten alle das Gesicht abgewandt, um nicht seinem Blick zu begegnen; einige der Männer schauten ihn finster an, aber Jack musterte sie ebenso grimmig, und sie verzichteten darauf, etwas zu sagen oder zu tun. Er kehrte zum Einstieg zurück, wo Dschamila wartete.

Der Zug fuhr jetzt schneller, aber es war ein Personenzug, eine alte Lok mit alten Waggons, der stundenlang durch das Delta schnaufen würde, bevor er sein Ziel erreichte.

Jack konnte nicht wissen, ob weiter vorn noch andere Verfolger eingestiegen waren; falls ja, waren sie unter Garantie jetzt auf dem Weg zum letzten Wagen, wo sie ihr Wild zu stellen hofften. Wenn sie das Feuer eröffneten, war in Anbetracht der vielen, auf engem Raum ohne Fluchtmöglichkeit zusammengepferchten Menschen ein zweites Massaker unausweichlich.

»Wir müssen aussteigen«, sagte Dschamila aus demselben Gedankengang heraus.

Jack nickte. Er wagte sich erneut in die geballte Missbilligung des letzten Waggons und entdeckte die Notbremse. Entschuldigungen murmelnd, beugte er sich über eine alte Frau und ein Mädchen, umfasste den Griff und zog daran. Sekunden später kam der Zug kreischend zum Stillstand. Die Fahrgäste in den Gängen wurden zu Boden geworfen.

Als Jack wieder bei Dschamila anlangte, hatte sie bereits die Tür geöffnet. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass von keiner Seite ein Zug nahte, sprangen sie auf das geschotterte Gleisbett. Sie befanden sich nach wie vor innerhalb der Stadtgrenzen, ausgangs von Bulaq, schätzte Jack, nicht weit vor der Eisenbahnbrücke, die über den Nil nach Imbaba hineinführte, bevor die Strecke nach Norden abbog und nach Alexandria.

Sie hasteten über die Gleise, beflügelt von der Angst, ein Turbini, ein Schnellzug, könnte aus dem Nichts herangerast kommen, aber alles blieb ruhig. Niemand sprang aus dem Zug, um sie zu verfolgen. Sie erreichten die andere Seite und stiegen über eine Mauer auf eine schräge Böschung. Vor ihnen lagen die Häuser, Märkte und Werkstätten von Bulaq. Man hörte das Klingen von Hämmern auf Metall. Dahinter erstreckten sich die Altkleidermärkte, die das Viertel berühmt gemacht hatten. Dort bekam man immer ein Taxi.

Jack blieb stehen und bat Dschamila, ihm die Tasche zu geben. Er zog den Reißverschluss auf. Das Schwert, eingewickelt ins Mussas Stoffbeutel, befand sich noch darin, ebenfalls der Brief, beides offenbar unberührt.

Aufatmend machte er die Tasche wieder zu. So weit, so gut. Und jetzt der Telefonanruf.

Das Schwert - Thriller
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