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Weihnachten
Sie eilten zurück in die Kirche. Das Gotteshaus war ein Ort des Todes geworden. Kaum aus der Ohnmacht erwacht, hatte Schadia erleben müssen, wie auch ihre älteste Tochter ermordet wurde. Vater Joseph versuchte, ungeachtet seiner eigenen großen Schmerzen, sie zu beruhigen, doch ohne Erfolg. Sie schrie und raufte sich die Haare. Samiha bemühte sich nach Kräften, die beiden überlebenden Schwestern zu trösten, Irene und Maria, aber nichts konnte ihren Kummer lindern, und sie konnte sich nicht vorstellen, wie diese Kinder jemals ihren Seelenfrieden wiederfinden sollten. Die beiden Jungen saßen nebeneinander in einer Bank und hielten sich in den Armen. Der jüngere, John, weinte bitterlich, Pierre war blass und still.
Dschamila, die die Jakubs als ihre zweite Familie betrachtete, war fassungslos. Sie fühlte sich elend, betäubt, erschüttert bis auf den Grund ihrer Seele. Auch wenn sie sich sagte, dass sie und Jack ein noch größeres Massaker verhindert hatten, empfand sie beim Blick auf die Leichen von Hannah und Marie keine Erleichterung, sondern eine dumpfe Niedergeschlagenheit.
Erst als Jack wieder im Kirchenschiff stand, wurde ihm bewusst, dass die Gefahr nicht gebannt war. Naomi lag noch im Krankenhaus, und Raschid wusste wahrscheinlich, in welchem.
Er ging zu Samiha, die bei den Mädchen saß.
»Samiha, ich brauche deine Hilfe. Wir müssen zum Krankenhaus fahren, sofort. Damit Raschid nicht vor uns bei Naomi ist.«
Sie stand auf und sagte Irene und Marina, sie käme bald wieder.
Derweil unterrichtete Jack Dschamila von seinem Vorhaben und sagte ihr, sie solle die Familie nach Hause begleiten und die Diakone wecken.
»Keine Polizei«, mahnte er. »Möglicherweise haben sie dort Spitzel eingeschleust. Falls mir oder Samiha etwas zustößt, bist du die einzige Person, die weiß, was sie für Freitag planen. Du musst am Leben bleiben und in Freiheit. Sieh zu, dass du eine Möglichkeit findest, jemanden ins Bild zu setzen, der etwas zu sagen hat. Vielleicht jemanden in der amerikanischen Botschaft. Sorg zumindest dafür, dass die Konferenz abgeblasen wird.«
Immer noch aufgewühlt und kaum eines klaren Gedankens fähig, nickte sie nur wortlos. Eine innere Stimme raunte ihr zu, reiß dich zusammen, die Katastrophe zu verhindern ist wichtiger als alles andere. Eine zweite Stimme drängte sie, in Tränen auszubrechen.
Jack und Samiha hasteten nach draußen. Der gemietete Peugeot stand noch dort, wo sie ihn verlassen hatten, und der Ersatzschlüssel befand sich in seiner Tasche.
Sie rasten auf der Abu’l-Faraj nach Südwesten, weckten schlafende Kinder aus ihren Träumen vom Weihnachtsmann, rissen ihre stille Nacht in tausend Stücke. Im Süden der Sinan-Pascha-Moschee fuhren sie auf die Corniche und mit Vollgas weiter nach Süden in Richtung der Brücke über den Nil.
Während der gesamten Fahrt betete Jack zu dem, was er von Gott noch in einem Winkel seiner Seele bewahrt hatte, sah er Raschids Hand mit dem Messer über Naomis Finger schweben, sah dieselbe Hand Maries Köpfchen abschneiden, sah dieselbe blutige Hand einen langen, klaffenden Schnitt über Hannahs unschuldige Kehle ziehen.
Auf dem letzten Wegstück hielt er angestrengt Ausschau nach Hinweisen dafür, dass Raschid ihnen zuvorgekommen war, doch als er vor dem Gebäude anhielt, stand dort kein weiteres Auto.
Sie hämmerten gegen die Eingangstür, bis der bauab, der Pförtner, herbeigeeilt kam und öffnete.
Jack drängte sich an dem verdutzten Mann vorbei und marschierte ins Foyer. Eine Krankenschwester erschien auf der Treppe. Sie erschrak. Beruhigte sich aber, als sie Samiha entdeckte, die hinter Jack hereinkam.
Jack fing sie ab, bevor sie den Fuß der Treppe erreicht hatte.
»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte er. »Das englische Mädchen, das mit der verletzten Hand. Bringen Sie mich zu ihr.«
Die Krankenschwester, eine Frau um die vierzig, schüttelte steif den Kopf.
»Sie können uns nicht in aller Herrgottsfrühe überfallen und Forderungen stellen. Wer sind Sie überhaupt? Was wollen Sie von der Kleinen?«
»Ich bin ihr Vater. Jemand ist auf dem Weg hierher, um sie zu töten. Ich muss meine Tochter von hier wegbringen.«
»Bitte beruhigen Sie sich. Sie reden dummes Zeug. Die Kleine ist längst nicht wiederhergestellt. Wenn Sie sie mitnehmen, wird sie einen Rückfall erleiden. Möglicherweise stirbt sie.«
»Darum kümmere ich mich, sobald sie in Sicherheit ist. Ich nehme sie jetzt mit, und Sie werden mich nicht daran hindern.«
Die Schwester kniff die Lippen zusammen und betätigte den Pieper in ihrer Brusttasche. Jack stieß sie beiseite, und Samiha, die schon zweimal hier gewesen war, zeigte auf eine Tür rechterhand, zu dem Korridor, an dem Naomis Zimmer lag.
Die empörte Stimme der Schwester folgte ihnen durch die Tür und – gedämpfter – den Flur hinunter. Naomis Zimmer war das Siebte in der Reihe. Jack trat auf Zehenspitzen ein, um sie nicht zu wecken.
Sie schlief fest. Kleine farbige Lichter auf Monitoren blinkten, und einen schrecklichen Moment lang fühlte Jack sich an die Weihnachtsbeleuchtung in der Kirche erinnert, die sich in Blutlachen spiegelte. Er trat ans Bett und schüttelte sie sacht an der Schulter.
»Naomi. Naomi, wach auf.«
Sie brauchte eine Weile, um die Schlaftrunkenheit abzuschütteln. Er fasste sich in Geduld, dann aber hörte er etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein Auto näherte sich in hohem Tempo, raste auf den Hof unten und kam mit quietschenden Bremsen vor dem Gebäude zum Stehen.
Schritte im Flur. Samiha lugte durch den Türspalt: Die Schwester war im Anmarsch, flankiert von einem Arzt im weißen Kittel und dem bauab.
Jack fiel ein, dass die Tür nach innen aufging. Der Griff an der Innenseite war ein langer, solide angeschraubter Metallstab. Eine zweite Stange daneben an der Wand diente Patienten, die schon wieder umhergehen durften, als Halt beim Betreten oder Verlassen des Raums.
»Schnell, sorg dafür, dass niemand hereinkann!«, rief er Samiha zu.
Das Zuschlagen einer Autotür.
Samiha verlor keine Zeit. Sie schaute sich im Zimmer um, entdeckte einen Besen und schob ihn durch die beiden Stangen. Gerade noch rechtzeitig. Zwei Sekunden später drückte jemand gegen die Tür und stellte fest, dass sie nicht nachgab. Ein wütender Ausruf. Dann wieder Schritte, mindestens eine weitere Person eilte den Flur entlang.
Jack öffnete das Fenster. Kalte Nachtluft strömte herein.
»Paps?«, fragte Naomi. »Was machst du da? Was ist passiert?«
»Du kannst hier nicht bleiben«, antwortete er. »Wir bringen dich in eine bessere Klinik, aber wir müssen uns beeilen. Sei leise. Wir dürfen niemanden wecken.«
Doch Naomi konnte hören, wie an der Tür gerüttelt wurde, und bekam Angst.
Samiha redete beruhigend auf sie ein und versicherte ihr, sie brauche sich nicht zu fürchten, alles wäre in Ordnung. Sie half ihr aus dem Bett und packte sie mit der Zudecke warm ein.
Jack stieg als Erster aus dem Fenster. Es ging nicht tief hinunter. Das Hämmern wurde lauter, dann warf sich jemand mit dem ganzen Gewicht gegen die Tür. Der Besenstiel knackte.
Samiha reichte Naomi zu Jack hinunter, anschließend stieg sie aufs Fensterbrett und sprang. Ein zweiter dumpfer Schlag ertönte aus dem jetzt verlassenen Zimmer, und der Besenstiel zerbrach.
Jack hielt Naomi fest an sich gedrückt, während er und Samiha um ihr Leben liefen. Als sie um die Hausecke bogen, sahen sie ein zweites Auto neben dem Ihren stehen und im Schein einer nahen Laterne den Fahrer hinter dem Lenkrad sitzen.
»Gib mir Naomi«, sagte Samiha und blieb stehen, um Jack das Kind abzunehmen.
Der Fahrer war bereits halb ausgestiegen und griff nach seiner Waffe. Jack sah ihn, zog seine eigene Pistole und drückte ab. Der Mann kippte vornüber, blieb mit einem Fuß hinter der Türleiste hängen und fiel aufs Pflaster. Er war nicht tödlich getroffen und unternahm Versuche, sich aufzurichten, als Jack neben ihm anlangte, auch seine Uzi hatte er noch in der Hand. Jack jagte ihm eine Kugel in den Kopf.
Raschid stürmte auf sie zu und feuerte im Laufen auf Jack, aber der Schuss ging weit am Ziel vorbei.
Jack warf sich hinter Raschids Auto. Auf der anderen Seite schlug eine Kugel ins Blech. Den Wagen als Deckung nutzend, kroch er zum Heck, stand auf, nahm die Automatik in beide Hände und schoss.
Doch die Kugel ging ins Leere. Raschid hatte erkannt, dass er sich zur Zielscheibe machte, und hinter der Hausecke Schutz gesucht.
Jack hastete zu seinem Peugeot, stoppte nur kurz, um Raschids linken Vorderreifen zu zerschießen. Samiha hatte es geschafft, Naomi im Fond einigermaßen bequem unterzubringen, und stieg eben auf der Beifahrerseite ein. Jack schob sich hinter das Lenkrad. Der Zündschlüssel steckte.
Eine Salve aus Richtung der Klinik schlug wie eine Breitseite in die Karosserie ein. Jack startete den Motor und legte krachend den Rückwärtsgang ein. Heulend vollführte der Wagen eine scharfe Wende. Erster Gang, und der Peugeot schnellte die Auffahrt hinunter, dann in den zweiten Gang und weiter. Schüsse folgten ihnen in die Dunkelheit.
Auf dem Rückweg nach Schubra, wieder auf der Straße hinunter zum Fluss, wandte Jack sich an Samiha. Er wollte etwas sagen, doch im selben Moment bemerkte er das Blut an ihren Kleidern.