10
Der Tod und das Mädchen

Highway 66, im Norden Israels

Sobald sie den Checkpoint passiert hatten, sollten sie in nordwestlicher Richtung weiterfahren, am Fuß des Karmelgebirges entlang nach Haifa.

Gleich hinter den dichtgedrängten Häusern von Dschenin tauchte der Sicherheitszaun auf, mit dem gelbgestrichenen Tor. Bei Einbruch der Dämmerung hatte man die Beleuchtung eingeschaltet, und der Checkpoint lag als grelle Lichtinsel in der abendlichen Landschaft. Der Fahrer ließ den Wagen im Schritttempo in den schmalen Korridor rollen, der zum Tor führte, hielt auf halber Strecke an, und er und Samiha stiegen aus. Je zwei Angehörige der israelischen Verteidigungsstreitkräfte standen links und rechts auf Wache, junge Männer, einer mit Kippa, die anderen barhaupt. Vier Männer, keine Frauen. Samiha atmete innerlich auf. Ihre Informationen waren demnach korrekt gewesen. Nur weibliche Soldaten durften eine Frau durchsuchen.

Während der Fahrer kontrolliert wurde, zeigte Samiha ihre Papiere vor sowie einen Brief des Misrad Ha’Mischpatem, des israelischen Justizministeriums. Der Brief wies sie als eine vertrauenswürdige Anwältin aus, die in kooperativer Art und Weise verdächtige Palästinenser als Rechtsbeistand vertrat. Die traurige Ironie, dachte sie, bestand darin, dass sie genau das gewesen war: jemand, der Gewalt verabscheute, eine Realistin, die erkannt hatte, dass Zusammenarbeit und gegenseitige Toleranz der Weg in die Zukunft waren, und nicht Selbstmordanschläge.

Der Soldat, dem sie die Papiere ausgehändigt hatte, trat in eine kleine Kabine und telefonierte. Zwei Minuten später kam er wieder und gab ihr die Dokumente zurück.

»Wir haben Anweisung, Sie passieren zu lassen. Der Beamte, mit dem ich gesprochen habe, heißt Mosche Harel. Er wird hier anrufen, um ihr Eintreffen am Ort der Konferenz zu bestätigen und uns Bescheid geben, wenn Sie die Rückfahrt antreten. Sorgen Sie dafür, dass Ihr Fahrer sich während der ganzen Zeit im Gebäude aufhält.«

Schweigend fuhren sie weiter, und mit jedem Kilometer fühlte sie ihr Leben kürzer werden, wie eine Schnur, von der eine unsichtbare Schere unbarmherzig Stück für Stück abschnitt.

Nicht lange, und sie hatten die Straßenkreuzung bei Megiddo erreicht. Früher war sie oft diese Strecke gefahren, wenn sie palästinensische Gefangene in dem großen Militärgefängnis in der Nähe besuchte. Zu ihrer Überraschung bog der Fahrer, statt auf der 66 zu bleiben, die an den Megiddo und Mischmar Ha’emek Kibbuzim vorbeiführte, nach links ab, auf die Wadi-Ara-Straße, eine Hauptverkehrsader zwischen Afula und Hadera an der Küste, weit südlich von Haifa.

Zu ihrer Rechten erstreckte sich der grünbraune Flickenteppich der Jesreel-Ebene, betupft mit roten und weißen Dächern: rot in den arabischen Dörfern, weiß in den israelischen Siedlungen. Links wie rechts lagen kleine Gehöfte inmitten von Olivenhainen. Am Horizont wuchs die Silhouette einer größeren Ortschaft empor.

Mit über 40 000 Einwohnern war Umm al-Fahm die zweitgrößte arabische Niederlassung auf israelischem Boden. Samiha war oft hier gewesen, als Gast der Freunde und Familien von jungen Männern, die sie als Anwältin betreute. Eine israelische Ortschaft war sie nur insoweit, als sie sich innerhalb der engen Grenzen des jüdischen Staates befand. In Wirklichkeit war Umm al-Fahm eine Brutstätte des islamischen Radikalismus. Israelis pflegten auf Grund von Übergriffen der Einwohner zu Beginn der zweiten Intifada einen Bogen darum zu machen. Der Krieg im Libanon hatte die Situation noch verschlimmert.

»Warum sind wir abgebogen?«, fragte Samiha den Fahrer. »Wir verlieren Zeit. Wir haben nicht die Erlaubnis, einen Umweg zu machen.«

Statt einer Antwort zuckte er mit den Schultern.

Sie begegneten zwei Polizeistreifen, wurden aber nicht kontrolliert. Ein Stück weiter, schon fast am Ortseingang, fuhr ziemlich schnell ein Jeep mit Soldaten der Grenzwache vorbei, und einen Moment lang fühlte Samiha, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. Warum wünschte sie sich nicht, angehalten zu werden, die Chance zu haben, sich selbst auszuliefern und einer Gefängnisstrafe entgegenzusehen statt dem Tod?

Zu spät. Der Zeitpunkt, noch etwas zu ändern, war vorhin gewesen, am Checkpoint, aber sie musste an ihre Kinder denken. Den Kindern eines Märtyrers wurden Privilegien eingeräumt, die Familie eines Märtyrers erhielt finanzielle Zuwendungen, mehr Geld, als die meisten Leute sich erträumten, eine Einmalzahlung in Höhe von 25 000 Dollar, plus lebenslang 330 Dollar monatlich.

Und nicht nur das: Mit ihrem Tod war die Familienehre wiederhergestellt, und Adnan und Nabil mussten nicht Zeit ihres Lebens unter der Schande ihrer Mutter leiden. Welche Wahl hatte sie also?

Sie gelangten in ein Labyrinth winkliger Gassen, durch das der Wagen sich tiefer und tiefer in das Herz des Ortes tastete, vorbei an einem kleinen Marktplatz und weiter durch ein unübersichtlich verschachteltes Wohnviertel.

»Wo bringst du mich hin?«, fragte sie.

Wieder gab er keine Antwort, doch gleich darauf erreichten sie eine breite, mit einem schweren Rolltor verschlossene Einfahrt. Der Fahrer hielt an, das Tor glitt in die Höhe, und sie fuhren hindurch, in den dahinter befindlichen kleinen Innenhof.

»Aussteigen«, befahl er. »Schnell.«

Eine Tür ging auf, und sie sah eine Frau mit Kopftuch, die ihr winkte, ins Haus zu kommen.

Hinter ihr schloss sich die Tür, und sie wurde eine Treppe hinaufbugsiert und in ein kleines Zimmer, wo eine Frau in ungefähr ihrem Alter auf einem Stuhl saß. Sie trug nur Unterwäsche: einen gefütterten BH und eine blickdichte Strumpfhose. Sie lächelte nicht, als Samiha hereinkam.

Die Frau, die Samiha eingelassen hatte, trat ebenfalls ins Zimmer und machte hinter sich die Tür zu. Samiha schätzte ihr Alter auf ungefähr vierzig Jahre; ihre Kleidung ließ keinen Zweifel an ihren religiösen Ansichten. Ihr Gesicht mochte einmal schön gewesen sein, aber Vernachlässigung und die von Unmutsfalten gefurchte Stirn verliehen ihm einen Ausdruck von Strenge und Verbitterung.

»Zieh deine Kleider aus«, ordnete sie an, »und gib sie Hiba. Auch den Gürtel. Sei vorsichtig, wenn du ihn abnimmst.«

»Ich verstehe nicht. Was hat das zu bedeuten?«

»Wir haben nicht viel Zeit«, fuhr ihr die Frau über den Mund. »Du gehörst nicht mehr zu dieser Mission. Hiba wird deinen Platz einnehmen. Sie wird an deiner Stelle an der Konferenz teilnehmen ...«

»Aber ...« Samiha nestelte an den Knöpfen der Kostümjacke.

»Hiba ist Hochschulabsolventin. Wie du spricht sie fließend Hebräisch. Sie wird sagen, du wärst im letzten Moment krank geworden, sie wird deine Papiere haben, und fünf Minuten nach Eröffnung der Konferenz wird sie den Gürtel zünden. Die Männer in jenem Saal sind alle an der Verfolgung palästinensischer Freiheitskämpfer beteiligt gewesen. Wir werden sie nicht vermissen.«

Samiha legte den Blazer auf einen freien Stuhl und öffnete den Reißverschluss des Rocks. Die Frau half ihr, den Sprengstoffgürtel abzunehmen. Hiba stand auf und befestigte ihn, wieder mit der Hilfe der Frau, um Taille und Oberschenkel. Er passte genau, ebenso der Blazer und der Rock. Ihr hatte man die gleiche Kurzhaarfrisur geschnitten wie Samiha. Sie ist recht hübsch, dachte Samiha. Hat sie Eltern, einen Mann, Kinder? Oder ist sie eine dieser Bräute des Himmels, die den Tod den Vergnügungen des Lebens vorziehen?

»Die Mission geht dich nichts mehr an«, fuhr die Frau fort. »Zieh das hier wieder an, und ich erkläre dir, wie es weitergeht.« Sie reichte ihr Rock und Jacke – diesmal nicht von Dior.

Samiha fröstelte. Was mochte man sich jetzt für sie ausgedacht haben? Sie stieg in den Rock und zog ihn über die Hüften.

»Du bekommst neue Papiere«, sagte die Frau. »Und einen neuen Namen. Du reist mit einem gefälschten amerikanischen Pass auf den Namen Samiha Brookes, eine Amerikanerin arabischer Herkunft, die sich beruflich in Haifa aufgehalten hat. Einzelheiten später. Ein anderes Auto bringt dich heute Abend nach Haifa, dort gehst du an Bord einer Fähre der Salamis Lines, die punkt 21.00 Uhr ablegt. Morgen früh um 8.00 Uhr bist du in Limassol. Man wird dich am Hafen erwarten und zum Lanarca Airport bringen. Von dort fliegst du mit Helios Airlines nach Kairo.«

»Kairo?«

»Unterbrich mich nicht. Am Flughafen in Kairo erwartet dich eine Frau. Ihr Name ist Fatima. Du brauchst dir nicht den Kopf zu zerbrechen, wie du sie findest, sie findet dich. Wie es danach mit dir weitergeht, weiß ich nicht, und es ist mir auch egal. Hier sind alle froh, wenn wir dich von hinten sehen.«

»Und wenn ich einfach auf Zypern bleibe?«

»Wird man dich töten. Und deine Kinder. Nun los – dein Taxi wartet unten.«

Das Schwert - Thriller
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