6
Der Engel des Todes

Esbekija

Kairo

Später am selben Nachmittag

Um halb vier langte Jack in der kleinen, im Viertel Esbekija gelegenen Buchhandlung an. Er stellte seinen Fiat in dem Parkhaus ab, das man auf dem Gelände der alten, im Jahr 1977 abgebrannten Oper errichtet hatte, und ging zu Fuß weiter in Richtung Maidan Ataba.

Man war gut beraten, beim Gehen auf die Löcher und Risse im Pflaster zu achten. Dieser Tage kam er nur aus zwei Gründen noch hierher: um bei Mehdi Mussa Bücher zu kaufen und wenn er Naomi zu einer Vorstellung des Puppentheaters begleitete, das sich an einer Ecke der alten Gärten von Esbekija etabliert hatte und regen Zulauf fand. Einst hatten die Gärten es an Schönheit mit jedem der Parks von Paris aufnehmen können, doch im Lauf der Jahre waren sie auf Grund von Nachlässigkeit verwildert, das Gras verdorrte, und schließlich wurde der größte Teil des Areals zubetoniert. Erhebliche Bereiche waren abgesperrt.

Die Rückseite von Mehdis Ladengewölbe, Dar al Kutub al Manar, lag in einem schmalen, hauptsächlich von Wohnhäusern gesäumten Sträßchen. Fenster gab es erst im zweiten Stockwerk, altmodische Gitter aus gedrehten Holzstäben, Maschrabijas, hinter denen die Frauen auf die Straße hinunterschauen konnten, ohne ihrerseits gesehen zu werden. Parterre versperrte ein nüchternes Holztor den Zugang zum Grundstück.

Zwei Jungen von ungefähr zehn Jahren, also etwa so alt wie Jacks Tochter Naomi, spielten Fußball mit einem zusammengeschnürten Bündel Lumpen. Einer der beiden zeigte echtes Geschick, und sein kleiner Freund, flink wie er war, hatte Mühe, ihm Paroli zu bieten.

»Für wen wollt ihr spielen, wenn ihr groß seid?«, fragte Jack. Jeder Junge in jeder Gasse, jeder abgerissene Bengel, der versuchte, einem ein Päckchen alte Marlboros aufzudrängen, jeder selbsternannte halbwüchsige Touristenführer bei den Pyramiden hegte einen einzigen Traum, nämlich Profi-Fußballer zu werden. Selbst in den heruntergekommensten Hinterhöfen widmete man sich hingebungsvoll dem herrlichen Spiel. Aus Ehrgeiz, aus Hunger, aus Verzweiflung.

»Zamalek«, rief der Junge zurück, ohne den Blick von dem Ball abzuwenden.

»Ich bin ein Fan von Ahly.« Jack lächelte. Der Junge schoss ein Tor, schniefte und zeigte ihm den ausgestreckten Mittelfinger.

»Warte ab, was am Samstag im Stadion passiert«, sagte Jack. »Ahly wird Zamalek eine Lektion erteilen. Ihr müsst aufpassen, was ihr neuer Trainer macht. Vingada. Er ist ein Genie. Ich erwarte große Dinge.«

»Ich kann mir das Spiel nicht anschauen«, antwortete der Junge. »Ich hab kein Geld, nicht fürs Stadion und für gar nichts. Verfluchter Ausländer, was denkst du? Ich bin noch nie da gewesen und komme auch nicht hin, außer man holt mich zu Zamalek.«

Jack griff spontan in die Tasche und zog ein Bündel Banknoten heraus, ägyptische Pfund.

»Hier.« Er drückte dem Jungen mit den goldenen Füßen das Geld in die Hand. »Das ist für euch beide. Für Eintrittskarten zum Spiel an diesem Samstag, vielleicht auch noch am nächsten, wenn ihr’s nicht für Süßigkeiten ausgebt. Wenn Zamalek gewinnt, kriegt ihr auch Tickets für die übernächste Woche. Wie heißt du?«

»Darsch.«

Jack nickte.

»Und du?«, wollte Darsch wissen.

»Ich? Ich heiße Jack. Na, ich muss weiter. Viel Spaß bei dem Spiel.«

Er ging an mehreren Türen vorbei bis zu der von Mehdi, einer schmalen, grün gestrichenen Pforte; dahinter führte eine ebenso schmale Treppe ins obere Stockwerk.

Mehdi erwartete ihn in einem Zimmer voller Bücher. Antiquarische Bücher, überwiegend Lithographien, und vielleicht hundert gebundene Handschriften.

Der Ägypter schien sich kaum verändert zu haben. Jack schätzte sein Alter auf irgendwo zwischen siebzig und neunzig, der alte Herr aber schien sich nicht danach richten zu wollen und sah so frisch und munter aus wie ein Sechzigjähriger. Er trug die traditionelle knöchellange Galabija und einen eng gewickelten Turban als Zeichen seiner Zugehörigkeit zu der Klasse gelehrter Männer und religiöser Führer. Bei Jacks Eintritt erhob er sich.

»Ahlan, ahlan. Willkommen. Wie geht es dir? Befindest du dich wohl? Wie ist das Befinden deiner Familie?«

Goodrich ergriff lächelnd die Hand des alten Herrn.

»Gott sei gelobt«, antwortete er. »Mir geht es gut. Meiner Frau geht es gut. Meiner Tochter geht es gut. Wie geht es dir?« Er unterließ es, sich nach Mehdis Frau und Familie zu erkundigen; damit hätte er sich einer groben Unhöflichkeit schuldig gemacht.

Nach der Begrüßung zog Jack die Schuhe aus und stellte sie beiseite. Der Buchhändler reichte ihm ein Paar leichte Pantoffeln, zum Schutz seiner erlesenen Perserteppiche.

»Ich habe frischen Tee zubereitet. Komm und trink eine Tasse. Du wirst durstig sein.«

Eine mit frischen Minzeblättern gefüllte Teekanne stand auf Mehdis Schreibtisch. Daneben wartete ein Teller mit kleinen süßen Kuchen.

Genau, was meiner Bauchspeicheldrüse fehlt, dachte Jack, die großen Klumpen weißen Zuckers vor Augen, die, wie er wusste, neben der Minze den Weg in die Kanne gefunden hatten.

Sie tranken aus persischen Teegläsern, selten und wertvoll. Mussas Großvater hatte sie – wie auch die Teppiche – von seinem guten Freund, dem persischen Botschafter, erhalten, in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts.

Die heiße Flüssigkeit mischte sich in Jacks Blutkreislauf und trieb seine Zuckerwerte in schwindelnde Höhen, gleichzeitig wirkte sie unglaublich beruhigend. Er merkte, dass er den ganzen Tag bereits unter einer starken inneren Anspannung gestanden hatte, lange bevor die erste Bombe hochging. Er und Emilia hatten sich gestern Abend gestritten, und das machte ihm zu schaffen. Er wusste nicht genau, ob wirklich alles wieder im Lot war. Bei Emilia konnte man nie ganz sicher sein. Irgendwann würden sich die Wolken verziehen, das stand fest. Sie liebten sich, und es gab kaum einmal Unstimmigkeiten zwischen ihnen, und wenn, dann nie für lange.

»Du kommst mir nachdenklich vor, mein Freund.« Mehdi schenkte Tee nach.

»Es tut mir leid. Diese Bombenattentate heute – ich mache mir Sorgen. Was, wenn sie die Botschaft angreifen, während Emilia dort ist? Wenn jemand sich in die Ewigkeit katapultiert, während Naomi vorbeigeht?«

Naomi war vor neun Jahren in London zur Welt gekommen. Neuerdings wuchs sie in einem rasanten Tempo von fünf Zentimetern pro Tag, wenigstens sah es so aus. Sie hatten sie in einer britischen Schule in Zamalek angemeldet, von ihrer Wohnung in Garden City aus nur ein kurzes Stück die Corniche hinunter. Heute war Jack an der Reihe, sie abzuholen: Sie hatte später als üblich Schluss, weil sie für ihre Musikprüfung üben musste, und es würde fast dunkel sein, bis sie fertig war. Vor einiger Zeit hatte sie beschlossen, Ud spielen zu lernen, ein Saiteninstrument und Vorläufer der Laute. Zur Freude und auch zum Erstaunen ihrer Eltern verwandelte ihr Kind sich in eine kleine Ägypterin. Sie sprach bereits fließend Arabisch und zu ihren Freunden gehörten mehr Ägypter als Briten oder Amerikaner. Doch ihre Herkunft und ihre helle Haut machten sie zu einem Ziel für Extremisten.

»Ich verstehe.« Mehdi nickte. »Wir alle sind besorgt. Das ist ganz natürlich. Aber sinnlos. Davon verschwinden die Bombenleger nicht.«

»Sollen wir herumlaufen und so tun, als wäre nichts?«

»Habe ich das gesagt? Jack, sicherlich erinnerst du dich an die Geschichte von Asrael, dem Engel des Todes, wie er auf dem Basar von Samarkand einem Mann mit Namen Abu Hamsa begegnete? Der Mann sah ihn und erschauerte, als der Engel sich umwandte und ihn anschaute, mit einem Blick, der jedem Menschen das Blut in den Adern hätte stocken lassen.

Doch zu Abu Hamsas Erstaunen wandte der Engel sich wieder ab und setzte seinen Weg fort.

Später am selben Tage traf Abu Hamsa, als er auf der Straße fürbass ging, einen Dschinn, und der Dschinn fragte ihn, wohin er gebracht zu werden wünschte. Er antwortete darauf ›Bagdad‹, weil er nämlich hoffte, zum einen dem Todesboten zu entschlüpfen und zum anderen das lebhafte Treiben in der Stadt des Herrschers zu genießen. Im Nu fand er sich im prächtigen Thronsaal des Kalifen Harun wieder, aber wen sah er neben dem Thron stehen und ihn verlangend betrachten, als wiederum den Engel des Todes, Asrael mit dem schwarzen Antlitz?«

Jack vollendete die ihm seit langem bekannte Geschichte: »Und der Engel näherte sich Abu Hamsa und sagte zu ihm: ›Ich war erstaunt, dich heute Morgen in Samarkand zu treffen, Gott hatte mir doch aufgetragen, an diesem Abend in Bagdad nach dir auszuschauen ...‹«

Mehdi lächelte und leerte sein Glas. Er stellte es auf den Intarsientisch und seufzte.

»Nun wohl«, sagte er, »ich möchte dir etwas zeigen.«

»Aber ich habe nicht viel Zeit«, antwortete Jack. »In ungefähr einer Stunde muss ich Naomi von der Schule abholen.«

Mehdi zog eine kleine hölzerne Gebetskette aus der Tasche und begann, eine Perle nach der anderen über den Zeigefinger zu schieben. Er ist wegen etwas beunruhigt, dachte Jack. Einige Minuten lang herrschte Schweigen im Raum.

»Jack«, sagte der alte Herr endlich, »sag mir, was würdest du geben für einen Fund, welcher die Krönung deiner Laufbahn wäre? Mehr als das, für einen Fund, der geeignet wäre, die halbe Welt in Aufruhr zu stürzen und sie vielleicht zu verändern?«

Jack lachte, ein wenig nervös.

»Den sprichwörtlichen Arm und ein Bein. Oder vielleicht nur meinen rechten Arm. Oder einige Jahre meines Lebens möglicherweise. Wenn ich reich wäre, dann würde ich dir jeden Preis zahlen, den du forderst. Welchen Wert soll diese Entdeckung denn haben?«

Mehdi ging auf seinen leichten Ton nicht ein.

»Wenn du siehst, was ich dir zeigen will, wirst du begreifen. Ich habe dir die Frage zu früh gestellt, aber ich wollte erfahren, was du bereit wärst aufzugeben, was du opfern würdest. Denn opfern wirst du etwas müssen. In Geld lässt sich der Wert dieses Gegenstandes nicht messen. Darüber brauchen wir nicht zu sprechen. Jedoch könnte er dich alles andere kosten: deine Karriere, deine Familie, deinen Unglauben, was immer dir am Herzen liegt. Du bist der einzige Ungläubige, zu dem ich je diese Dinge sagen würde. Das ist der Grund, weshalb ich dich ausgewählt habe. Aber du bist nicht verpflichtet, ja zu sagen.«

Jack starrte seinen Freund an.

»Was hast du denn ausgegraben? Das Originalmanuskript von Tausendundeinernacht

Mehdi zuckte die Schultern.

»Warte, bis du es mit eigenen Augen gesehen hast«, meinte er. »Sei so gut und begleite mich.«

Das Schwert - Thriller
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