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Anwärter auf das Paradies
Georginas Wohnung
Früh am Morgen
Die Rückfahrt dauerte nicht lange. Die ganze Zeit wurde im Wagen kein Wort gesprochen. Selim fragte nicht, wer seine Entführer waren, wo man ihn hinbrachte oder was man mit ihm vorhatte. Sie sehen aus wie Lumpensammler, dachte er, dazu passte allerdings nicht, dass die beiden Frauen atemberaubend schön waren, und der Mann war keinesfalls ein Ägypter. Dass der Überfall auf ihn irgendwie mit der Konferenz zusammenhing, stand für ihn fest. Dass er selbst vielleicht nur noch wenige Stunden zu leben hatte, auch daran hegte er keinen Zweifel. Er war ein stolzer Mann, und der einzige Fleck auf seiner weißen Weste als öffentliche Person war diese außereheliche Beziehung zu seiner Geliebten, für die er eine unsinnige Zuneigung empfand. Garantiert ging es ihnen darum, die Sicherheitsvorkehrungen bei der Konferenz zu überwinden. Zu seinem eigenen Erstaunen war er sofort fest entschlossen, sein Land nicht zu verraten, das gerade jetzt an der Schwelle eines historischen Durchbruchs stand. Auch wenn sie ihn folterten, nahm er sich vor, würde er schweigen.
Sie folterten ihn nicht. Stattdessen stellten sie sich ihm mit Namen vor und versicherten, dass er nichts von ihnen zu befürchten habe.
»Wir wollen nichts weiter«, sagte der Mann, »als mit Ihnen reden. Ihnen etwas erklären, ganz genau und in Ruhe. Dann können Sie gehen, wenn Sie es wollen. Wir werden Sie nicht aufhalten.«
»Das sagen Sie, Professor?«, fragte Selim. »Während Ihr Name in allen Zeitungen steht? Während die Hälfte aller Polizisten Kairos in diesem Augenblick Jagd auf Sie macht? Sie haben Ihre Frau getötet, Ihre Tochter, Ihre eigenen Eltern, zwei einheimische Kinder und sechs Männer in einer Kirche – und wenn ich mich recht erinnere, sind das längst nicht alle Morde, die man Ihnen zur Last legt. Weshalb sollte ich Ihnen glauben, wenn Sie mir erzählen, ich hätte nichts zu befürchten? Verkaufen Sie mich nicht für dumm!«
»Ich habe Sie nicht hergebracht, um Sie von meiner Unschuld zu überzeugen. Der Grund für Ihre Entführung ist ungleich wichtiger. Sie sind unsere einzige Hoffnung, eine furchtbare Katastrophe abzuwenden. Kochen wir Kaffee. Dies wird eine lange Nacht.«
Chalid Selim war nicht leicht zu überzeugen. Er war zu lange in Ägyptens kompromisslosen Sicherheitsdiensten tätig gewesen, unter einer Reihe von Präsidenten, und die Lügengeschichten und Verschwörungstheorien, die er in diesen vielen Jahren gehört hatte, reichten allein, um mehrere Bände zu füllen, sollte er sich je entschließen, seine Memoiren zu schreiben. Über eine Stunde lang hielt er stur an seiner Überzeugung fest, die ganze Sache wäre ein Trick, um Goodrichs Kopf aus der Schlinge zu ziehen, um seine Verbrechen einer nebulösen Gruppe islamischer Terroristen unterzuschieben.
Das Märchen von dem Schwert war ziemlich clever, gestand er sich widerwillig ein, aber höchst unwahrscheinlich. Falls es ein Schwert gab, war es eine Fälschung, konnte nur eine Fälschung sein. Obwohl er, zugegeben, kein Experte in diesen Dingen war. Und dann stieg plötzlich aus seinem Unterbewusstsein eine lange verschüttete Erinnerung: Im Lauf eines hektischen Tages irgendwann war ihm ein Bericht über ein Schwert untergekommen. Wie lange war das her? Sechs Monate? Ja, jetzt wusste er es wieder: Ein Scheich der Al-Aschar-Universität hatte nach dem Verbleib eines Schwertes geforscht, einer Reliquie, wahrscheinlich von einer Bande auf Kunstgegenstände spezialisierter Schmuggler nach Kairo gebracht, Leuten, die mit gestohlenen Antiquitäten handelten. Das Schwert hatte im Keller des Archäologischen Museums Bagdads vor sich hin gemodert und gehörte zu den mehreren Tausend Objekten, die bei der Plünderung nach der Invasion der Amerikaner 2003 von dort verschwunden waren. Der Bericht stammte aus dem für Antiquitätenschmuggel zuständigen Kommissariat und war an ihn weitergeleitet worden, weil gelegentlich Verbindungen zwischen Schmugglern und Terroristen bestanden. Er hatte ihn gelesen und vergessen. Bis jetzt.
Von diesem Moment an hörte er aufmerksamer auf das, was man ihm erzählte. Alles wäre einfacher, überlegte er, wenn er es nur mit den drei Frauen zu tun gehabt hätte. Goodrich, in seinen Augen nach wie vor ein kaltblütiger Mörder, war das Haar in der Suppe.
Er erinnerte sich an Dschamila Lochud, keine Frage. Auch wenn er ihr nur einige Male begegnet war, ihr Gesicht hatte er nicht vergessen. Mehr als einmal war ihm in den Sinn gekommen, sie ... Er lächelte in sich hinein und bemühte sich, die alten Gelüste zu unterdrücken, die das Wiedersehen in ihm erweckt hatte. Was ihn wirklich beschäftigte, war die Frage, warum eine Frau wie sie sich überhaupt auf ein schäbiges Unternehmen wie dieses eingelassen hatte. Ob sie Goodrichs Geliebte war? Hatte der Professor sich ihretwegen seiner Frau entledigt?
Das aber erklärte nicht, weshalb eine Frau aus dem britischen Konsulat ihre Karriere und – gut möglich – ihr Leben aufs Spiel setzte. Die dritte Frau, Samiha, gab ihm das größte Rätsel auf. Er erkannte ihren Akzent: Palästinensisch, unüberhörbar, aber welche Rolle spielte sie bei dem Ganzen?
Goodrich redete von der Gruppe, die sich die Waffe verschafft hatte, von dem Bunker und der Möglichkeit, dass man ihn als Zufluchtsort vor dem Fall-out der atomaren Explosion geplant hatte.
»Sie haben mir noch nicht gesagt, wie diese Gruppe sich nennt«, sagte Selim.
»Die Ahl al-Dschanna.«
»Ja, das kommt mir bekannt vor. Einige unserer Informanten haben sie erwähnt. Nach meiner Meinung handelt es sich um einen Haufen zuspätgekommener Spinner, und ich kann nicht glauben, dass sie auch nur im Entferntesten fähig wären, einen solchen Anschlag zu planen und auszuführen, ganz zu schweigen davon, dass Kalifat neu zu errichten und die Nachfolge Osama bin Ladens anzutreten. Wissen Sie, wie der Anführer heißt?«
Samiha antwortete, und der besondere Ton in ihrer Stimme verriet, dass sie aus persönlicher Erfahrung sprach.
»Er heißt Mohammed«, sagte sie. »Mohammed al-Masri. Er hat einen Bruder namens Raschid, der die Drecksarbeit für ihn erledigt. Raschid hat den Überfall auf die Kirche in Schubra al-Chaima geleitet. Raschid hat Jacks Frau getötet und seine Tochter gekidnapped.«
Sie verstummte. Selim war blass geworden.
»Sie hätten mir gleich zu Anfang seinen Namen sagen sollen«, meinte er. Er dachte immer noch mit schwelendem Zorn an den Schusswechsel in Schubra vor ein paar Monaten. Seine Abteilung hatte einige gute Männer verloren, und er musste eine Rüge des Ministers hinnehmen, als sich herausstellte, dass die al-Masri-Brüder entkommen waren.
»Erzählen Sie mir Genaueres über diese Mini-Nuke«, sagte er.
Als Samiha vortrug, was sie an Hintergrundinformationen über die Waffe gesammelt hatte, die in den neunziger Jahren in Kasachstan verschwunden war, fühlte er sich endlich auf vertrautem Gebiet. Er wusste seit langem von ähnlichen Machenschaften im Zusammenhang mit al-Qaida, und Samihas Bericht über den Diebstahl der Bombe in Tschetschenien und ihrem Transport auf dem Luftweg von Afghanistan über Deutschland nach Ägypten klang ebenfalls realistisch und wahr. Nur wenige wussten von derartigen Vorgängen, und die Details konnte die Palästinenserin nicht in einer Zeitung oder im Internet aufgestöbert haben.
Was Samiha schließlich über die geheimen Materiallieferungen aus dem Iran erzählte, überzeugte ihn endgültig. Gewöhnliche Schwindler verfügten nicht über solche bis in die Einzelheiten gehenden Informationen. Zum Beispiel hatte Samiha gesagt, dass die Ahl al-Dschanna ihre Bombe nicht von Grund auf selbst hergestellt hatten, sondern auf eine russische zurückgriffen, die von tschetschenischen Rebellen stammte.
Russische Bomben dieser Größe besaßen eine typische Eigenheit: Sie mussten regelmäßig gewartet werden. Geschah das nicht, nahm ihre Sprengkraft stetig ab, bis sie zum Schluss unbrauchbar wurden. »Regelmäßig« hieß so viel wie »alle sechs Monate«, inklusive Austausch des Tritiums. Nach Samihas Angaben hatten die aus Isfahan kommenden Flugzeuge Tritium transportiert.
Bei kaum einer Verschwörungstheorie passte alles so lückenlos zusammen. Überdies konnte man sich schwer vorstellen, in welcher Weise es für Goodrich in seiner Situation hilfreich sein sollte, wenn er mit viel Mühe ein Lügengebäude konstruierte, das in wenigen Stunden zwangsläufig in sich zusammenbrechen musste.
Der halbe Nacht verging, bevor Selim nickte und sich geschlagen gab.
»Mehr brauche ich nicht zu wissen«, sagte er. »Sie haben mich überzeugt. Ich werde eine neue Sicherheitsüberprüfung veranlassen, sofort, noch vor der Eröffnungsfeier. Jetzt habe ich etwas Konkretes, wonach ich meine Leute suchen lassen kann. Sollte sich herausstellen, dass Sie mir doch einen Bären aufgebunden haben, machen Sie sich auf unangenehme Folgen gefasst. Sie kommen mit mir nach Giseh und bleiben auf dem Gelände, bis wir diese Bombe finden oder sie explodiert. Gibt es keine Explosion und keine Bombe, sorge ich persönlich dafür, dass Sie alle der Polizei übergeben werden. Auf Entführung eines Staatsbeamten steht die Todesstrafe. Dschamila dürfte eine Vorstellung davon haben, was drei attraktiven weiblichen Gefangenen zustoßen kann, bevor sie schließlich gehängt werden. Was Sie angeht, Professor, seien Sie versichert, dass man Sie nicht an Großbritannien ausliefern wird, sondern nach ägyptischem Gesetz zum Tode verurteilen, für so viele Morde, wie ich Ihnen irgend anlasten kann. Auch wenn einer natürlich schon ausreichend wäre. Hoffen wir einfach, dass Sie die Wahrheit gesagt haben.«
Er lächelte, aber die anderen sahen keinen Grund zur Heiterkeit.
»Können wir darauf vertrauen, dass man uns nicht in Handschellen legt, sobald wir einen Fuß nach Giseh hineingesetzt haben«, fragte Georgina, die nicht genau wusste, wie es im vorliegenden Fall um ihre diplomatische Immunität bestellt war.
Selim schaute sie an.
»Das können Sie nicht. Keiner von uns kann dem anderen vertrauen. Nicht restlos. Aber ich denke, Sie haben Ihre Sache überzeugend dargelegt, und das Ausmaß der Gefahr rechtfertigt Ihr Handeln. Vor dem Betreten des Plateaus wird man Sie durchsuchen. Ich kann Sie nicht bewaffnet aufs Gelände lassen. Sobald Sie Ihre Schusswaffen abgegeben haben, dürfen Sie sich an der Suche nach der Bombe beteiligen. Ich habe vor, die Absperrungen dicht zu machen und Verstärkung anzufordern.«
»Wären Sie bereit, die Eröffnungsfeier abzusagen und die Staatsoberhäupter zu evakuieren, falls wir nichts finden?«, erkundigte sich Jack.
Selim schüttelte bedächtig den Kopf. Er hatte denselben Gedanken gehabt.
»Nur der Präsident kann diese Anordnung treffen. Ich könnte zu ihm gehen, aber bis ich ihn überzeugt habe, sind wir alle tot. Die Feier beginnt um 9.00 Uhr. Vergeuden wir keine Zeit mehr. Je früher wir mit der Suche anfangen, desto besser.«