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In der Siegreichen Stadt
Zwei Monate zuvor.
Kairo, Ägypten
Montag, 18. September
14.05 Uhr
Kairo war heiß und stickig, in der Luft hing der Staub der Wüste, die lehmgelben Fluten des Nil wälzten sich träge durch ihr Bett. Von Norden nach Süden, von Osten nach Westen waberte über der riesigen Stadt eine Kakophonie aus dem Tosen der Menschen- und Automassen, heiserem Eselsgeschrei, knatternden Motorrädern und den krächzenden Lautsprechern von fünfzehntausend Moscheen. Dies war die größte Stadt in ganz Afrika; was die Bevölkerungsdichte anging, stand sie an dreizehnter Stelle unter den Städten der Welt. Fünfzehn Millionen Menschen drängten sich auf den beiden schmalen Uferstreifen des Nils.
Jack Goodrich war Engländer, nominell Mitglied der anglikanischen Kirche und Absolvent des King’s College in Cambridge, doch seit vielen Jahren betrachtete er sich als einen von diesen fünfzehn Millionen, einen Bürger dieser lebensprallen Metropolis. Kairo war ohrenbetäubend, dreckig, übelriechend, heiß, staubig und ungepflegt, doch er liebte dieses geballte urbane Chaos mit beinahe religiöser Inbrunst.
Er hatte kaum in dem abgewetzten Ledersessel des Bartscherers Platz genommen, als die erste Bombe hochging. Der Barbier, ein geschäftstüchtiger Mann in mittleren Jahren namens Al Hamid, fluchte leise in irischer Sprache, pog ma hon. Das alte Fluchwort hatte ihm vor vielen Jahren ein irischer Professor beigebracht, mit der Garantie, dass 99,9% der restlichen Erdbevölkerung keine Ahnung haben würde, was es hieß.
Jack als Engländer und berühmt für seinen stoischen Gleichmut, ignorierte die Bemerkung. Er wusste natürlich, was es bedeutete, pog ma hon, wie jeder an der Universität, doch hatte er es sich Ali gegenüber nie anmerken lassen.
»Was zum Henker war das?«, rief er.
Ali, der Inhaber des kleinen Barbierladens in der Nähe der Amerikanischen Universität, zog es vor, nicht über die Bombenanschläge nachzudenken, die seit Monaten die Stadt immer wieder in Angst und Schrecken versetzten. Sie waren schlecht fürs Geschäft.
»Das war woanders, nicht hier«, beruhigte er seinen Kunden, aber sie wussten beide, dass es überall gewesen sein konnte: eine kleine Bombe in der Nähe, eine große Bombe weiter weg und eine beliebige Anzahl von Kombinationen dazwischen. Vielleicht hatte ein Selbstmordattentäter sich das Paradies verdient, oder man hatte per Fernzündung ein Auto in die Luft gesprengt.
Gleichmut hin oder her, Goodrich hatte Angst. Seine größte Sorge war, der Anschlag könnte der amerikanischen oder britischen Botschaft gegolten haben, beide ganz in der Nähe, gleich gegenüber am anderen Flussufer. Seine Frau arbeitete als Sekretärin in der britischen Botschaft. Seit sie in Kairo lebten, quälte beide Goodrichs eine gemeinsame, stets präsente Befürchtung – dass der eine oder der andere einem Terroranschlag zum Opfer fallen könnte, entweder sie in der Botschaft oder er in der Universität.
»Bleiben Sie hier, Professor«, meinte Ali. »Die Bombe kann überall hochgegangen sein. Es ist zu früh für Nachrichten, aber ich lasse das Radio an, für die ersten Eilmeldungen.«
Er redete Arabisch mit diesem Kunden, die in Ägypten gebräuchliche Variante, die Goodrich so umfassend beherrschte, wie einem Ausländer irgend möglich. Im Lauf der Jahre hatte er beim Haareschneiden und Rasieren in Alis Barbierstube mehr Kairo-Arabisch gelernt, als in dem seinerzeit vom Fachbereich angebotenen, kostenpflichtigen Sprachkurs.
Ali hatte sich in Positur gestellt, den Rasierpinsel in der erhobenen Hand, bereit, ans Werk zu gehen. Er war die Primadonna unter den Barbieren, falls es so etwas gibt. Auf einer Bühne wäre er stolziert. Der Rasierschaum umschmiegte den Pinsel wie ein üppiger Klecks glatt und glänzend geschlagener Sahne. Goodrich schüttelte den Kopf.
»Ich versuche anzurufen. Wenn sie drangeht, ist alles in Ordnung.«
In der letzten Woche hatte es mehrere Anschläge gegeben, die meisten gegen ausländische Ziele gerichtet.
Er nahm sein Handy heraus und wählte. Nichts. Er schaute auf den Signalbalken.
»Ali, was soll das? Ich habe ein Netz gegenüber auf dem Universitätsgelände. Ich habe ein Netz nebenan, im Café Faruk ...«
Ali zuckte die Schultern.
»Das ist doch jedes Mal so«, sagte er. »Sie müssen Geduld haben.«
Er beugte sich vor und schaltete das Radio aus.
»Versuchen Sie es jetzt.«
Diesmal klingelte es, und Emilia meldete sich.
»Liebe Güte, Jack. Hier ist gar nichts passiert. Die Explosion war am anderen Ufer, beim Englisch-Amerikanischen Krankenhaus. Wir warten noch auf einen Bericht über die Opfer.«
»Arbeitet Dr. Fathi nicht dort?«
»Ja, und seine Frau ebenfalls, als Krankenschwester. Jack, das geht nicht so weiter mit deinen Panikanrufen. Jedes Mal, wenn in Kairo eine Bombe hochgeht, klingeln hier sämtliche Telefone wie wild. Du solltest mittlerweile wissen, dass dies hier einer der sichersten Orte im ganzen Mittleren Osten ist. Mogadischu und der Libanon und Bagdad sind uns eine Lehre gewesen.«
»Ich mache mir eben Sorgen, weiter nichts. Und geh mir weg damit, wie sicher die Botschaft ist, oder wie viel eure Leute in Beirut gelernt haben. Ein Selbstmordattentäter kommt überallhin, wo er hin will, wenn er es will.«
»Irgendwann musst du mal probieren, an unseren Sicherheitsposten vorbeizukommen, dann wirst du schon sehen. Übrigens, solltest du nicht arbeiten?«
»Ich bin bei Ali und lasse mich rasieren.«
Emilia kannte Ali nicht. Die kleine Barbierstube war ausschließlich männliches Territorium.
»Dann sag ihm, er soll etwas weniger großzügig mit seinem Rasierwasser umgehen.«
»Warum?«
»Wenn du Glück hast, erfährst du’s heute Abend. Jetzt möchte mein Chef mir etwas diktieren.«
Sie legte auf. Jack drückte die »Beenden«-Taste an seinem Handy und steckte es zurück in die Tasche.
Ali glättete den gestreiften Frisierumhang, den er Jack umgelegt hatte, und schlug noch einmal frischen Schaum in seiner alten, gesprungenen Tasse. Niemand verstand sich aufs Einschäumen wie Ali. Goodrich hatte ihm einmal empfohlen, sich einen Dachshaarpinsel zuzulegen, aber der Barbier hatte freundlich erklärt, Dachse wären nach religiösen Gesetzen unrein, was bedeutete, man durfte sie weder verzehren noch berühren.
Auf seine Weise war Ali gläubig. Er betete fünfmal am Tag, fastete während des Ramadan, ging am Freitagmittag in die Moschee des Viertels und lauschte dösend der Predigt. Und was das Wichtigste war, er unternahm alle drei oder vier Jahre eine Pilgerfahrt – nicht nach Mekka (das sparte er sich für den Ruhestand auf), sondern zum alljährlich stattfindenden Mulid-Fest am Grabmal des großen ägyptischen Heiligen, Sidi Achmad al-Badawi.
Er zog mit hingebungsvoller Ausdauer die Klinge des Rasiermessers an dem Riemen ab, der allein seinem Gebrauch vorbehalten war. Erst wenn die Schneide perfekt war, pflegte er mit einer Rasur zu beginnen. Das gefiel ihm am besten an seinem Beruf: dass seine Kunden ihm vertrauten. In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten von ihnen Lehrer an der Amerikanischen Universität waren, überwiegend US-Amerikaner und Briten, konnte er sich auf dieses Vertrauen einiges zugutehalten. In Algerien hatten die religiösen Eiferer das Durchschneiden von Kehlen zu ihrem Markenzeichen gemacht. Und nicht nur die Fremden lebten gefährlich. In Bagdad mussten Barbiere, die Ungläubigen den Bart schoren, damit rechnen, dass man auch ihnen die Kehle aufschlitzte.
Als Ali sich daran machte, die Stoppeln von Goodrichs Wangen zu schaben, kam in den Radionachrichten die Meldung, im Carrefour Supermarkt hätte es eine Explosion gegeben, in der Maadi Mall im Süden der Stadt. Momentan gäbe es noch keine genaueren Informationen. In der folgenden Stille hörte man draußen nah und fern die Sirenen von Polizei, Ambulanz und Feuerwehr. Dies war die größte Stadt Afrikas, aber jedes Mal, wenn der Chor der Sirenen ertönte, schien sie auf eine Handvoll Straßen und Gassen zusammenzuschrumpfen.