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Der Ägypter
Das al-Manar Gebetshaus
Ischak Allee
Imbaba
Kairo
Montag, 18. September
15.00 Uhr
In den Straßen spielten Kinder auf Müllbergen. In provisorischen Wohnblocks aus Lehm und Backstein hausten Familien zu dreißig Personen in einem Zimmer, und in den engen, von Gestank und Verwesung erfüllten Gassen, war der Boden in ständiger Bewegung, wie Treibsand, und schillerte von den Leibern von zehn Millionen Fliegen. Wenn es still war, sangen ihre Flügel ein Lied, ein trauriges Lied von Elend und Verwahrlosung. Dicker schwarzer Qualm aus nahe gelegenen Fabriken durchwaberte die glutheiße Luft. Imbaba war eine Bruststätte für Krankheiten. Krankheiten und Religiosität.
In den 90er Jahren war Imbaba ein Staat im Staate gewesen. Spaßvögel nannten es die Islamische Republik Imbaba und waren damit gar nicht weit von der Wahrheit entfernt. In dem unübersichtlichen Labyrinth der kaum fertiggestellt, schon vom Verfall gezeichneten Häuser und oft genug ins Leere laufenden, schmalen Straßen, bildeten radikale Islamisten die Regierung, sprachen Recht nach den strengen Regeln des Koran, belegten Christen mit Steuern, bestraften Kriminelle und speisten die Armen. Es hatte ausgesehen, als wären sie unantastbar. Dann hatten die Sicherheitskräfte zugeschlagen und sie in einer Serie rasch aufeinanderfolgender Razzien aus den Verstecken getrieben, jeden Mann mit langem Bart und kahl rasiertem Kopf verhaftet, jede dicht verschleierte Frau, und ins Gefängnis geworfen, um dort zu verrotten oder gefoltert zu werden.
Heute, mehr als zehn Jahre danach, waren sie wieder da, doch anders als vorher. Diese neuen militanten Gruppen waren schlau. Sie benutzten Handy und Laptop, sie hatten überall ihre Spione, und sie agierten hinter den Kulissen. Ihr Ehrgeiz beschränkte sich nicht darauf, in Imbaba das Sagen zu haben, sie strebten die Weltherrschaft an. Sie organisierten sich in Zellen und verrichteten ihre Arbeit in aller Stille; sie rekrutierten nur die Ergebensten, bestraften Ungehorsam und Verrat mit dem sofortigen Tod. Jeden Freitag versammelten sie sich in kleinen Zimmern zum Gebet, geschützt vor neugierigen Blicken. Zu anderen Zwecken trafen sie sich an geheimen Orten, die nur durch ein Labyrinth stinkender Gassen zu erreichen waren oder durch Gänge tief unter der Erde.
Wie zum Beispiel dieser Gebetsraum in einem am Ende einer Sackgasse gelegenen Wohnhauskomplex namens Haij Fatima. Die ganze Wohnung war das Hauptquartier einer Zelle der kleinen, aber gefährlichen Organisation mit dem schlichten Namen al-Dschaisch: Die Armee. Die Wände waren dünn, man hörte die Geräusche aus den Wohnungen in den oberen Stockwerken – Babygeschrei, ein streitendes Ehepaar, das Radio eines Teenagers. Von der Straße drang das Knattern eines Mopeds herein, dann das Rufen von Jungen, die nach dem Unterricht in der Koranschule nach Hause rannten. Ein paar hatten bereits einen Ball aus Lumpen gefunden und kickten ihn zwischen sich hin und her.
Neun Männer hockten im Kreis auf dem billigen Teppichboden, mit dem der Raum ausgelegt war. Ihre äußere Erscheinung wirkte ärmlich, doch anders als bei so vielen, die ebenfalls in Armut lebten, war ihre Kleidung fleckenlos, der Bart sauber gestutzt, der Kopf frisch geschoren. Männer wie diese übten sich in Bedürfnislosigkeit, gleich dem Propheten, der auf einer Strohmatte schlief, sich von einer Handvoll Datteln täglich ernährte und seinen Durst mit Wasser stillte. Sie wollten sein wie er. Er war ihr Vorbild in allem. Ihre Verehrung für ihn war grenzenlos. Sie hatten feierliche Eide geschworen, seine Ehre mit ihrem Leben zu verteidigen.
Ein Mann stach unter den anderen hervor. Er war gekleidet wie sie, er trug Haar und Bart wie sie und hielt wie sie eine Gebetskette aus Plastik in der rechten Hand. Und doch war er anders. Man sah auf den ersten Blick, dass er ihr Anführer war. Es zeigte sich in seinen Augen, in dem Zug um seinen Mund, in seiner aufrechten Haltung, in der Ruhe, die er ausstrahlte. Seine Finger spielten nicht mit den Perlen, wie es bei einigen anderen im Kreis zu beobachten war. Er rutschte nicht unruhig hin und her. Seine Reglosigkeit glich der marmornen Starre eines Standbilds. Allein seine Augen bewegten sich, und sie bewegten sich langsam, musterten der Reihe nach jeden Einzelnen, als wäre er einer der beiden Engel, die kommen, um den Verstorbenen im seinem Grabe zu befragen.
Er zählte vierzig Jahre, und sein Gesicht trug die Spuren eines Lebens als Kämpfer für al-Qaida in Afghanistan und Irak. Er hieß Mohammed wie der Prophet, und sein Familienname lautete al-Masri: Der Ägypter. Mohammed der Ägypter. Jedermann. Ein ganz einfacher Name. Jedoch kein einfacher Mann.
Ungeachtet seines Namens war Mohammed al-Masri nicht irgendjemand, wie Dokumente, seit Jahrhunderten im Besitz seiner Familie, bezeugten. Er war ein lebender Nachkomme des letzten großen Kalifen aus dem Geschlecht der Abbasiden, den Herrschern aus Tausendundeinernacht, deren Palast in Bagdad einst das Staunen der Welt gewesen war. Mohammeds Vorfahre wurde von den Mongolen getötet, als sie 1258 Bagdad eroberten. Man ließ ihn, eingerollt in einen Teppich, von Pferden zerstampfen, so dass die abergläubischen Eroberer von sich sagen konnten, sie hätten nicht das Blut eines Königs vergossen.
Nur einer aus der Familie des Kalifen, ein Knabe, Achmad, war dem Morden und der Zerstörung entkommen. Achmad floh aus der brennenden Stadt des Friedens und machte sich auf nach Kairo, mit sich führte er Dokumente, den Nachweis seiner Herkunft. Diese selben Schriftstücke hatte al-Masri von seinem Vater erhalten, kurz vor dessen Tod vor einigen Jahren. Darunter befand sich ein von Achmad handschriftlich verfasstes Testament, worin er seinen Sohn zum nächsten Kalifen bestimmte und danach dessen Söhne in direkter Linie, bis endlich Allah das Ende der Welt beschließt.
In seinen Augen und denen seiner Getreuen war Mohammed ein wahrer Führer des Islam, welcher berufen war, das Kalifat wiederzuerrichten und den letzten Dschihad gegen den ungläubigen Westen auszurufen. Er würde zu Ende bringen, was der Prophet im siebten Jahrhundert begonnen hatte, nämlich sämtliche Nationen unter der Herrschaft des einen Gottes zu vereinen.
Eins fehlte ihm noch, ein bestimmter Gegenstand, den er in seinem Besitz haben musste, bevor er es wagen konnte, aus dem Schatten zu treten, sich zu offenbaren und die Muslime der ganzen Welt aufzurufen, ihn in seiner heiligen Mission zu unterstützen. Er wusste seit Jahren von der Existenz dieses besonderen Gegenstands, und seit kurzem glaubte er auch zu wissen, wo er zu finden sein könnte. Er schloss die Augen, murmelte ein kurzes Gebet und öffnete sie wieder. »Gott sei gelobt«, begann er. »Einundsechzig Tote gab es bei den Explosionen heute. Jeder unserer Märtyrer hat Ungläubige mit sich genommen. Die Ungläubigen sind in die Dschahannam hinabgestürzt, den tiefsten Abgrund der Hölle. Die Märtyrer sind aufgefahren ins Paradies, wo sie Wein trinken, der nicht berauscht, und sie ergötzen sich an Jungfrauen mit einer Haut wie goldener Honig.«
»Allahu akbar!«, riefen die Versammelten, »Gott ist größer.« Einer der Märtyrer, der sechzehnjährige Hamid, war von ihrer Zelle rekrutiert worden, dem harten Kern der Bewegung. Für seine Familie war gesorgt. Al-Masris Gefolgsleute mochten bettelarm aussehen, sie trafen sich vielleicht in einer schäbigen Kammer in einem Slum, sie setzten vielleicht Besitzlosigkeit gleich mit Gottgefälligkeit, aber die Organisation hatte wohlhabende Gönner, fromme Männer und Frauen, die es sich leisten konnten, eine auf lange Sicht angelegte Terrorismuskampagne zu finanzieren. Der Koran fordert die Gläubigen auf, in den Heiligen Krieg zu ziehen, aber nicht nur das, er verlangt auch, dass sie ihre irdischen Güter hergeben, um anderen zu ermöglichen, sich dem Kampf anzuschließen.
»Aber Gott erwartet mehr von uns als dies. Die Amerikaner, die Juden, die Kreuzfahrer allerorten werfen immer noch ihren Schatten auf die Gläubigen. Hier einige auszumerzen und einige dort ist nicht genug. Die Zwillingstürme zu zerstören war nicht genug. Wir müssen einen Schlag führen, der sie in die Knie zwingt. Wir müssen ihre Städte dem Erdboden gleichmachen, so wie Gott Sodom und Gomorrah vernichtet hat. Wir müssen ihre Könige und Präsidenten in das Reich Satans stürzen. Bald wird die Zeit gekommen sein, meine Freunde. Ihr werdet es mit eigenen Augen sehen.«
Er lächelte, und wenn er das tat, verwandelte ein Strahlen den strengen Ernst seines Gesichts. Es war nicht das Lächeln eines Politikers. Es war ohne Falsch. Es entwaffnete mit seiner Offenheit, seiner ungeheuchelten Aufrichtigkeit. Mohammed al-Masri war eben deshalb gefährlich, weil er nicht das Wesen eines Politikers besaß. Er würde niemals Kompromisse machen, nie verhandeln, nie versprechen, was er nicht auch halten konnte.
»Jetzt«, sagte er, »erstattet mir Bericht.«
Einer nach dem anderen legten die Anwesenden Rechenschaft ab über die Arbeit der Abteilung, der sie vorstanden, nicht allein in Imbaba, sondern verstreut über ganz Kairo. Al-Masris Zelle war der Kopf und setzte sich zusammen aus seinen Leutnants, zu denen auch sein jüngerer Bruder gehörte. Für alle anderen Mitglieder der Bewegung war er ein Schatten. Keiner seiner Gefolgsleute, ausgenommen diese acht Männer, hatte je sein Gesicht gesehen. Außerhalb dieses engen Kreises kannte man ihn nur als Mohammed. Seine wahre Identität war ein wohlgehütetes Geheimnis.
Raschid bemerkte sie zuerst. Die schleichend sich ausbreitende Stille. Das Kind hörte auf zu schreien, aber das war kaum befremdlich. Das Radio wurde abgestellt, aber wer wollte es der Mutter des Halbwüchsigen verdenken, wenn sie irgendwann die Geduld verlor. Der Wortwechsel des streitenden Paares verstummte, aber kein Streit geht endlos weiter.
Raschid lauschte, und ihm fiel auf, dass nichts Neues die eben entstandenen Lücken in der Geräuschkulisse füllte. Ihm wurde bewusst, dass er schon seit längerem kein Moped mehr gehört hatte und auch nicht das Geschrei von spielenden Kindern.
Er hob die Hand und unterbrach den Vortrag seines Nebenmannes.
»Seid mal still«, sagte er. »Hört ihr was?«
Nichts.
Sie schauten sich an. Totenstille ringsumher. Alle wussten, was das bedeutete.
»Schnell!«, befahl al-Masri. »Nach nebenan. Rasch!«
Ohne Panik begaben sich die Acht der Reihe nach in das angrenzende Zimmer, das wie ein normaler Wohnraum eingerichtet war. Raschid lief zu dem Fenster mit vorgelegtem Laden, das zur Straße hinausging, und entfernte die Metallscheibe vor einem Guckloch, durch das er nach draußen spähen konnte.
»Polizei!«, zischte er.
Eine Abteilung bewaffneter Polizisten und Sicherheitskräfte hatte in der Sackgasse Position bezogen. Sie waren mit Maschinenpistolen und Panzerwesten ausgestattet. Raschid sah, dass sie im Begriff waren loszuschlagen.
Einer seiner Gefährten hatte derweil eine vorgesetzte Wand geöffnet, holte Gewehre aus der dahinter verborgenen Nische und verteilte sie.
Plötzlich begann einer der Polizisten zu feuern. Die Salve perforierte den Fensterladen, und eine Kugel traf einen Mann namens Mustafa in die Stirn. Die anderen warfen sich zu Boden. Draußen brach die Hölle los. Der hölzerne Laden wurde von dem Geschosshagel regelrecht pulverisiert. Bald flogen die Kugeln durch eine leere Fensterhöhle und rissen den Putz von den Wänden.
Raschid kroch zum Fenster, hob die Kalaschnikow über den Sims und sandte einhändig etliche Feuerstöße in die Gasse hinaus. Ein Aufschrei antwortete und noch einer. Das in den Raum gerichtete Dauerfeuer stockte. Im Haus schlich ein Mann zur Wohnungstür und schoss blind durch die dünne Spanplatte, die sich in Staub auflöste. Seine Kugeln fanden ihr Ziel in den Körpern des Trupps, der im Flur auf das Kommando zum Stürmen der Wohnung gewartet hatte. Drei Männer starben, andere wurden in Arme und Beine getroffen. Der Mudschahed jagte mit jeder Salve ein ganzes Magazin durch den Lauf und machte nur Pause, um nachzuladen.
Währenddessen trat der Mann, der die Gewehre ausgegeben hatte, wieder vor die Nische und nahm neun Sprengstoffgürtel heraus, bestückt mit Plastiksprengstoff und per Funk mit einem Zünder verbunden. Raschid und der zweite Mann feuerten ununterbrochen, um die Polizisten in Schach zu halten; die anderen erhoben sich, schlüpften aus der Galabija, legten die Gürtel um und kleideten sich wieder an. Den Zünder platzierten sie oben auf ihrem straff gewickelten Turban.
Al-Masri schickte sich an, ebenfalls einen Gurt umzulegen, aber Daud, sein Stellvertreter, fiel ihm in den Arm.
»Du nicht. Du bist der Anführer der Frommen. Du hast eine Mission zu erfüllen. Jeden Moment werden sie anfangen, Handgranaten zu werfen. Du und dein Bruder, ihr müsst verschwinden. Wir übrigen tun das, was getan werden muss. Beeilt euch.«
Raschid war dazu bestimmt, Kalif zu werden, sollte sein Bruder sterben. Al-Masri schickte sich in das Unvermeidliche. Er trat zu seinem Bruder und wies ihn an, das Gewehr seinem Nebenmann zu geben. Raschid hatte eine strenge Schule durchlaufen. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, Mohammed den Gehorsam zu verweigern.
»Wir müssen fliehen«, erklärte al-Masri, »sonst ist alles verloren.«
Die Hand seines Bruder ergreifend, zog er ihn mit sich, zurück in den Gebetsraum.
Im Wohnzimmer verstummte das Gewehrfeuer. Daud hatte sich den weißen Turban vom Kopf gerissen und hielt ihn aus dem Fenster, als Zeichen der Kapitulation.
»Wir kommen heraus«, rief er. »Wir geben euch unsere Waffen. Hier.«
Die sechs Männer warfen ihre Gewehre aus dem Fenster. Sie landeten auf dem Lehmboden der Gasse. Eine Wolke Schmeißfliegen erhob sich träge und sank wieder herab.
Einer nach dem anderen, die Hände auf dem Kopf, folgten die Männer ihren Waffen und stiegen über die Fensterbrüstung nach draußen. Männer in Panzerwesten erwarteten sie, die Waffe im Anschlag. In Sekundenschnelle waren sie eingekreist. Die Polizisten drängten heran, um sie zu verhaften, und in diesem Moment betätigten alle sechs gleichzeitig den Zünder.
Auf engem Raum entfaltet selbst ein einzelner Sprengstoffgürtel eine verheerende Wirkung. Als die Terroristen ins Paradies eingingen, wurde die Gasse und alles, was sich darin befand, von der Gewalt der Explosion zermalmt. Es gab keine Überlebenden, nur wenige der Opfer waren überhaupt noch als Menschen zu erkennen. Das Dröhnen hallte durch die ganze riesige Stadt.
Jack Goodrich hörte es auf seinem Weg zum Buchhändler und schauderte. Seine Frau Emilia hörte es durch die erzitternden Fensterscheiben ihres Büros. Ihrer beider Tochter Naomi hörte es in der Schule.