35
Georgina

15.45 Uhr

Als das Taxi vor der Botschaft hielt, wollte Samiha der Mut verlassen. Der Fahrer erklärte ihr, das Konsulat befände sich in demselben Gebäude, aber: Dieses Gebäude ist ein Palast, dachte Samiha. Hochmütig schaute es auf sie hinab, und sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen und an wen sie sich wenden sollte. Bestimmt war ihr Englisch zu schlecht, um sich verständlich zu machen, oder man warf sie und Naomi hinaus, ohne sie überhaupt anzuhören. Naomi wurde von Fieberschauern geschüttelt, und Samiha hatte Angst, sie könnte jeden Moment sterben.

Sie bezahlte den Fahrer und half Naomi auszusteigen, argwöhnisch beobachtet von den beiden uniformierten, bewaffneten Posten vor dem Sicherheitstor.

Sie ging zu dem Soldaten rechts und sprach ihn an, auf Englisch, das sie, außer in der geschriebenen Form, seit der Universität kaum mehr benutzt hatte.

»Bitte«, sagte sie, »ich brauche Hilfe. Für das kleine Mädchen. Sie muss ins Krankenhaus gebracht werden. An einen sicheren Ort. Sie ist in großer Gefahr. Können Sie helfen? Kann drinnen jemand helfen?«

Der Soldat musterte sie kalt. Wieder so eine Bettlerschlampe, dachte er. Kein Funke Barmherzigkeit regte sich in ihm. Er war in Afghanistan und im Irak gewesen, und alles Mitleid, das er einmal empfunden haben mochte, war dort in ihm erstorben.

»Jalla, bint«, sagte er, »bi-surra«, ohne sich zu wundern, wieso diese spezielle Bettlerin so gutes Englisch sprach. »Los, los, keine Müdigkeit vorschützen. Mach dich dünne, oder mein Kumpel hier verpasst dir eine Lektion, die du ein Leben lang nicht vergisst. Weg hier! Verpiss dich!«

Er nahm das Gewehr in beide Hände, um sie einzuschüchtern.

Samiha zog Naomi den Schal vom Kopf.

»Sie ist ein englisches Kind. Ihre Mutter ist tot, und sie weiß nicht, wo ihr Vater ist. Sehen Sie sie an. Sie stirbt. Sie braucht einen Arzt.«

Der Soldat stutzte. Sogar er konnte erkennen, dass Naomi keine Ägypterin war. Ihr blondes Haar und die weiße Haut – die Sonnenbräune war in der Gefangenschaft verblasst – ließen die Worte der Frau glaubwürdig erscheinen. Außer, die Kanakentante hatte das Kind gestohlen und versuchte, der Botschaft eine Belohnung abzuluchsen. Er beugte sich zu Naomi hinab und merkte, dass sie beim Anblick seines Maschinengewehrs zusammenzuckte.

»Wie heißt du denn, meine Kleine?«

Naomi war nahe daran, wieder in einen fiebrigen Dämmerzustand zu versinken, aber die neue Umgebung und der Mann in der vertrauten Uniform belebten sie so weit, dass sie antworten konnte.

»Naomi. Naomi Goodrich. Mein Vater ist Professor Goodrich. Ich wohne in Garden City.«

»Was fehlt ihr denn?«, fragte der Soldat und richtete sich auf.

Samiha zeigte ihm die verbundene Hand.

»Sie hat eine Blutvergiftung. Das Fieber verbrennt sie innerlich. Sie wird sterben, wenn man die Wunde nicht versorgt.«

Nach einem Blick auf den blutgetränkten Verband wurde dem Soldaten der Ernst der Lage bewusst. Er hastete zu seinem Schilderhaus und rief über das Telefon dort im Konsulat an.

Wenige Augenblicke später sah man eine Frau aus dem Portal stürmen und im Laufschritt zum Tor hinuntereilen. Sie war eine junge Konsulatsangestellte, noch feucht hinter den Ohren, und brannte darauf, zu helfen. Ihre Name war Georgina Moffett-Petrie, sie war 23 Jahre alt, liebte Tiere und befand sich seit sechs Monaten in Kairo.

Samiha erklärte ihr die Situation, und sie begriff sofort. Sie überlegte kurz und wandte sich an den Soldaten: »Haben Sie den Schlüssel zu Ihrem Landrover bei sich, Sergeant?«

Ihr Vater war Colonel, und sie wusste, welchen Ton man den unteren Chargen gegenüber anschlagen musste.

»Ja, Madam, aber es ist nicht erlaubt ...«

»Ich pfeife darauf, was erlaubt ist. Ich erlaube Ihnen. Dies ist ein Notfall. Ich bringe dieses Kind ins Britisch-Amerikanische-Krankenhaus, jetzt sofort, und ich will verflucht sein, wenn ich warte, bis jemand einen Dienstwagen aus der Garage geholt hat. Her mit dem Schlüssel.«

»Madam ...«

»Sergeant, wenn Sie jetzt nicht den Schlüssel herausrücken, melde ich Sie Ihrem Vorgesetzten, und Sie sind noch vor dem Abendessen wieder in Afghanistan.«

Der Sergeant wusste nicht, ob Angestellte des Konsulats genügend Einfluss hatten, um seine Versetzung zu bewirken, aber sie machte den Eindruck, als ob sie es könnte, und er hatte keine Lust, es darauf ankommen zu lassen. Er fischte das Schlüsselbund aus der Hosentasche.

»Und Sie helfen mir, das Kind zum Jeep zu bringen«, sagte sie zu Samiha.

Mit vereinten Kräften bugsierten sie Naomi in den Fond des Wagens, und Georgina kletterte auf den Fahrersitz.

»Ich komme mit!« Samiha rutschte neben Naomi auf die Rückbank, nahm ihre Hand und versicherte ihr, jetzt würde alles gut werden.

Der Landrover verfügte über Blaulicht und Sirene; nach kurzem Suchen fand Georgina den richtigen Schalter und nahm beides in Betrieb. Das militärische Aussehen des Jeeps half, ihnen einen Weg durch den nachmittäglichen Verkehr zu bahnen. Sie fuhren ein Stück auf der Corniche, den Nil zur Linken, dann Richtung Westen auf der Al-Tahrir-Brücke zur Insel Gezira hinüber. Naomi zitterte heftiger denn je und musste sich wieder erbrechen. Georgina fuhr zügig. Sie hätte den Weg mit verbundenen Augen gefunden: Es gehörte zu ihren üblichen Pflichten, Gäste aus der Heimat und Expats im Krankenhaus zu besuchen. Sie bog auf eine schmale Straße ab, die nördlich am Ausstellungsgelände entlangführte. Hinter ihnen ragte der Fernsehturm Kairos 187 Meter hoch in den Himmel. Die Abenddämmerung sickerte in die Stadt, und an den Flussufern gingen die Lichter an. Vor ihnen versank die Sonne als feuriger Ball hinter den Pyramiden.

Die Straße führte geradewegs zum Krankenhausportal. Die Sirene hatte das Personal bereits alarmiert, und man stand mit einer Trage bereit, um Naomi in den Raum zu bringen, in dem man die Notfälle behandelte. Das Krankenhaus war klein, aber bestens ausgestattet.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte Samiha, als Naomi auf dem Weg in die Ambulanz war. »Sie haben ihr das Leben gerettet.«

»Wollen wir hoffen.« Georgina machte sich Sorgen um das kleine Mädchen. Es hatte ausgesehen, als wäre es dem Tode näher als dem Leben. »Sie erzählen mir jetzt bitte, was eigentlich passiert ist. Ich nehme an, es handelt sich um einen Unfall, aber weil Naomis Eltern nicht da sind ... Sind Sie das Kindermädchen?«

Georgina musste Samiha erklären, was ein Kindermädchen war. In ihrer Welt arbeiteten respektable junge Frauen als Kindermädchen, selbst Prinzessin Diana war früher Erzieherin im Kindergarten gewesen, deshalb fand sie Samihas gute Englischkenntnisse nicht weiter verwunderlich.

»Nein, ich bin kein Kindermädchen, aber ich habe mich seit einigen Monaten um sie gekümmert. Die Sache ist nicht einfach zu erklären.«

»Ich habe Zeit. Und ich brauche so wenigstens nicht gleich wieder zurück ins Büro. Momentan habe ich einen fürchterlich öden Job; ich muss ein Orientierungsseminar für einige Neuankömmlinge organisieren. Grau-en-haft. Vor einem Monat hatte ich schon einmal so eine Gruppe, und sie haben nichts anderes getan, als sich über die Preise für Miete und Lebensmittel zu beschweren. Schauen wir mal, ob es hier eine Cafeteria gibt.«

Bei einigen Tassen Kaffee in dem kleinen Besucherzimmer erzählte Samiha Georgina so viel, wie sie für ratsam hielt, und füllte die Lücken mit eigener Erfindung, angefangen mit Emilia Goodrichs Ermordung, die Naomi mitansehen musste, Professor Goodrichs Reise zu einer einwöchigen Konferenz im Ausland, dass man sie als gute Freundin der Familie gebeten hatte, das Kind in Obhut zu nehmen, dieser Unfall, der passierte, als sie beim Einkaufen gewesen war. Sie verschwieg Mohammed al-Masri und seine Gruppe und ihren eigenen Hintergrund und das Selbstmordattentat, zu dem man sie hatte zwingen wollen. Es dauerte lange, aber Georgina war eine gute Zuhörerin.

Ein ägyptischer Arzt mit weißem Kittel und forschem Auftreten kam herein und musterte die beiden Frauen von oben bis unten. Samiha mit ihrem arabischen Gesicht und dem unter einem Kopftuch verborgenen Haar, Georgina mit den blonden Locken, grünen Augen und der westlichen Kleidung.

»Sie sehen mir zu jung aus, um die Mutter des Kindes zu sein«, wandte er sich an Georgina. Samiha hatte er bereits als unmaßgeblich abgetan.

»Vielen Dank.« Georgina hatte inzwischen gelernt, dass arabische Männer es Frauen gegenüber oft an Höflichkeit fehlen ließen, auch Ärzte. »Und sie ist nicht meine Schwester. Ich bin vom britischen Konsulat. Samiha ist eine Freundin der Familie des Kindes. Sie hat sie zu mir gebracht, und ich bin mit beiden hierhergekommen.«

Der Arzt sah aus, als wäre er kurz davor zu explodieren. Er richtete seinen Zorn gegen Samiha, blaffte sie auf Arabisch an.

»Wie lange haben Sie gewartet, bis Sie sich entschlossen haben, mit dem Kind zum Arzt zu gehen?«, schnauzte er. »Wir mussten sie an Infusionen hängen und ihr Antibiotika spritzen. Vielleicht überlebt sie nicht. Die Infektion hat sich über 24 Stunden hinweg ungehindert entwickeln können.«

Samiha wehrte sich, versuchte zu erklären, was passiert war, und musste dabei an ihren Lügen festhalten. Sie wusste, wenn sie jetzt sagte, wie es wirklich gewesen war, würde ihr niemand glauben.

Georgina unterbrach den arabischen Wortwechsel.

»Können wir sie sehen?«, fragte sie.

»Auf keinen Fall, aber ich möchte, dass die Eltern herkommen, so schnell wie möglich. Falls das Kind stirbt und sie sind nicht hier, lehne ich jede Verantwortung ab.«

»Sie werden feststellen, dass ich ein Recht habe, das Mädchen zu sehen«, erwiderte Georgina. »Ich bin Konsulatsangestellte, und sie ist eine Bürgerin des United Kingdom.«

»Kommen Sie später wieder. Heute Abend. Die Infektion ist lebensbedrohlich. Wir wissen nicht, ob wir das Kind durchbringen.«

»Vielen Dank. Daran haben Sie keinen Zweifel gelassen.«

»Bevor Sie gehen, melden Sie sich an der Rezeption wegen der Rechnung. Vorläufig ist die Summe von eintausend ägyptischen Pfund zu hinterlegen.«

Georgina erledigte die Zahlung, dann ging sie mit Samiha zurück zum Auto.

»Fahren wir in mein Büro«, sagte sie. »Wir haben noch einiges zu besprechen.«

Die Wachen hatten gewechselt, und niemand hinderte Georgina daran, mit Samiha das Botschaftsgebäude zu betreten. Die konsularische Abteilung war ab 13.30 Uhr für den Publikumsverkehr geschlossen, aber einige Angestellte saßen noch an ihren Schreibtischen. Es gab ein Problem mit den neuen biometrischen Pässen, und sie machten Überstunden, um es zu lösen.

Georginas Büro entpuppte sich als ein Kämmerchen zwischen einer Toilette und einer altertümlichen Klimaanlage. Sie quetschte sich hinter ihren Schreibtisch und weckte ihren Computer aus dem Dämmerschlaf.

»Wenn es Ihnen nicht zu eng ist, nehmen Sie Platz«, meinte sie zu Samiha. »Ich brauche nur einen Moment.«

Samiha, in großer Angst um Naomi, hatte Mühe, ihre Nervosität zu verbergen. Sie zog einen kleinen, prall gepolsterten Stuhl hinter einem Stapel Akten hervor und setzte sich hin. Ihr Magen knurrte, und der viele Kaffee, den sie getrunken hatte, machte sie kribbelig. »Wir wissen nicht, ob wir das Kind durchbringen ...« Die Worte des Arztes gingen ihr nicht aus dem Kopf.

»Können Sie mir sagen, wo genau Naomis Vater sich aufhält?«, fragte Georgina. »Ist er im Lande?«

Samiha überfiel abgrundtiefe Hilflosigkeit. Ihr Lügengebäude geriet ins Wanken.

»Ich weiß nicht, wo er ist.« Sie konnte die Hände nicht stillhalten. In ihrem Kopf summten Angst und Unsicherheit. Naomi musste vielleicht sterben. Sie selbst war entwurzelt und allein in einer fremden Stadt, ohne Geld oder Freunde. Die einzige Botschaft, bei der sie vielleicht Hilfe erwarten konnte, war die Israels, und sie wusste, dort würden sämtliche Alarmglocken schrillen, wenn sie an die Tür klopfte.

»Ich verstehe nicht.« Georgina schaute sie fragend an. »Sie behaupten, Sie sind eine Freundin der Familie, und man hätte Sie gebeten, sich um Naomi zu kümmern, aber jetzt sagen Sie, Sie wüssten nicht, wo der Vater ist?«

Georgina merkte, wie ihre Sympathie für diese Frau sich verflüchtigte. Etwas stimmte hier nicht, und sie wollte herausfinden, was es war. Samiha sagte nicht die Wahrheit oder nicht die ganze Wahrheit.

»Er musste Hals über Kopf abreisen.« Samiha bemühte sich um Plausibilität. »Er hat vergessen, seine Telefonnummer oder eine Adresse zu hinterlassen.«

»Das kann ich kaum glauben.«

»Trotzdem ist es die Wahrheit.«

»Bleiben Sie da sitzen. Wir müssen das klären. Ich werde im Computer nach Professor Goodrich suchen. Wie heißt er mit Vornamen?«

Naomi hatte Samiha gleich zu Anfang ihrer Freundschaft die Namen ihrer Eltern anvertraut.

»Jack«, antwortete sie. »Ihre Mutter hieß Emilia.«

Georgina begann zu tippen.

Es dauerte ungefähr fünf Minuten. Als sie vom Bildschirm aufblickte, hatten ihre Augen den freundlichen Ausdruck von vorhin verloren.

»Würden Sie mir vielleicht verraten, was das alles zu bedeuten hat?«, fragte sie.

»Ich habe es Ihnen doch gesagt. Es gab einen Unfall ...«

»Sie haben mich von Anfang an belogen. Wann hat Professor Goodrich Kairo verlassen?«

»Vor fast einer Woche. Er müsste bald zurückkommen.«

»Wie ist seine Adresse? Als Freundin der Familie müssten Sie ihn das ein oder andere Mal zu Hause besucht haben.«

Samiha konnte nicht antworten. Ihr wollten keine Lügen mehr einfallen.

Georgina fuhr erbarmungslos fort.

»Vielleicht interessiert es Sie, zu erfahren, dass Professor Jack Goodrich vergangenen Donnerstag zu einer Unterredung hier in diesem Gebäude gewesen ist? Wie es aussieht, erzählte er eine hanebüchene Geschichte über ein Schwert, behauptete, Leute zu kennen, die ihn nie im Leben gesehen hatten, und verlangte, mit jemandem von unserem Geheimdienst zu sprechen. Und das ist bei weitem nicht alles. Dem Anschein nach halten sich zwei britische Polizeibeamte in Kairo auf, die den Professor verhaften wollen. Man beschuldigt ihn des siebenfachen Mordes, unter anderem soll er seine eigenen Eltern umgebracht haben. Es wird nach ihm gefahndet. Und ich glaube, Sie sind in die ganze Sache verwickelt. Ich glaube, er hat seine Tochter misshandelt, und Sie decken ihn. Alles andere, was Sie mir aufgetischt haben, waren Lügen.«

Samiha hielt sich die Ohren zu, um die auf sie niederprasselnden Beschuldigungen nicht hören zu müssen. Sie verschloss die Augen gegen das Licht, das ihre Schande offenbarte. Tränen quollen zwischen den zusammengekniffenen Lidern hervor. Sie versuchte, sie zurückzuhalten, aber vergeblich, und im nächsten Moment wurde sie von einem tiefen, krampfhaften Schluchzen geschüttelt, die Tränen brachen sich Bahn, und sie weinte vor Kummer und Einsamkeit und auch wegen des furchtbaren Wissens, das sie mit sich herumtrug: über Mohammed al-Masri und die Schreckenstat, die er plante.

Georgina machte keine Anstalten, sie zu trösten. Samihas Weinen rührte sie nicht; sie fragte sich nur, wie tief diese Frau wohl in die Morde verstrickt war. Ihr Mitleid galt einzig Naomi, deshalb wartete sie ab, was Samiha nun zu sagen hatte.

Es dauerte lange, bis Samihas Schluchzen abebbte. Zu guter Letzt war sie so erschöpft, dass ihre Tränen versiegten. Sie schaute Georgina aus rotgeränderten Augen an. Sie hatte alles vergessen: wer sie war, wo sie war, wohin ihr Leben und ihre Kinder verschwunden waren. Sie war hohl, eine leere Hülle, die einst ein menschliches Wesen enthalten hatte; eine Mutter ohne Söhne, eine Gattin ohne Mann, eine Muslima ohne Glauben, eine Frau ohne Hoffnung.

Sie begann zu reden. Erzählte alles, von jenem ersten Tag in Dschenin bis zu diesem Augenblick. Der Sprengstoffgürtel, den man ihr angelegt hatte, Nabil und Adnan, die Fahrt nach Israel und weiter nach Kairo, ihre Begegnung mit Naomi, ihre Flucht.

Anfangs hörte Georgina nur mit halbem Ohr zu. Da war eine Party, zu der sie gehen musste, Diplomaten wollten betreut werden, örtliche Würdenträger umschmeichelt, und sie hatte die Nase voll von Samiha und ihren Versuchen, sie für dumm zu verkaufen. Doch je weiter die Geschichte fortschritt, desto aufmerksamer lauschte sie. Nach ungefähr der Hälfte begriff sie die Fehleinschätzung, die ihr unterlaufen war.

Ihr Bruder Ben hatte im Irak gedient, beim Ersten Bataillon des Staffordshire-Regiments. Nach Beendigung seiner Dienstzeit hatte man ihm Urlaub gewährt, um die Verwundungen auszukurieren, die er bei einem Feuergefecht in Basra davongetragen hatte, und er war nach Hause gekommen, nach Akenside, dem Landsitz der Familie in Needwood Forest. Sie hatte ebenfalls eine berufliche Auszeit genommen, weil sie ihm Gesellschaft leisten wollte, und einige Wochen dort mit ihm verbracht: ihm beim Angeln im Trent zugeschaut, Brassen und Karpfen fürs Abendessen nach Hause getragen, in der Bibliothek lange Gespräche mit ihm geführt, am Mittagstisch für heiteres Geplauder gesorgt, zugehört, wenn er vom Krieg erzählte.

In den ersten zwei Wochen hatte er ihr und ihren Eltern immer dasselbe Lied gesungen. Von seinen – leichten – Blessuren abgesehen, war für ihn im Irak alles bestens gewesen. Er lobte den Kampfgeist des Regiments, die Kameradschaft zwischen Offizieren und Mannschaften, die Wichtigkeit der Aufgabe, mit der sie betraut waren. Nach seiner Darstellung war es ein gerechter Krieg, und er konnte es kaum erwarten, nach Basra und zu seinen Männern zurückzukehren.

Eines Tages hatte ihr Vater sie beiseitegenommen und gesagt: »Georgie, gib auf ihn acht, ja? Warte, bis er so weit ist. Mir gegenüber wird er sich nicht öffnen, nicht in einer Million Jahre. Dir aber wird er sein Herz ausschütten. Pass auf, dass du zur Stelle bist, wenn es so weit ist. Lass ihn nicht aus den Augen. Ich werde mit eurer Mutter ein paar Tage wegfahren. Sehen wir, was dann passiert.«

Zwei Tage dauerte es. Sie waren mit den Hunden unterwegs, zwei Labradors, Fin und Finbar, und er hatte Witze erzählt, typische Soldatenwitze, ein bisschen anzüglich, ein bisschen rassistisch, ein bisschen sentimental, als er plötzlich mitten auf dem Weg stehenblieb und von einem Weinkrampf gepackt wurde, der mehr als eine halbe Stunde andauerte. Sie hatte dabeigestanden, die Hunde festgehalten und geschwiegen, auch nicht der Versuchung nachgegeben, ihn zu berühren, nur waren ab und zu auch ihr die Tränen gekommen, aus schierem Mitleid mit seinem Schmerz, dessen wahre Ursache sie nicht kannte, höchstens ahnte.

Endlich hatte er sich beruhigt, und sie waren stumm zurück zum Haus gegangen. Dort lotste sie ihn in die Bibliothek und goss ihm einen Whisky ein, dreifach, pur, und sich das Gleiche.

Er redete fünf Stunden lang ununterbrochen. Er hielt mit nichts hinterm Berg, und jedes Mal, wenn sie ihm in die Augen schaute, sah sie die Brutalität dieser Wahrheit darin widergespiegelt. Er sprach von den Schrecknissen, deren Zeuge er gewesen war, den abscheulichen Dingen, die er und seine Männer getan hatten, von dem Hass, den die Iraker ihnen entgegenbrachten, der Angst, die sie Tag und Nacht begleitete.

Wenn sie Samiha anschaute, erkannte sie in ihren Augen dieselben Spuren erlebter Unmenschlichkeit und das Wissen um die Grausamkeit dieser Welt. Es war unmöglich, ihr nicht zu glauben.

Samiha berichtete alles, was sie in den Monaten ihrer Arbeit für die Ahl al-Dschanna erfahren hatte. Sie wusste über Jack und das Schwert Bescheid, wusste, weshalb Raschid al-Masri es auf Jack abgesehen hatte und dass er Naomi als Köder benutzte. Sie brachte Jacks Rückkehr aus Schottland mit einer Auslandsreise Raschids kurz vorher in Zusammenhang. Sie schilderte Georgina, was für eine Art von Mensch Raschid war, ein kaltblütiger Killer, und dass er regelrecht Jagd auf Jack gemacht hatte. Und Georgina glaubte ihr. Glaubte ihr rückhaltlos.

Sie wandte sich wieder dem Computer zu, um nach weiteren Informationen über Jack Goodrich zu forschen, und diesmal grub sie tiefer als vorher. Ihr Bruder, der einen Kurs in Datenverschlüsselung in Sandhurst absolviert hatte und sich in seiner Freizeit viel mit dem Computer beschäftigte, hatte ihr mehr beigebracht, als sie von Gesetzes wegen wissen durfte, unter anderem, wie man einen Code knackte und Passwörter ausbaldowerte oder selbst erzeugte und andere Sicherheitsbarrieren überlistete. Jetzt kamen ihr die illegalen Fähigkeiten gut zupass.

Was sie herausfand, beunruhigte sie. Der Fall Jack Goodrich roch nach MI6. Seine Frau hatte eine gehobene Position im Büro des Geheimdienstes hier in der Botschaft gehabt. Ein Mann, der für sie gearbeitet und nach ihrem Tod ihren Posten eingenommen hatte, war nach Schottland gereist, um Goodrich zu suchen, und seither verschollen. Sie gewann den Eindruck, dass der Mann ohne Zustimmung seiner Vorgesetzten gehandelt hatte. Der Professor war seit seiner Rückkehr nach Kairo am Donnerstag observiert worden, doch hatte der MI6 ihn am selben Abend noch aus den Augen verloren und erst in der letzten Nacht wieder aufgespürt. Man war ihm von der Amerikanischen Universität aus gefolgt, wo er mehrere Stunden scheinbar auf jemanden oder etwas gewartet hatte.

Und damit nicht genug. Ein Schwert wurde erwähnt, das Goodrich gefunden haben sollte oder gestohlen. Eine radikale islamistische Gruppierung namens Ahl al-Dschanna und geheime Unterredungen mit deren Vertretern. Darüber gab es noch weitere Dateien, doch sie widerstanden all ihren Tricks und Kniffen. Schließlich gab sie auf. Sie wusste genug.

Sie schob ihren Stuhl zurück und lächelte Samiha an.

»Er ist in einer Kirche«, sagte sie. »In einer Kirche in Schubra al-Chaima. Keine Ahnung, wo das ist, doch wozu gibt es Stadtpläne. Sie wissen nicht, was er dort will, aber sie glauben, dass er immer noch dieses Schwert hat, und sie beobachten die Kirche. Dort können Sie ihn treffen und ihm sagen, dass seine Tochter noch lebt. Ich fahre Sie hin, mehr kann ich nicht tun. Ich bringe mich ohnehin schon in eine ziemlich prekäre Situation.«

»Warum wollen Sie mir überhaupt helfen?«

»Weil ich glaube, dass Sie die Wahrheit sagen. Weil ich gesehen habe, was mit Naomi passiert ist. Weil mein Bruder und mein Vater Soldaten sind, und sie haben mir immer gesagt, trau keinem vom Geheimdienst. Weil ich mit dem Mann zu tun hatte, bei dem Jack letzte Woche hier in der Botschaft gewesen ist, und ich finde, er ist ein Arschloch. Und jetzt fahren wir zum Krankenhaus und schauen, wie es Naomi geht.«

Das Schwert - Thriller
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