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Eine Brücke zu weit
Zoologischer Garten, Kairo
Dokki
Tags darauf
12.00 Uhr mittags
Vor hundert Jahren galt der Kairoer Zoo als der viertbeste der Welt, ein Juwel am Westufer des Nils, begrünt mit Bäumen und Sträuchern und Pflanzen aus Indien, Zentralafrika und Südamerika. Ursprünglich war die parkähnliche Anlage ein Lustgarten für die Haremsfrauen des Chediven Ismail gewesen. Riesenfarne beschatteten Pagoden, Kioske, Gartenlauben und Aussichtspavillons, verteilt auf kleinen Inseln in einem Netz aus Seen und gewundenen Kanälen. Für die Bürger der Stadt ein lauschiger Zufluchtsort vor der drückenden Sommerhitze.
Nichts von der einstigen Pracht hatte sich in die moderne Zeit hinübergerettet. Die Sehenswürdigkeiten waren noch vorhanden, aber der Zoo war schäbig und heruntergekommen. Überall Zeichen der Verwahrlosung. Die seinerzeit kunstvoll angelegten Wege aus roten, weißen und schwarzen zu dekorativen Arabesken geordneten Kieseln waren von Millionen Füßen abgenutzt und streckenweise mit Beton ausgeflickt. Geländer hatten Roststellen, die Lusthäuser brauchten einen neuen Anstrich. Am schlimmsten waren die Bedingungen, unter denen die Tiere dahinvegetierten. Eingesperrt in enge Pferche, von den Besuchern gepiesackt, dem unaufhörlichen Gelärme der Passanten ausgesetzt, wirkten sie matt und traurig.
Jack hatte Posten auf einem Hügel über der eisernen, von Gustave Eiffel gebauten Hängebrücke bezogen, unmittelbar im Norden des Tümpels, in dem die Flusspferde lagen, bis zu den Augen im Modder. Von hier aus konnte er mit Hilfe seines Fernglases alles beobachten, was am Brückenaufgang geschah.
Dschamila überprüfte ihre Waffe. Sie war nicht glücklich darüber, dass sie keine Möglichkeit hatte nachzuladen, wenn die zehn Schuss, die sich noch im Magazin befanden, abgefeuert waren. Sie saß in dem von Jack am Morgen gemieteten Peugeot, den sie am Straßenrand geparkt hatte, dicht beim Zooeingang, ungefähr einen halben Block entfernt von der französischen Botschaft. Der Motor lief, und ihr Puls raste, denn ihr war bewusst, wie leicht ihr Plan in einer Katastrophe enden konnte. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Fast zwölf.
Ihr Handy surrte. Sie klappte es auf und hörte Jacks Stimme.
»Ein Mann in einer Dischdascha hat soeben etwas am linken Brückenpfosten befestigt. Vater Joseph hat ihn gesehen, aber er wartet noch, bis die Luft rein ist. Bleib empfangsbereit.«
Der Priester stand einige Meter unterhalb von Jacks Ausguck und gab sich den Anschein von jemandem, der die Aussicht bewundert. Sein ältester Sohn Pierre wartete in der Nähe des Eingangs, neben den Gehegen der Löwen, die missmutig und ruhelos im Kreis herumwanderten und ab und zu durch die rostigen Gitter einen Wenn-ich-könnte-wie-ich-wollte-Blick auf die Gaffer warfen. In einer anderen Abteilung erlaubte ein Tierpfleger einer Reihe ausländischer Besucher, die Löwenwelpen zu knuddeln, die diese Strapaze mit hoheitsvollem Gleichmut ertrugen.
Vater Joseph setzte seinen Zoospaziergang fort. Er wollte erst im letztmöglichen Augenblick handeln. Falls al-Masri einen Hinterhalt für Jack gelegt hatte, achteten seine Handlanger vermutlich nicht auf einen Mann im koptischen Priestergewand.
Er verharrte einige Minuten bei der grünen Brücke, wie in Bewunderung der Konstruktion versunken, dann ließ er die kleine Tasche, die er mit sich führte, beiläufig zu Boden fallen, während er den an den Pfosten geklebten Umschlag abriss. Ohne Eile, im Vertrauen darauf, dass eventuelle Beobachter immer noch auf das Erscheinen einer ganz anderen Person warteten, setzte er seinen Weg auf dem unteren Pfad fort, der direkt zurück zum Löwenhaus führte.
»Er hat den Umschlag«, sagte Jack. »Ich kann ihn jetzt nicht mehr sehen, es sind zu viele Bäume dazwischen.«
»Kommt zurück zum Auto«, forderte Dschamila.
Der Priester schlängelte sich durch die Menschenmenge zu der Stelle, wo sein Sohn wartete. Sie streiften sich im Vorübergehen, dabei wanderte der Brief in Pierres Hand und in die Tasche seiner Jeans. Der Junge schlenderte zum Ausgang; sein Vater folgte ihm in einigem Abstand.
Jack hatte von der Brücke aus einen anderen Weg genommen und inzwischen das Löwenhaus erreicht. Er erhaschte einen Blick auf die aus der Menge hervorstechende Tracht des Priesters, dann verlor er ihn wieder aus den Augen.
Pierre hatte ohne Zwischenfall den Ausgang passiert. Niemand wusste, dass er den Umschlag hatte, niemand interessierte sich für ihn. Er marschierte zum Auto und schob sich auf den Rücksitz.
»Mein Vater ist unterwegs«, meldete er.
Doch als Joseph beim Ausgang anlangte, lösten sich zwei Männer aus der Menge und ergriffen seine Arme, einer links, einer rechts.
»Ich denke, Sie sollten mit uns kommen, Priester«, sagte einer, und gemeinsam bugsierten sie den sich vergeblich Sträubenden zu einem Pfad, der zum südlichen Ende des zoologischen Gartens führte. »Wir haben etwas mit Ihnen zu besprechen.«
Während der Mann noch an Josephs Arm zerrte, trat jemand von hinten an ihn heran, und das Letzte, was er in diesem Leben spürte, war eine Hand an seinem Hals und der Druck stählerner Finger auf seine Halsschlagader. Er rutschte in sich zusammen wie eine Stoffpuppe. Der zweite Mann fuhr herum, verdutzt, und Jack war bei ihm, bevor er reagieren konnte. Ein scharfer Hieb mit den Fingerknöcheln gegen den Adamsapfel streckte ihn neben seinem Gefährten zu Boden.
»Schnell, Vater, nichts wie weg hier.«
Sie saßen im Auto, zogen rasant vom Bordstein weg und waren außer Sicht, ehe irgendeiner von den Ahl al-Dschanna aus dem Portal gestürmt kam. Sie fuhren zurück nach Schubra al-Chaima. Es war zehn Minuten nach zwölf.
Unterwegs las Jack die Nachricht in dem Umschlag. Sie war kurz und knapp.
Professor Goodrich, sofern Sie meinen Anweisungen gefolgt sind und das Gewünschte für uns hinterlegt haben und falls unsere Überprüfung zweifelsfrei ergibt, das der bewusste Gegenstand authentisch ist und keine Kopie, seien Sie um 3.00 Uhr heute Nachmittag am Eingang der Amerikanischen Universität. Ihre Tochter wird dort auf Sie warten. Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Prophet.
Keine Unterschrift.
Das Hauptportal der Universität befand sich im Ewart Building an der Scheich-Rihan, zwischen – jeweils einen Block entfernt – dem ägyptischen Parlamentsgebäude, dem Innenministerium und dem Gebäude der Zentralverwaltung, der berüchtigten Mugamma. Zwei Straßen weiter ragte die modernistische Struktur der US Botschaft, einer Honigwabe ähnlich, aus dem Dächermeer.
Jack und Dschamila hatten einem Verkehrspolizisten an der Qasr-al-Ayni ein üppiges Bakschisch gegeben und ihn gebeten, ein Auge auf ihr Auto zu haben, das gleich hinter der Ecke auf sie wartete. Jacks Plan sah vor, Naomi auf kürzestem Weg zum ebenfalls Qasr-al-Ayni heißenden, besten öffentlichen Krankenhaus der Stadt zu bringen, wenig mehr als eine Meile in südlicher Richtung auf der Straße desselben Namens.
Jacks Nerven lagen blank. Seine Tochter nach allem vielleicht doch noch zu verlieren, jetzt, als er eben zu hoffen wagte, sie wahrhaftig lebend wiederzusehen, wäre schwerer zu ertragen, als damals ihren – wie er glaubte – in Blut schwimmenden Leichnam zu entdecken. Die ganze Nacht hatten ihn Alpträume gequält. Unter einer Kirche zu schlafen hatte nicht zu seinem Seelenfrieden beigetragen.
Viertel nach drei, und nichts zu sehen von Naomi. Jack trat in das Gebäude, um nachzuschauen, ob man sie womöglich in der Eingangshalle gelassen hatte, doch er sah nur Studenten und Angestellte, die von einem Zimmer ins nächste hasteten, von Termin zu Termin. Niemand erkannte ihn.
Er ging wieder nach draußen. Immer noch keine Spur von ihr.
Um halb vier war er verzweifelt. Sie warteten bis 4.00 Uhr. Dann bis fünf, dann bis sechs, dann bis sieben. Längst war es dunkel geworden.
»Ich denke, wir sollten aufgeben, Jack. Irgendwas ist schiefgegangen. Morgen kaufen wir sämtliche Zeitungen. Sie werden mit uns Kontakt aufnehmen. Vielleicht wollen sie sich ja erst vergewissern, dass Schwert und Brief tatsächlich echt sind. Wahrscheinlich ist noch jemand an der Universität damit beschäftigt, die letzten Zweifel aus dem Weg zu räumen.«
Jack schüttelte den Kopf. Ihm hatte ein Blick genügt, um die Möglichkeit einer Fälschung auszuschließen. Ein anderer Gelehrter würde nicht länger brauchen.
»Sie ist tot«, sagte er. »Ich spüre es. Sie haben sie benutzt, um das Schwert zu bekommen. Wer weiß, ob man sie nicht ermordet hat, kaum dass die Kamera ausgeschaltet war. Sie hatten von Anfang an nicht die Absicht, sie mir zurückzugeben.«
Dschamila wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Der Gedanke, Naomi könnte tot sein, drückte ihr das Herz ab, und sie konnte nur ahnen, wie es in Jack aussah.
»Gehen wir zum Auto zurück«, meinte sie. »Noch länger zu warten hat keinen Sinn.«