41
Auf der Flucht
5.20 Uhr
Die Krankenwagen trafen als Erstes ein, dichtauf gefolgt von der Polizei. Letzteres hatte sich nicht verhindern lassen. Dschamila und Vater Joseph warteten am Eingang. Frauen aus der Gemeinde kümmerten sich um Schadia und die Kinder. Die angespannte Atmosphäre breitete sich immer weiter aus, als die Nachricht von dem Überfall sich in dem erwachenden Viertel herumsprach. Der Weihnachtsgottesdienst war abgesagt worden.
Vater Joseph stellte Dschamila als Christin und enge Freundin der Familie vor. Er machte den Eindruck eines wandelnden Toten. Er ließ sich gefallen, dass die Sanitäter seine Verletzungen und Blutergüsse behandelten, und beantwortete mit monotoner Stimme die Fragen eines Polizisten.
Man fragte Dschamila nach dem Grund für diesen Überfall, und sie sagte, sie wüsste es nicht, die Angreifer wären muslimische Terroristen gewesen, wie an ihren Bärten und dem geschorenen Kopf zu erkennen. Die Toten blieben in der Kirche liegen, während die Forensiker sich an die Arbeit machten. Maries und Hannahs sterbliche Überreste wurden als Erstes untersucht und anschließend in einem privaten Krankenwagen weggebracht, den einer der Diakone gerufen hatte.
»Wer hat die Angreifer getötet?«, wurde Dschamila von einem Kriminalbeamten gefragt.
»Ich war das. Ich habe früher für verschiedene Sicherheitsdienste gearbeitet. Ich trage eine Pistole zu meinem Schutz.«
Sie händigte ihnen die Waffe aus, die in eine Tüte verpackt wurde und etikettiert.
»Sie müssen uns zum Revier begleiten«, hieß es.
»Später«, antwortete sie. »Ich kann die Familie in ihrem Leid nicht allein lassen. Ich muss mich um die Kinder kümmern. Sie kennen mich. Geben Sie mir wenigstens Zeit, bis Ihre Leute von der Spurensicherung mit der Kirche fertig sind.«
Eine Bemerkung des Polizeihauptmanns, der die Untersuchung leitete, verriet Dschamila, dass sie großes Glück hatte. Man fasste diesen Fall mit Samthandschuhen an, ganz im Gegensatz zum normalen Umgang mit Christen in dieser Stadt. Kaum, dass man ihm die Einzelheiten durchgegeben hatte, dämmerte dem Polizeihauptmann, dass die üblichen grobschlächtigen Methoden am Vorabend einer internationalen Konferenz unkalkulierbare Risiken bargen. Der Status der ägyptischen Kopten stand ebenfalls auf der Tagesordnung, und es gab bereits zu viele Fragen bezüglich des offiziellen Verhaltens gegenüber Minderheiten.
Dschamila geleitete Vater Joseph zum Wohnhaus hinüber. Er war in dieser Nacht ein alter Mann geworden, gebeugt und kraftlos, der Lebenswille erloschen, die Augen leer.
In der Dunkelheit hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die immer noch weiter anwuchs. Manche schluchzten. Andere sangen Hymnen. Sie hielten Kerzen in den Händen, und die Kinder, um ihr Weihnachten gebracht, standen dabei, verstört und voller stummer Fragen. Noch andere, abseits, im Schatten verborgen, beobachteten und warteten.
Einer der ihnen ungezielt nachgesandten Schüsse hatte Samiha getroffen, in den linken Unterarm. Die Wunde blutete heftig. Ein Zentimeter weiter rechts, und die Kugel hätte eine der Unterarmarterien zerrissen.
Sobald er sicher sein konnte, dass sie nicht verfolgt wurden, fuhr Jack auf der Dschabalaja an den Straßenrand und schaltete die Scheinwerfer aus. In seiner Zeit als Soldat hatte er gelernt, durch Abtasten die Schwere einer Verletzung festzustellen.
»Nimm dein Kopftuch ab«, sagte er. »Wir machen damit einen Druckverband.«
Er half ihr, das Tuch zu falten und umzulegen.
»Und jetzt den Arm über den Kopf halten. Ich weiß, es tut weh, aber du musst die Blutung eindämmen. Ich kann dich nicht in ein öffentliches Krankenhaus bringen. Hältst du noch eine Weile durch, bis ich uns Hilfe organisiert habe?«
»Es tut höllisch weh«, antwortete sie mit zusammengebissenen Zähnen. Sie hob den Arm. »Aber ich halte durch, wenn du es tust.«
Seine Hand lag noch auf der ihren, klein und warm, trotz Blutverlust. Er ließ sie ein paar Sekunden länger liegen als unbedingt nötig, dann zog er sie weg.
Er kramte Georginas Visitenkarte aus der Tasche und schaltete ein Lämpchen am Armaturenbrett an. Sie hatte ihm erzählt, dass sie in Aguza wohnte, in einer preisgünstigen Wohnung des British Council ein paar Straßen weiter. Es gab sonst niemanden, an den er sich wenden konnte, und sowohl Naomi als auch Samiha brauchten dringend medizinische Hilfe.
Er fuhr in zügigem Tempo nach Norden zur 6. Oktober-Brücke, hinüber ans Westufer und dort auf die Nile Street. Er kannte den Weg zum British Council, aber es dauerte eine Weile, die Straße zu finden, in der Georgina wohnte.
Naomi schwieg die ganze Zeit, und er fürchtete, sie könnte die Besinnung verloren haben. Als sie endlich anhielten, sprang Samiha sofort aus dem Auto und stieg hinten bei Naomi ein.
»Es ist nicht schlimm«, sagte sie. »Aber wir brauchen bald einen Arzt.«
Nach einem halben Dutzend Mal Klingeln öffnete Georgina die Tür, merkbar schlechter Laune. Ihr Gesicht war dick mit Creme eingeschmiert, ihr Haar verstrubbelt.
»Falls du das bist, Jamie, hau ab. Wie spät, zum Teufel, ist es überhaupt?«
»Nach sechs«, antwortete Jack. »In einer halben Stunde wird es hell. Und ich bin nicht Jamie, sondern Jack, Jack Goodrich. Ich muss Sie um Hilfe bitten. Ich kenne sonst niemanden, an den ich mich wenden könnte.«
Sie rieb sich gähnend die Augen.
»Jack? Was ist denn los?«
Er schilderte ihr die Situation in so wenigen Worten wie möglich. Sie starrte ihn ungläubig an.
»Naomi sitzt draußen im Wagen«, sagte er. »Samiha ist von einer Kugel in den Arm getroffen worden. Ich musste Naomi die Infusion abnehmen. Beide gehören so schnell wie möglich in ärztliche Behandlung. Unterwegs erzähle ich Ihnen, was ich von Samiha über Mohammed al-Masri und seine Organisation erfahren habe.«
Georgina verschwand, um sich anzuziehen.
Jack wartete und beobachtete, wie ein lichtes Grau sich in den Himmel stahl und die bleiche Sichel des zunehmenden Mondes umspülte.
Hier, abseits der unaufhörlichen Betriebsamkeit des Stadtzentrums, war Kairo friedvoll. Eine andere Welt als die, aus der er eben gekommen war. Unwillkürlich drängte sich ihm der Gedanke auf, wie schnell das alles ausgelöscht sein könnte, wenn am Freitag, zu einer nicht näher bezeichneten Stunde, der Himmel über Kairo sich grellweiß färbte. Er konnte in fünfzehn Minuten bei den Pyramiden sein. Schneller, wenn er den Fuß auf dem Gaspedal ließ und auf verkehrsarme Seitenstraßen auswich.
Die Haustür ging auf, und Georgina trat auf die Straße, angetan mit Jeans, einem schlabberigen Pullover, und mit einer Haarbürste bewaffnet.
Jack fuhr zur Nile Street zurück und darauf nach Norden, bis zu dem Punkt, wo sie zur Sudan Street wurde. Von dort ging es über die alte Eisenbahnstrecke hinweg nach Imbaba, dem Elendsviertel, das al-Masris Hauptquartier beherbergt hatte, bevor er es nach Schubra verlegte.
Während der Fahrt berichtete er Georgina, was Samiha ihm erzählt hatte.
»Klingt weit hergeholt«, meinte sie. »Wie das Drehbuch zu einem Thriller. Tom Cruise oder Pierce Brosnan. James Bond. So was.«
Samiha, auf dem Rücksitz, mischte sich ein.
»Nicht James Bond hat Naomi den Finger abgeschnitten. Nicht James Bond ist heute Nacht in die Kirche eingedrungen und hat zwei unschuldige Kinder ermordet. Er hat eine Bombe, und er wird sie benutzen. Sie können entscheiden, ob Sie uns helfen wollen oder nicht. Wenn nicht, und er zündet die Bombe, kann niemand sagen, wie viele Menschen den Tod finden werden.«
Georgina schwieg.
Sie passierten den Kamelmarkt, erreichten die Betonwüste des Kit-Kat-Einkaufszentrums.
»Ich bin schon ein paarmal hier gewesen«, bemerkte Georgina und dirigierte Jack zu einem Parkplatz in der Nähe des Supermarkts. »Dr. O’Malley hat da drüben seine Klinik.«
Jack trug Naomi; Samiha, nun doch vom Blutverlust geschwächt, ging langsam hinterher und wurde von Georgina gestützt. Der Himmel war immer noch voller Sterne, der Mond wanderte zwischen ihnen hinauf, schmal und silbern, aber der östliche Horizont war nicht länger schwarz. Hinter den Muqattam-Bergen flackerte die Morgendämmerung wie eine ruhelose Flamme. Jack schaute in das sanfte Zwielicht, doch seine Gedanken waren nicht bei diesem Morgen, sondern bei dem des Strafgerichts von al-Masris Gnaden.
Die Klinik befand sich im Erdgeschoss eines Hochhauses, das von Landflüchtigen bewohnt wurde, Menschen noch unterhalb der untersten Sprosse von Kairos steiler gesellschaftlichen Leiter. Ursprünglich von Ärzten ohne Grenzen betrieben, war sie nach einem Überfall von Mitgliedern der Ahl al-Dschanna aufgegeben worden. Um nach kurzer Zeit von einem irischen Arzt um die sechzig wiedereröffnet zu werden, Pádraig O’Malley.
Pádraig hatte seinen Doktor am College of Surgeons in Dublin gemacht, in jenen Tagen, als Kondome und »Lolita« noch des Teufels waren, und war ausgezogen, für Geburtenkontrolle in der Republik zu streiten. Mit Mitte fünfzig zog er sich zurück und ging nach Afrika, und nach Jahren des Wirkens in verschiedenen, von Unruhen geschüttelten Ländern hatte es ihn nach Kairo verschlagen. Auf dem schwankenden Boden einer unsicheren Finanzierung durch Spenden katholischer Wohltätigkeitsorganisationen in der Heimat, die ihre Zuwendungen jederzeit einstellen konnten, verrichtete er hier seine Arbeit. Chronisch überbelegt und unterbesetzt, war sein kleines Krankenhaus die einzige Rettung für die bitterarmen Fellachen aus Oberägypten, die die Hoffnung auf ein besseres Leben nach Kairo gelockt hatte. Er verband ihre Wunden, fütterte sie mit Antibiotika, impfte ihre Kinder und verteilte Kondome, deren Anschaffungskosten er in seinen jährlichen Rechenschaftsberichten an die frommen Wohltäter klüglich verschleierte.
Er machte sich grade bereit für einen neuen Arbeitstag, als sie an die Tür klopften. Eins, zwei, drei hatte eine Schwester Naomi in einen Rollstuhl gesetzt und in ein Behandlungszimmer geschoben, und der Arzt beugte sich über Samihas Arm.
Es gab keine Fragen, kein langes Hin und Her. O’Malley wusste nicht mehr, wie viele Schusswunden er in all den vielen Jahren verarztet hatte, aber niemals hatte er die Polizei oder die Sicherheitskräfte bemüht. Ihm kam es einzig darauf an, Leben zu retten.
Während er arbeitete, besprach Jack mit Georgina, was als Nächstes zu tun war.
»Wir brauchen einen Computer«, sagte er. »Wenn Samiha sich in den Rechner einloggen kann, auf dem al-Masri seine Daten speichert, gelingt es ihr vielleicht, herauszufinden, wo die Bombe hochgehen soll und wie viele Kilotonnen Sprengkraft sie besitzt. Falls es sich um eine Mini-Nuke handelt, haben wir vielleicht mit nur einer Kilotonne zu rechnen oder weniger. Kairo wird nichts passieren, aber die Teilnehmer an der Konferenz werden zu Asche verglühen.«
»Ich habe zu Hause einen Mac. Mein Bruder hat ihn mir gekauft, bevor ich hierherkam. Jack, ich weiß nicht, ob ich Ihnen glauben soll oder nicht, aber wenn Ihre Geschichte wahr ist ... Willst du – wollen Sie mir nicht erlauben, den Botschafter zu unterrichten?«
»Wir können gern beim Du bleiben, schließlich sind wir so eine Art verschworene Gemeinschaft.« Jack lächelte. »Was den Botschafter angeht – er wird nicht bereit sein, auf Grund derart spärlicher Beweise wird er nichts unternehmen. Wir brauchen etwas Handfesteres.«
Eine Stunde später ging es Naomi wieder besser. Das Fieber war verschwunden, und Dr. O’Malley verkündete, sie wäre bald schon außer Gefahr.
»Im Krankenhaus haben sie gesagt ...«
»Lassen Sie sie reden. Übervorsichtige Leisetreter allesamt. Ich habe mehr Fälle wie diesen gesehen, als sie Vaterunser gebetet haben. Sie muss noch weiterbehandelt werden, aber in ein, zwei Tagen ist sie wieder auf den Beinen.«
»Ich will, dass sie spätestens heute Abend Kairo verlassen hat«, sagte Jack. »Kein Wenn und Aber, sie muss vor Mitternacht im Zug nach Alexandria sitzen.«
»Das könnte etwas schwierig werden.«
Jack ließ sich auf keine Diskussion ein.
»Ich komme heute Abend wieder. Sorgen Sie dafür, dass sie bis dahin reisefähig ist.«
Samiha bekam die Auskunft, man habe keine Bedenken, sie gehen zu lassen. Sie trug den Arm in der Schlinge, und man hatte ihr eine Bluttransfusion gegeben. Sie bestand darauf, Jack zu begleiten.
Jack überreichte O’Malley eine großzügige Spende.
»Sorgen Sie dafür, dass Naomi heute Abend kräftig genug ist, um in den Zug zu steigen«, sagte er, »und ich werde mich erkenntlich zeigen. Vielen Dank für das, was Sie bereits getan haben.«
»Vergessen Sie das Geld«, erwiderte der Doktor. »Wenn sie sich so weit erholt hat, dass ich sie guten Gewissens entlassen kann, wird sie entlassen. Wenn nicht, dann lasse ich sie nicht gehen, egal, mit wie viel Geldscheinen Sie winken.«
Jack schaute sich um. In der Ambulanz drängten sich Männer, Frauen und Kinder. Menschen ohne die einfachsten Lebensgrundlagen, die dennoch unbedingt leben wollten. Menschen, die nichts anderes kannten als Schmerz, auf der Suche nach wenigstens kurzzeitiger Linderung. Die Ärmsten der Armen, die Getretenen, die Gedemütigten, die Ausgestoßenen. Und ein Mann, der von sich glaubte, der Schatten Gottes zu sein, behauptete, er habe die Macht, sie aus ihrem Elend zu erlösen, er bringe ihnen das Heil in Gestalt eines Atompilzes. Jack fröstelte. Es war kalt draußen im Freien.