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Geblendet in Kairo
Kairo
Montag, 4. Januar
10.00 Uhr
Nur mit den Kleidern, die er anhatte, und dem Rucksack aus der Hütte, traf er in Kairo ein. Tags zuvor hatte er in Inverness abends noch eine Maschine nach London erwischt. Trotz eines Zwischenstops in Edinburgh reichte in Heathrow die Zeit für den Weg zum Terminal 4, um einen Platz für das Flugzeug der Egypt Air zu buchen, das kurz nach 22.00 Uhr in Kairo landete. Auf beiden Flügen hatte er sich alle Mühe gegeben, etwas zu schlafen, jedoch der Wirrwarr in seinem Kopf ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Sobald er einnickte, quälten ihn Alpträume von Tod und Verhängnis. Beim Verlassen des Flugzeugs hatte er einen Moment lang das Gefühl, nach Hause zu kommen, bis ihm einfiel, dass es für ihn kein Zuhause mehr gab. Der Mensch, der ihm das Kostbarste auf der Welt war, befand sich in der Gewalt von Mördern, für ihn unerreichbar und in allergrößter Gefahr.
Er hatte von Heathrow aus die Gilfillans angerufen, aber niemanden erreicht. Hoffentlich lag es daran, dass sie seinem Rat gefolgt und für ein paar Tage weggefahren waren. Ebenfalls von Heathrow aus hatte er die Helpline seiner Londoner Bank angerufen und entdeckt, dass er über Nacht zu Reichtum gekommen war. Emilias Lebensversicherung hatte gezahlt, einen erheblichen Betrag, aber davor war eine noch höhere Summe überwiesen worden, von einer ihm gänzlich unbekannten Organisation, Millenium Insurance 6 Ltd. Er hatte die junge Dame am anderen Ende der Leitung gebeten, die Zahlung zu überprüfen, weil er im ersten Moment an eine Fehlbuchung glaubte, aber sie versicherte ihm, die Überweisung wäre direkt von einem Konto bei der Coutt’s Bank in London erfolgt, genehmigt und unterzeichnet von einem Direktor der Firma mit den Initialen SH.
Erst nachdem er eingehängt hatte, erschloss sich ihm der Zusammenhang zwischen den Initialen der Pseudofirma und denen des Direktors. Eine großzügige Geste nach dem Tod einer geschätzten Mitarbeiterin? Oder die finanzielle Basis für seine Suche nach den Mördern seiner Frau? Wie auch immer, die beiden Beträge stellten sicher, dass er für den Rest seines Lebens dem Müßiggang frönen konnte – Ironie des Schicksals angesichts der Tatsache, dass er demnächst vermutlich ebenso tot sein würde wie Emilia und Simon.
Nach kurzem Überlegen rief er in der Filiale seiner Hausbank in Garden City an, über die er und Emilia die meisten ihrer Geldgeschäfte abgewickelt hatten. Dort war ebenfalls vor wenigen Tagen ihrem Konto eine erhebliche Summe gutgeschrieben worden. Offenbar hatte Simon vorausgedacht. Jack sah sich den Rest seines Lebens Formulare ausfüllen und von Pontius zu Pilatus laufen, bis ihm einfiel, dass dieser Rest seines Lebens vermutlich kürzer bemessen war als bei anderen Leuten, was solche Befürchtungen überflüssig machte.
Er mietete sich im billigsten Hotel ein, das er finden konnte, dem New Palace an der Soliman el Halaby Street, auf halbem Weg zwischen dem Bahnhof Ramses und dem Ägyptischen Museum. In der Szene der Rucksacktouristen war es legendär. Er hatte die Wahl zwischen einem Bett im Schlafsaal der Männer für zweieinhalb Dollar und einem Einzelzimmer für ungeheuerliche vier Dollar. Er entschied sich für Letzteres.
Mit der Masse Geld auf zwei Bankkonten hätte er eine Suite im Four Seasons oder dem Nile Hilton beziehen können, ohne bei den Preisen auch nur mit der Wimper zu zucken, aber dort saß er mehr oder weniger auf dem Präsentierteller. Mitten in der Stadt, in diesem Paradies für Backpacker, blieb er anonym. Jedes von Kairos exklusiven Hotels diente als Treffpunkt für Leute, denen er lieber nicht begegnen wollte, und die Gästelisten, im Computer geführt, konnten von jedem mit etwas Geschick ausspioniert werden.
Er hatte unter falschem Namen eingecheckt, als Jim Corbett, und ein kleines Bakschisch bewahrte ihn davor, seinen Reisepass an der Rezeption hinterlegen zu müssen. Morgen wollte er losgehen und sich nach einer preiswerten Unterkunft umsehen, in einer Gegend, wo man keine Fragen stellte.
Natürlich war da nach wie vor sein eigenes Haus in der kühlen, grünen Vorstadt Garden City, von der Botschaft aus zu Fuß zu erreichen, aber er konnte dort nicht einfach wieder einziehen: Jeder, der nach ihm suchte, würde zuallererst unter seiner alten Adresse nachsehen. Wahrscheinlich wurde das Haus beobachtet. Und wenn nicht, gab es dort einfach zu viele Erinnerungen, zu großen Schmerz. Er brauchte ein unauffälliges Quartier. Bis morgen Abend wollte er das Hotel verlassen haben, aber heute hatten erst einmal andere Erledigungen Vorrang.
Am frühen Morgen war er von den altvertrauten Rufen eines halben Dutzends Muezzins geweckt worden, welche die Gläubigen zum Gebet mahnten; die meisten dieser Rufe kamen vom Band und plärrten aus Lautsprechern. Besonders einer knisterte und knackte die ganze Zeit. Die Klarheit der Aussage litt darunter nicht: Es ist Zeit, aufzustehen und zu beten. »Beten ist besser als schlafen«, sangen die Muezzins. Seine Gedanken gingen wieder zu den Gilfillans. Hoffentlich war es Angus gelungen, den Geländewagen los zu werden.
Simon hatte ihm ans Herz gelegt, Scheherezade zu suchen, die Geheimnisvolle, und dazu, überlegte er, musste er mit jemandem in der Botschaft Kontakt aufnehmen, jemandem, der mit Simon Henderson zusammengearbeitet hatte oder mit Emilia oder der Naomi kannte und sich an sie erinnerte und an das, was ihr und ihrer Mutter zugestoßen war. Ihm fielen ziemlich viele Personen ein, die er auf Partys und bei Empfängen kennengelernt hatte, viele von Emilias Mitarbeitern, doch er konnte nicht beurteilen, welcher ein harmloser Angestellter war und wer ein Agent des Secret Intelligence Service SIS.
Bevor er sich auf den Weg zur Botschaft machte, beschloss er, sich neue, angemessene Kleidung zuzulegen. Die Notwendigkeit, anonym zu bleiben, stellte ihn vor einige Probleme. Um sich mit der nötigen Barschaft zu versehen, musste er bei einer Filiale seiner Bank vorsprechen, aber möglichst nicht bei der, wo man ihn von früher kannte.
Er sah Komplikationen auf sich zukommen, erst recht wenn er in den geliehenen Kleidern von Angus am Schalter auftauchte und eine große Summe von einem gut bestückten Konto abheben wollte. Auch in der Botschaft konnte er sich in diesem Aufzug nicht blicken lassen. Glücklicherweise hatte er lange genug in Kairo gelebt, um zu wissen, wie man Hindernisse umging. Alle, die es vorübergehend ins Ausland verschlagen hatte, im Auftrag einer Firma oder Behörde oder aus Abenteuerlust, kurz Expats genannt, waren gewieft, was das anging. Sie kannten die richtigen Leute, wussten, wer in welchem Ministerium für was zuständig war, wo man am meisten kriegte für wenig Geld, wessen Bruder wessen Vetter kannte. Das Problem war, er konnte die üblichen Taktiken nicht anwenden, nicht auf seine üblichen Kontakte zurückgreifen. Schlagartig und überdeutlich wurde ihm klar, dass er auf sich allein gestellt war.
Das Dilemma bestand darin: Wenn er nicht auffallen wollte, musste er sich in Kleidung und Benehmen der Masse anpassen, vielleicht sogar versuchen, sich als Araber auszugeben oder, besser noch, als hellhäutiger Tscherkesse aus Jordanien. Je nachlässiger die Erscheinung, desto glaubwürdiger, leider war es auch die sicherste Methode, um zu erreichen, dass ihm am Tor der Botschaft von einem höflichen, aber entschiedenen Wachposten der Zutritt verwehrt wurde.
Die Hoteldusche traktierte ihn abwechselnd mit heißen und kalten Wassergüssen, aber wenigstens konnte er sich den Schmutz der Reise vom Körper spülen. Nachdem er sich mit einem winzigen Handtuch abgetrocknet hatte, suchte er aus seiner beschränkten Garderobe das Beste heraus und zog sich an, dabei waren seine Gedanken bei der Explosion, die er vor einer Stunde oder so gehört hatte. Wo konnte das gewesen sein? War diesmal jemand getötet oder verletzt worden?
Ein Schritt aus der Tür des Hotels stürzte ihn übergangslos in das Tollhaus namens Kairo. Die Luft war grauweiß vom Staub der Zementfabriken, aus der Wüste herangewehter Sand fügte eine fahlgelbe Nuance hinzu. Auspuffgase von Autos, Bussen und Motorrädern waberten zum Schneiden dick über jeder Straße, jeder Kreuzung.
Verwöhnt von dem Aufenthalt in Schottland, wo die Luft reiner ist als rein, reagierten seine Nase und sein Hals sofort und machten dicht. Er wusste schon jetzt, dass er am Ende des Tages Schleim aushusten würde und beim Naseputzen Blut im Taschentuch haben. Sein Arzt hatte ihm einmal erklärt, das Einatmen der mit Schadstoffen belasteten Kairoer Luft wäre gleichbedeutend mit dem Rauchen von dreißig Zigaretten täglich. Nach ein paar Tagen würde sein Körper sich wieder daran gewöhnt haben.
Auch der Geräuschpegel der Stadt war überwältigend nach der tiefen Stille der schottischen Berge und Seen. Dominierend war das Blöken der Autohupen, von den Fahrern unermüdlich betätigt, in der irrigen Annahme, der Krach würde ihnen helfen, schneller vorwärtszukommen. Jeder Zentimeter Kairos röchelte im Würgegriff eines permanenten Verkehrsstaus. Ob in einer alten Rostlaube oder im Fond einer chauffierten Limousine, man bewegte sich im Schneckentempo voran. Der einzige Vorteil der Limousine war die Klimaanlage.