22
Tausendundeinenacht
Kairo
17.45 Uhr
Den Rest des Nachmittags kümmerte er sich um sein Konto und hob noch etwas Geld ab, um für die nächste Woche versorgt zu sein.
Bei seiner Rückkehr ins Hotel war es schon fast dunkel. Ein neuer Tag brach an. Nach seinem langen Aufenthalt in Schottland war er in ein Land zurückgekehrt, wo der Tag mit dem Untergang der Sonne begann und endete. Irgendwo erhob der erste Muezzin die Stimme, kaum hörbar durch den Verkehrslärm. Sekunden später gesellte sich eine zweite Stimme hinzu, dann eine dritte, bis die Lautsprecher von Kairos fünfzehntausend Moscheen das Brüllen der blechernen Hydra übertönten, wie um die Nacht auf die Millionenstadt herabzubeschwören.
Jack war beim besten Willen nicht imstande, zu deuten, was er in der Botschaft erlebt hatte, er stand vor einem Rätsel. Als Emilia ermordet worden war und er auch Naomi für tot halten musste, hatte er geglaubt, er könnte sich nie elender fühlen, innerlich so vollkommen leer. Er hatte nicht mehr klar denken können, wollte niemanden sehen, sich in der Einsamkeit verkriechen und wollte mit dem Schicksal hadern. Viele Male hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich umzubringen, sich draußen vor der Hütte in den Schnee zu legen und den Tod an sich herankriechen zu lassen, einzuschlummern und in den Tod hinüberzugleiten, ohne es zu merken. Im Hinterkopf hatte er allerdings immer gewusst, dass er nicht wirklich sterben wollte, er wollte nur von der schweren Last des Kummers erlöst sein.
Seine verzweifelte Flucht durch den Schnee hatte ihm gezeigt, wie stark sein Lebenswille war, und Simon Hendersons letzte Worte hatten ihm bewusst gemacht, dass er, mehr als alles andere, den Tod seiner Frau und seines alten Freundes rächen wollte und Naomi wiedersehen.
Heute jedoch hatte die depressive Stimmung ihn wieder eingeholt, ausgelöst durch die unerwarteten und auf den ersten Blick unüberwindlichen Hindernisse, die sich vor ihm auftürmten. Er konnte sich das Verhalten der Leute in der Botschaft nicht erklären, die Gleichgültigkeit, die dreisten Lügen, und erst recht nicht die kaum verhohlene Feindseligkeit, mit der man ihm begegnet war. Womit er diese provoziert hatte, war ihm ein Rätsel.
Er ging nach unten und rief von dem öffentlichen Fernsprecher dort die Gilfillans an. Wieder meldete sich niemand. Sie waren also noch nicht nach Hause zurückgekehrt, sondern hielten sich immer noch bei ihren Freunden oder Verwandten auf. Etwas anderes wagte Jack nicht zu denken. Er versuchte, seine Eltern in Norwich zu erreichen. Auch dort hob niemand ab. Das war beunruhigend. Seine Mutter und sein Vater verließen das Haus meist nur, um einzukaufen.
Zu guter Letzt und nur widerstrebend wählte er die Nummer seiner Schwester in Nottingham. Zwischen ihm und Sandra herrschte seit Jahren Funkstille. Sie war dagegen gewesen, dass er nach Kairo umsiedelte und sie, wie sie es auszudrücken pflegte, allein mit der Verantwortung für die schon betagten Eltern sitzenließ.
»Anschluss der Familie Metcalf.«
Sandra hatte von jeher eine spießige Art gehabt, sich am Telefon zu melden.
»Sandra«, sagte er. »Ich bin es, Jack.«
Ein ziemlich langes Schweigen folgte. Als Sandra dann antwortete, klang ihre Stimme weicher, als er sie in Erinnerung hatte.
»Jack, es tut mir so leid. Ich wollte dir schreiben, aber Mams und Paps meinten, du wolltest nicht gestört werden und haben mir deine Adresse nicht gegeben.«
»Macht nichts«, sagte er. »Ich hatte mich vorübergehend in mein Schneckenhaus zurückgezogen.«
»Furchtbar, der Verlust, den du erlitten hast. Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Es genügt schon, wenn du mit mir sprichst.«
»Wo bist du jetzt?«
»Nach der Beerdigung war ich in Schottland. Seit heute Morgen bin ich wieder in Kairo. Das Wieso und Warum kann ich dir jetzt nicht erklären, das ist alles ziemlich kompliziert. Aber mir geht es gut, so gut, wie man unter den gegebenen Umständen erwarten kann.«
Sie unterhielten sich über die Morde, und er berichtete ihr, dass Naomi wahrscheinlich noch lebte, aber gefangengehalten wurde, und anschließend wechselten sie einige Worte über Sandra und ihren Mann, über früher und über die Vergeblichkeit menschlichen Planens und Hoffens.
Dann war es Zeit, zum eigentlichen Zweck des Anrufs zu kommen.
»Sandra, du könntest mir einige Gefallen tun.«
»Alles. Liebe Güte, Jack, du musst geglaubt haben, ich wäre ein herzloses Ungeheuer. Mams und Paps haben mir Bilder von Naomi gezeigt; ich konnte gar nicht glauben, was für ein süßer Fratz sie gewesen ist. Ich hätte mich wie eine richtige Tante benehmen sollen, meiner kleinen Nichte Geschenke machen, ihr Briefe schreiben. Gott, es tut mir so leid. Ich hoffe inständig, dass du sie wohlbehalten wiederbekommst.«
Sandra hatte selbst keine Kinder, und um das ihr vorenthaltene Mutterglück kreiste ihr ganzes Sinnen und Trachten. Sie und ihr Mann Derek, ein Bankier, hatten es mit jeder denkbaren Methode künstlicher Befruchtung versucht, doch trotz aller Bemühungen war ihr eine Schwangerschaft versagt geblieben.
Er erklärte ihr, wer die Gilfillans waren, gab ihr die Adresse und bat sie, die Polizei in Inverness oder Fort Augustus anzurufen.
»Und ich möchte, dass du dich erkundigst, was mit Mams und Paps los ist. Sie gehen nicht ans Telefon. Nach den Vorfällen der letzten Zeit mache ich mir Sorgen. Kannst du mir Bescheid geben, ob alles in Ordnung ist?«
»Wie ist deine Telefonnummer?«
»Ich habe keine. Mein Handy ist in Schottland geblieben. Ich werde mir hier eins kaufen und rufe dich morgen an.«
»Okay. Kann ich noch etwas für dich tun? Brauchst du Geld?«
Er lachte.
»Sandra, das ist das Letzte, was ich brauche. In Geld kann ich baden. Ich habe Emilias Lebensversicherung, und es kam noch ein warmer Regen aus anderen Quellen. Denk nach. Hast du einen Herzenswunsch, den ich dir erfüllen kann? Du und Derek, was fehlt euch noch zu eurem Glück?«
Sie schwieg lange. Als sie antwortete, klang ihre Stimme brüchig.
»Ein Baby, Jack. Nur das fehlt uns zu unserem Glück, das ist unser einziger Wunsch.«
»Wunder kann ich nicht vollbringen.«
»Ich bitte nicht um ein Wunder. Es gibt ... es gibt eine neue Methode in Italien, aber die Behandlung kostet ein Vermögen ...«
»Informiere dich und lass mich dann wissen, wie hoch die Kosten sind. Vielleicht bekommst du dein Wunder ja doch.«
Sie plauderten noch eine Weile, dann legte er auf und beendete das teuerste Telefonat seines Lebens. Wie es aussah, sollte die ganze traurige Angelegenheit wenigstens ein Gutes haben.
Er verließ das Hotel, um irgendwo zu Abend zu essen. Auch das Hotel hatte eine kleine Speisekarte, aber plötzlich sehnte er sich nach einer vernünftigen Mahlzeit. Eine Schüssel Kuschari wäre das Richtige, dachte er und überlegte, von seinem Lieblingsrestaurant an der al-Tahrir-Street konnte er anschließend leicht einen Abstecher zur Universität machen und nachschauen, ob dort Briefe oder E-Mails für ihn lagen – etwas, wurde ihm jetzt klar, was er längst hätte tun sollen. Die Schlüssel zu seinem Büro befanden sich noch an dem dicken Bund, das ihn nach Schottland begleitet hatte und wieder zurück nach Kairo.
Er machte sich auf den Weg ins Zentrum. In seiner kürzlich erstandenen Galabija sah er nicht anders aus als jeder andere hellhäutige Ägypter auf der Straße, und niemand schenkte ihm einen zweiten Blick. Der Spaziergang durch die Abendkühle war angenehm, die Luft, nicht länger von der Sonne aufgeheizt, fast atembar. Unterwegs trat er in einen von Kairos unzähligen Handy-Shops und erstand ein Motorola V 620, das gleiche Modell, das er vorher gehabt hatte und im Schlaf bedienen konnte.
Zu bereits fortgeschrittener Stunde erreichte er schließlich das Restaurant, nach der Straße Al-Tahrir genannt. Früher war er an den Werktagen regelmäßig zum Mittagessen da gewesen, und die Bedienung kannte ihn. Das Al-Tahrir galt als die beste Adresse für Kuschari in der ganzen Stadt – er hatte es sich damals zum Prinzip gemacht, dieses Gericht nie woanders zu essen. Eine große Schüssel Kuschari gab es für drei ägyptische Pfund. Das Gericht bestand aus Makkaroni, Reis, Linsen, Kichererbsen und Röstzwiebeln, übergossen mit einer scharfen Tomatensauce. Jack spülte das Ganze mit einem Glas Kakula hinunter, der übersüßen ortsüblichen Version von Coca-Cola.
Während er aß, hatte sein Gehirn Muße, die Probleme zu analysieren, mit denen er sich konfrontiert sah. Er nahm sich jedes einzeln vor und versuchte zu erkennen, ob und wenn ja, in welcher Weise, eins das andere bedingte. Da die Botschaft ihn bei der Suche nach Naomi nicht unterstützen wollte, konnte er davon ausgehen, dass er auch vonseiten der ägyptischen Polizei und Sicherheitskräfte nicht auf Hilfe hoffen konnte. Man würde dort als Erstes bei der Botschaft Erkundigungen einholen, und er brauchte kein Genie sein, um sich vorstellen zu können, wie die Auskunft lautete. Immer noch konnte er beim besten Willen nicht verstehen, weshalb man ihn bei der Botschaft dermaßen kalt abgefertigt hatte oder was Richard Bailey, den guten Freund aus besseren Tagen, bewogen haben mochte, rundweg zu behaupten, er kenne ihn nicht. Er suchte nach Erklärungen, aber nichts erschien ihm plausibel.
Schließlich gab er auf. Als er sich im Lokal umschaute, fiel ihm ein Mann auf, der ihn anstarrte. Er lächelte und war erstaunt, als der Mann weder nickte noch sonst irgendwie den Gruß erwiderte. Irgendwie kam er ihm bekannt vor. Dann dachte er, dass er bei genauerer Betrachtung eine ziemlich ungewöhnliche Erscheinung sein musste, mit seinem englischen Gesicht über einer alltäglichen Galabija und gekrönt von der kleinen grauen Scheitelkappe.
Der volle Bauch hob seine Laune. Die Kakula verursachte einen Zuckerrausch, der nicht unangenehm war, auch wenn er zu spüren glaubte, wie sie seine Eingeweide zersetzte. Dieses Zeug war zehnmal schlimmer als das Original. Höchste Zeit, nach der Post zu schauen, dachte er, zahlte und verließ das Restaurant.
Die arabische Abteilung der Amerikanischen Universität lag auf dem Greek Campus, zusammen mit sämtlichen geisteswissenschaftlichen Fakultäten und der Universitätsbibliothek. Er bog von der al-Tahrir in die sehr viel schmalere Jussuf- al-Gundij ein und hatte etwa die Hälfte der Strecke zum Eingang des Gebäudes der Sozialwissenschaften zurückgelegt, als ihm einfiel, woher der Mann im Restaurant ihm bekannt vorgekommen war: aus der Barbierstube. Es war der Mann in der Gabardine-Galabija, der Mann, der ihn immer wieder verstohlen gemustert, aber seinen Blick gemieden hatte.
Im selben Augenblick erlosch die Straßenbeleuchtung. Stromausfälle waren in Kairo keine Seltenheit, doch als er sich umschaute, sah er die al-Tahrir nach wie vor in vollem Glanz erstrahlen. Ihm wurde bewusst, dass er mutterseelenallein war. Tastend setzte er seinen Weg fort, dicht an der Mauer des Gebäudes entlang, um die Tür nicht zu verfehlen.
Er hörte Schritte hinter sich. Kein Grund zur Panik: Überfälle waren selten in dieser Stadt, in der es fast keine Kriminalität gab, aber sie kamen vor, und Studenten waren oft die leichten Opfer.
»Wer ist da?«, rief er. Die Schritte verstummten. Er wiederholte die Frage. Unheimlich still war es hier, nur wenige Meter entfernt vom Getöse des Boulevards. Er ging weiter und verfluchte sich dafür, nicht an eine Taschenlampe gedacht zu haben.
Auch wenn er keine Schritte mehr hörte, er hatte das sichere Gefühl, nicht allein zu sein. Er blieb stehen und drehte sich um. »Wer ist da?«, fragte er wieder.
Keine Antwort. Nur die unheimliche Stille. Etwas flackerte in der Schwärze. Gleichzeitig hörte er wieder Schritte, diesmal aus der entgegengesetzten Richtung.
Ihm wurde mulmig, und er beeilte sich, die Tür zu erreichen. Er drückte dagegen, um sie aufzustoßen. Die Tür war abgeschlossen. Sie war nie abgeschlossen, so früh am Abend, nie. Jetzt näherten sich die Schritte von beiden Seiten, bedächtig, vorsichtig. Das waren keine Studenten, denn die waren grundsätzlich mit kleinen Taschenlampen ausgerüstet. Und auch keine Passanten, denn es gab keinen vernünftigen Grund, hier entlangzugehen, außer man hatte als Ziel dieses Gebäude oder das Gewirr der Fußwege rings um Pressebüro und Verwaltung auf dem Main Campus.
Ein scharrendes Geräusch, und Jack sah ein Flämmchen aufzucken, als die erste der unsichtbaren Gestalten ein Streichholz anriss, dann die rote Glut einer Zigarette, die in der Dunkelheit schwebte wie der Mars am nächtlichen Firmament.
Noch einmal rief er seine Frage ins Dunkel, und erneut antwortete ihm nur Schweigen. Er konnte den zweiten Mann leise atmen hören. Gedämpfte Schritte. Er legte sich einen Plan zurecht: den richtigen Moment abwarten, dann an dem ersten Mann vorbeistürmen und so schnell wie möglich zurück zur hell erleuchteten al-Tahrir, um in den Menschenscharen unterzutauchen.
»Wenn ihr Geld wollt«, sagte er laut, »das gebe ich euch freiwillig. Also bleibt ganz ruhig.«
Plötzlich blendete ihn ein grelles Licht; er kniff die Augen zusammen. Einer der Männer leuchtete ihm mit einer Taschenlampe genau ins Gesicht. Als er den Kopf zur Seite wandte, sah er für den Bruchteil einer Sekunde seinen ersten Verfolger, scherenschnittartig vom Lichtstrahl aus der Dunkelheit gerissen, bevor die Taschenlampe gesenkt wurde. Der kurze Moment hatte Jack genügt, um zu sehen, dass der Mann in der rechten Hand ein Messer hielt. Ein Messer mit breiter Klinge. Es war ein großer, kräftiger Mann, auch das hatte er gesehen, und auf der schmalen Straße blieb nicht genug Platz, um an ihm vorbeizulaufen, ohne in die Reichweite seiner Arme oder dieser Klinge zu kommen.
Der Mann mit dem Messer spuckte aus. »Geben Sie uns das Schwert, Professor, und Ihnen geschieht nichts.«
»Ich habe das Schwert nicht.« Jack zeigte seine leeren Hände.
»Dann führen Sie uns dorthin, wo es versteckt ist. Sobald wir es haben, lassen wir Sie gehen. Ihre Tochter ebenfalls. Sie haben mein Wort.«
»Das Wort eines Entführers? Das Wort eines Mörders?«
»Wenn Sie uns das Schwert nicht geben, wird Ihre Tochter eines langsamen, qualvollen Todes sterben. Das verspreche ich Ihnen.«
Während der zweite Mann mit der Taschenlampe leuchtete, tat sein Kumpan einen raschen Schritt nach vorn und ließ das Messer vorschnellen. Jack schlüpfte unter der Klinge hindurch, warf sich wie beim Rugby gegen den Angreifer und riss ihn zu Boden. Die Überrumpelung gelang; der Mann war zu verdutzt, um sich zu wehren. Jack rappelte sich hoch und setzte zum rettenden Spurt an, aber der Mann mit dem Messer, obwohl von dem Sturz benommen, sprang noch schneller auf, das Messer in der Faust.
Ein Schuss hallte zwischen den Mauern. Vor Jacks weit aufgerissenen Augen öffnete sich die Faust des Angreifers, das Messer klirrte auf das Straßenpflaster. Ein krampfhaftes Zittern schüttelte den Körper des Mannes. Die Zigarette fiel ihm aus dem Mund. Blut quoll über die erschlafften Lippen, schwarz und dick im Licht der Taschenlampe, wie Schönschreibtinte. Jack hörte ihn gurgeln, sah, wie er umkippte und sich nicht mehr rührte.
Die Taschenlampe schwenkte im Halbkreis herum und erfasste eine schwarzgekleidete Gestalt, die aus der Gassenmündung gegenüber der Tür zum Vorschein kam. In der Hand des Neuankömmlings schimmerte eine kurzläufige Pistole. Bevor der zweite Angreifer die Lampe wegwerfen und davonlaufen konnte, wurde auch er getroffen: ein einzelner Schuss in den Kopf, unmittelbar gefolgt von dem Coup de Grâce auf den am Boden Liegenden. Jack erkannte den »double tap«, eine von allen Spezialeinheiten weltweit praktizierte Tötungsmethode.
Der Schwarzgekleidete wandte sich an Jack.
»Sind Sie unverletzt?«
Er nickte betäubt. Sprechen konnte er nicht.
»Dann lassen Sie uns von hier verschwinden«, sagte sein Retter, der bereits wieder mit der Dunkelheit verschmolzen war.
»Was hat das zu bedeuten?«, brachte Jack endlich heraus, immer noch verstört und keineswegs beruhigt. »Wer sind Sie?«
»Ich bin Scheherazade«, antwortete die Gestalt. »Die Polizei wird jeden Augenblick kommen. Wir sollten uns beeilen.«