25
Rot wie Blut und Weiß wie Schnee

Südfriedhof

Kairo

Die Feierlichkeiten hatten bei Sonnenuntergang begonnen und würden weitergehen bis 2.00 oder 3.00 Uhr morgens. Niemand im Viertel würde schlafen heute Nacht. Niemand, außer den Toten. Die eigentliche Eheschließung hatte bereits vor Stunden stattgefunden, als im Rahmen einer einfachen Zeremonie im Haus der Braut ihr Vater im Beisein des maßgeblichen Scheichs in ihrem Namen den Ehevertrag unterzeichnete. Bei dieser Gelegenheit hatte sie zum ersten Mal ihren Ehemann zu Gesicht bekommen, hatte die Warzen auf seinen Händen gesehen, als er das Dokument unterschrieb, hatte sich von seinen wässrigen Augen ausgezogen gefühlt. Etwas in ihr war gestorben in diesem Moment. Den Rest des Tages hatte sie zu Hause gesessen und geweint, bis man sie kurz vor Mitternacht zu ihrem Ehemann brachte, zum Hochzeitsdefilee.

Die Feier hatte lange vorher ihren Anfang genommen, pünktlich bei Sonnenuntergang; die Dunkelheit war erfüllt von Musik und dem kehligen, trillernden Geheul der Freundinnen und weiblichen Verwandten der Braut.

Jack war auf einem Dutzend Hochzeiten wie dieser gewesen, in fast jedem Teil Kairos, aber nie zuvor in der Stadt der Toten. In den besseren Gegenden kosteten die luxuriösen Hochzeitsfeiern in den Grand Hotels mehr als das künftige Zuhause des jungen Paars. Die Braut dieses Abends würde kein neues Haus beziehen, sondern mit ihrem Gatten und seinen anderen Frauen in seiner alten Wohnstatt hausen. Die Feier war nicht von Profis ausgerichtet, sondern hausgemacht von der Familie und den Nachbarn. Mit vereinten Kräften hatte man ein Fest auf die Beine gestellt, an das man sich erinnern würde, bis das nächste neuen Gesprächsstoff lieferte. Er geleitete Dschamila durch den Eingang auf das Festgelände.

Man hatte einen breiten Weg zwischen zwei Gräberreihen mit den leuchtend roten Zeltvorhängen abgesperrt, die für alle örtlichen Festivitäten herhalten mussten, vom Geburtstag des Propheten bis zu den Paraden kleiner Jungen vor ihrer Beschneidung.

Bunte Lichtergirlanden webten eine Art Dach, andere schmückten das Geäst winterlicher Bäume. Die Lautsprecher, aus denen die Musik schallte, hatten die Ausmaße kleiner Lastwagen.

Überall kämpften mit Gas betriebene Heizstrahler gegen die Nachtkälte.

Braut und Bräutigam thronten in einsamer Pracht am Ende des Festplatzes auf hochlehnigen vergoldeten Stühlen auf einem von Plastikblumen umstandenen Podium. Sie waren gegen halb zwölf eingetroffen und den breiten Weg entlanggeschritten, durch ein Spalier der Frauen, die bunte, knöchellange Gewänder trugen und die Hände mit Henna rot gefärbt hatten. Sie schnatterten mit schrillen Vogelstimmen und ehrten das Brautpaar durch das traditionelle an- und abschwellende kehlige Trillern, das über die Gräber hallte.

Jack richtete den Blick dorthin, wo Chadidscha, die Braut, steif auf ihrem Thron saß wie ein bemaltes Püppchen. Der kindliche Körper steckte in einem voluminösen weißen Brautkleid, etliche Nummern zu groß für sie, das jeder Braut angezogen wurde, die in der Nachbarschaft heiratete. Ihr Mann, der die Prozedur schon dreimal mitgemacht hatte, blickte strahlend auf das Gewimmel seiner Gäste. Der alte Bock dachte voller Vorfreude daran, wie er später Chadidscha entjungfern würde, und hoffte, dass keine seiner anderen Frauen deswegen nachher ein Spektakel veranstaltete.

Alle waren gekommen. In Ägypten ist eine Einladung zur Hochzeit so etwas wie eine Anordnung des Präsidenten. Keiner sagt ab, außer er liegt auf dem Sterbebett.

Am unteren Ende des Platzes saßen die Männer auf Holzstühlen; ab und zu erhoben sich welche, um miteinander zu tanzen. Gemischte Paare gab es nicht, überhaupt hielten sich die Geschlechter streng getrennt. Am entgegengesetzten Ende forderten die festlich herausgeputzten Frauen die Braut auf, mit ihnen zu tanzen, aber Chadidscha schüttelte den Kopf. Sie hatte Angst, sich zu blamieren. Zu Hause hatte sie gern Popmusik gehört, aber man hatte ihr eingeschärft, dass ihr Gatte laute Musik jedweder Art verabscheute und keineswegs dulden würde, dass die Ruhe seines Hauses durch abartiges Gedudel gestört wurde.

Seit der Schüssel Kuschari früher am Abend hatte Jack nichts mehr gegessen, und der Duft des auf Propangaskochern in den umliegenden Küchen garenden Festmahls stieg ihm verführerisch in die Nase. In großen Töpfen brodelten Lamm, Hühnchen, Reis, Makkaroni und Auberginen.

Bereits aufgetragene Schüsseln und Platten mit Salat, frittierten Pastetchen und honigsatten Kunafa sorgten dafür, dass den Gästen das Wasser im Mund zusammenlief. Kleine Kinder, die sich einbildeten, unsichtbar zu sein, schlüpften unter die Tische, sprangen hervor und stibitzten so viel süß gefüllte Backwaren, wie sie nur konnten, während eine aufgeregte Frau vergeblich die Hände schwenkte, um sie zu verscheuchen.

Im selben Moment, als Jack und Dschamila sich auf den Weg zum Podium machten, um dem Brautpaar zu gratulieren, wurde die Konservenmusik abgeschaltet, und ein mit Trommeln, Uds, einer Rohrflöte und einer nach der arabischen Tonleiter gestimmten Geige ausgerüstetes Musikerensemble erklomm eine niedrige Bühne. Kaum hatten sie Platz genommen, begannen sie das traditionelle Hochzeitslied Arustak al-Halwa zu trommeln, zu zupfen, zu kratzen und zu flöten, »Deine Braut ist süß«.

Dschamila hatte auf den Gesichtsschleier verzichtet. Sie wurde von den Freundinnen erspäht, die sie gewonnen hatte, seit sie hier wohnte. Gleich waren sie und Jack von ihnen umringt.

»Dschamila, Liebes, wo hast du den ganzen Abend gesteckt? Ich habe überall nach dir Ausschau gehalten. Wir dachten schon, du kommst nicht.«

Die Sprecherin war eine stattliche Nubierin, die zwei Grabstätten weiter lebte. Sie hatte eine Lücke in ihren strahlend weißen Zahnreihen, und die Innenseite ihrer Hände schmückten mit Henna gezeichnete Spitzenmuster. Auch die anderen Frauen winkten Dschamila mit den Fingern und wollten wissen, weshalb sie so spät käme.

»Mein Mann ist erst vor wenigen Stunden wieder nach Hause gekommen«, gab sie Auskunft und deutete schüchtern auf Jack, der sich wand und verlegen lächelnd ein paar Begrüßungsworte murmelte. Je weniger er redete, desto besser, dachte er.

Nachdem die Frauen Gelegenheit gehabt hatten, ihn in Augenschein zu nehmen und Dschamila zu seiner Rückkehr zu beglückwünschen, wurde er in die Richtung des männlichen Kontingents geschickt.

»Ich will nicht, dass du hier bleibst«, raunte Dschamila ihm zu. »Die anderen Frauen werden sonst nur eifersüchtig, weil du so viel ansehnlicher bist als ihre eigenen Ehemänner, und dann verfluchen sie uns mit dem bösen Blick und, ehrlich gesagt, noch mehr Unglück können wir nicht brauchen.«

»Du glaubst doch nicht an diesen alten Hokuspokus?«, fragte er, obwohl er noch keinen Ägypter kennengelernt hatte, der dagegen immun gewesen wäre.

Sie scheuchte ihn weg, und er verdrückte sich in den Männerbereich. Man hatte ihn in Augenschein genommen, mit dem Etikett »Ehemann« versehen im Gedächtnis gespeichert, und er war nun nicht länger mehr Gegenstand von Spekulationen. Der Kaffee, den er getrunken hatte, bevor sie herkamen, hatte seinen Blutdruck unangenehm in die Höhe getrieben, er spürte es wie ein Summen in seinem Kopf und im ganzen Körper. Ihm graute vor dem Gedanken, wie sein Kopf sich anfühlen würde, wenn er am Morgen aufwachte, falls er überhaupt aufwachte. Das Mädchen auf dem Podium sah fast so jung aus wie Naomi, und die Vorstellung, dass der alte Sack daneben sich demnächst über sie hermachen würde, brachte ihn in Wut, zumal er automatisch an seine Tochter denken musste – wo sie festgehalten wurde, ob sie noch lebte und ob man ihr Gewalt angetan hatte.

Neugierige Blicke begleiteten ihn auf seinem Weg durch die Umfriedung. Man hatte ihn vom ersten Moment an als nicht zugehörig eingestuft, auch wenn die vertraute Begrüßung Dschamilas durch die Frauen geholfen haben mochte, latentes Misstrauen zu zerstreuen. Schließlich sah er nicht besonders ägyptisch aus; wegen seiner hellen Haut und des schwer einzuordnenden Dialekts hatte man ihn schon früher oft für einen Tscherkessen aus Jordanien oder Syrien gehalten. Außenseiter waren nicht willkommen in eng verwobenen Gemeinschaften wie dieser, und er hätte es lieber vermieden, in Unterhaltungen einbezogen zu werden. Ein Ausrutscher, und die Situation konnte schwierig bis unangenehm werden.

Frauen und Mädchen schleppten aus den Küchen die dampfenden Töpfe heran. Jack schnupperte. Er begrüßte die Ablenkung ebensosehr wie die Aussicht auf ein spätes Abendessen.

In der musikalischen Untermalung trat eine Pause ein, als die Ud-Spieler ihre Instrumente stimmten, was wegen der Kälte häufig nötig war. Irgendwo draußen auf der Straße hörte man ein Auto kommen und anhalten. Ein zweites und ein drittes. Verspätete Hochzeitsgäste waren eingetroffen.

Die Band fing wieder an zu spielen. Auf Plastiktellern wurde das Essen serviert. Kinder wieselten um die Tische und versuchten, sich selbst zu bedienen. Gläser mit Fruchtsaft wurden herumgereicht. Der Bräutigam befahl der Braut, gerade zu sitzen und zu lächeln. Noch mehr Töpfe wurden gebracht und auf Schragentische gestellt. Eine Gruppe Frauen überredete Chadidscha, vom Podium herunterzukommen und gemeinsam mit ihnen zu essen. Ihre Schwester war da, und von einer Seite kam ihre Mutter herbei, eine schwere Tonschüssel in den Armen. Die Musik schwoll an und ab. Die Großmutter der Braut stand auf und vollführte einen kurzen Tanz, beklatscht von ihren Freundinnen, einer Schar zäher alter Vetteln.

An beiden Enden des Festplatzes wurden die Vorhangtücher auseinandergeschlagen, dann auch an den Seiten. Die zu spät Gekommenen waren eingetroffen. Von den mit Essen beschäftigten Gästen nahm sie anfangs keiner wahr. Es waren Männer, und sie trugen lange schwarze Gewänder, und als sie in der Umfriedung standen, huschten ihre Blicke über den Platz, auf der Suche nach etwas. Oder jemandem.

Dschamila war die Erste, die bewusst von ihnen Notiz nahm, und ihr blieb fast das Herz stehen. Das waren keine Hochzeitsgäste, das waren keine Halbwüchsigen aus einem anderen Viertel, die gekommen waren, um zu schmarotzen. Sie schaute zum Männerbereich, in der Hoffnung, Jack unauffällig ein Zeichen geben zu können. Völlig gleichgültig, wie man sie gefunden hatte, es kam jetzt einzig darauf an, dass sie und Jack möglichst schnell und unauffällig von hier verschwanden.

Die schwarzgewandeten Gestalten mischten sich unter die Feiernden. Hier und dort waren Gäste auf sie aufmerksam geworden und erkannten, dass sie nicht die Absicht hatten mitzufeiern. Man brauchte niemandem zu erklären, wer sie waren. Es kursierten genug Berichte darüber, dass sie die Gewohnheit hatten, Hochzeitsfeiern zu sprengen, weil sie die Musik und das Tanzen – obzwar nach Geschlechtern getrennt – als Sünde betrachteten, nach ihrer sittenstrengen Auffassung des Islam. Insgeheim verdrehte man die Augen und seufzte, weil man fürchtete, auch diesem Fest könnte ein abruptes Ende beschieden sein.

Das fürchtete auch Dschamila: ein abruptes und, wenn sie nicht großes Glück hatten, ein blutiges Ende. Mit einer gemurmelten Entschuldigung stand sie auf und ging auf die Suche nach Jack. Verflixt, dachte sie und schlängelte sich zwischen halbwüchsigen Mädchen hindurch, die sich selbstvergessen in einem langsamen Tanz wiegten – wo steckt er bloß? Dumm war nur, wenn sie ihn in der Menge ausmachen konnte, dann konnten es die anderen auch. Sie hätte ihn nicht herbringen dürfen. Und selbst nicht unbewaffnet kommen.

Jack waren die Fremden noch nicht aufgefallen, doch als er einmal den Blick hob, sah er Dschamila auf sich zueilen. Proteste ertönten, als einige der Gäste sie in den Männern vorbehaltenen Bereich eindringen sahen. Sie achtete nicht darauf, stattdessen versuchte sie, die Bewegungen der schwarzgekleideten Gestalten im Auge zu behalten, während sie gleichzeitig nach Jack ausschaute.

Endlich entdeckte sie ihn: Er winkte ihr zu, erstaunt über ihr Auftauchen, dann aber bemerkte er den Ausdruck auf ihrem Gesicht und wusste, es drohte Gefahr. Er schaute sich um und sah einen Mann in schwarzer Galabija und mit schwarzem Bart zielstrebig die Menge zerteilen, sah auch, dass der Mann eine Waffe bei sich hatte, eine kompakte Maschinenpistole, deren Form an eine Uzi erinnerte. Von der entgegengesetzten Seite tauchten zwei ähnliche Gestalten auf, die es ebenfalls eindeutig auf ihn abgesehen hatten. Dschamilas Zuruf erreichte ihn über das Stimmengewirr und den Klang der Lauten hinweg.

»Jack, schnell! Hierher!«

Er wollte ihr entgegenlaufen, aber aufgestapelte Stühle versperrten ihm den Weg. Er stieß sie zur Seite, stolperte, der erste Mann holte ihn ein, bekam ihn an der Schulter zu fassen und war mit ein, zwei Schritten dicht hinter ihm, um ihn fester zu packen. Seine Kumpane waren nur noch wenige Meter entfernt, und weitere näherten sich aus verschiedenen Richtungen. Überall wurde nun gerufen und geschrien, und die Musiker hörten einer nach dem anderen auf zu spielen.

Der Mann hinter Jack legte ihm den freien Arm um den Hals. Das war sein Fehler. Jacks sämtliche Kampfinstinkte, antrainiert in jahrelanger Ausbildung und im Kampfeinsatz erprobt, wurden schlagartig aktiviert. Er sank in die Umklammerung, ließ einen Arm fallen und drehte sich plötzlich, die Taille des Angreifers als Achse benutzend, brachte ihn aus dem Gleichgewicht, hebelte sein Standbein aus und warf ihn zu Boden. Dem völlig Überrumpelten entfiel die Waffe. Jack bückte sich, riss den Mann hoch und fällte ihn mit einem Genickschlag endgültig. Sein nächster Griff galt der Waffe. Er identifizierte sie sofort als chinesischen Uzi-Nachbau. Nicht halb so gut wie das Original, aber viel besser als gar nichts.

Als er sich aufrichtete, war plötzlich ein Mann hinter ihm, den er nicht bemerkt hatte, und drückte ihm die Mündung seiner MP in den Nacken. Jemand stieß einen Schrei aus, dem einen folgten weitere, pflanzten sich fort über den ganzen Platz. Dschamila tauchte vor Jack auf; die anderen beiden Bewaffneten kämpften sich durch die aufgeregte Menge.

»Die MP, Jack! Wirf sie her!«

Er zögerte nicht. Sie fing sie auf, wirbelte herum, eröffnete das Feuer und tötete die beiden Männer, die sie fast erreicht hatten. Sie wusste, der Mann, der Jack die Pistole an den Kopf hielt, würde nicht wagen abzudrücken.

Ganz ruhig nahm sie als Nächstes ihn ins Visier.

»Hau ab!«

»Ich erschieße ihn«, sagte der Mann. »Ich habe schon viele Ungläubige wie ihn getötet. Er ist für mich bedeutungslos.«

»Das ist er nicht, im Gegenteil. Wenn du ihn tötest, wirst du das Schwert nie finden. Ich weiß nicht, wo es ist. Er hat es mir nicht gesagt.«

Schnelle Schritte näherten sich, jemand brüllte, man solle sie und Jack in die Zange nehmen.

Der Bewaffnete zögerte den Bruchteil einer Sekunde, Jack beschrieb auf einem Fuß eine halbe Pirouette, umfasste den Lauf der Maschinenpistole und rammte seinem Bedränger das Knie zwischen die Beine. Der Mann fiel schreiend um, beide Hände auf die malträtierten Kostbarkeiten gepresst.

Der zweite Trupp hatte sie fast erreicht. Der Vorderste hielt die MP in Hüfthöhe und zielte auf Dschamila. Jack hob Uzi-Kopie, deren er sich soeben bemächtigt hatte, und zerfetzte seinen Oberkörper mit einer Salve von 9 mm Geschossen. Blut spritzte nach allen Seiten, besudelte die Gäste, die in kopfloser Panik durcheinanderliefen. Jack fluchte, als er noch mehr Bewaffnete herankommen sah, denn er wagte nicht, auf sie zu schießen; zu groß war das Risiko, Unbeteiligte zu treffen.

Dschamila hielt Umschau. Jeder Eingang war bewacht. Doch es gab einen Fluchtweg, an den vielleicht niemand gedacht hatte.

»Schnell!« rief sie. »Komm mit.«

Jack heftete sich an ihre Fersen. Ein Mann sprang von der Seite vor Dschamila hin und richtete die MP auf ihre Brust, aber sie holte in vollem Lauf mit der Waffe aus und zerschmetterte ihm den Unterkiefer. Er fiel zu Boden und krümmte sich vor Schmerzen.

Sie erreichten den Bereich der Frauen, schafften sich freie Bahn, indem sie Stühle und Tische im Vorbeilaufen hinter sich stießen, ein Hindernisparcours für ihre Verfolger.

Einer von diesen schickte ihnen einen Feuerstoß nach, fehlte und traf ein Trüppchen verängstigter Frauen, die sich in Sicherheit bringen wollten. Drei von ihnen waren auf der Stelle tot, ihre festlichen Kleider mit Blut getränkt.

Braut und Bräutigam sahen überrascht, verstört und schreckensstarr, wie ihre Hochzeitsfeier sich in ein Inferno verwandelte. Die kleine Chadidscha konnte sich nicht rühren. Sie wäre gern weggelaufen, aber in ihrem Hochzeitskleid konnte sie nur winzige Schritte machen. Gamal, ihren Ehemann, hielt hingegen nichts auf seinem Stuhl. Er sah Leute heranzukommen, einen Mann und eine Frau, verfolgt von Männern mit Maschinenpistolen. Er sprang auf und war mit einem Satz von dem Podium herunter, seine jugendliche Braut überließ er ihrem Schicksal.

»Hier lang«, rief Dschamila. »Hinter dem Podium ist ein Ausgang.«

Zwei weitere Verfolger hatten das Feuer eröffnet. Kugeln trafen wahllos jeden, der zu langsam oder zu gebrechlich war, um sich aus der Schusslinie zu bringen.

Bei dem Podium angelangt, konnte Jack keinen Ausgang entdeckten.

»Wir müssen drüber weg«, erklärte Dschamila atemlos. »Dahinter ist eine kleine Treppe.«

Jack sprang auf die Plattform, streckte die Hand aus, um Dschamila zu sich heraufzuziehen. Der Schreck über das Auftauchen der beiden Fremden bewirkte, dass Chadidscha die Lähmung abschüttelte. Sie schnellte von ihrem Stuhl hoch und schrie. Schrie die Bewaffneten an, hört auf, geht weg, tut mir nichts. Eine Uzi stotterte, und eine Girlande roter Blüten entfaltete sich auf dem paillettenbesetzten Vorderteil, eine purpurne Schärpe von der Schulter bis zur Hüfte. Kugeln schlugen in ihr Herz, die Lunge und den Magen, durchbohrten die Nieren, zerfetzten die Leber, zerstörten ihr kurzes Leben und die wenigen, bescheidenen Kleinmädchenträume, die sie je zu haben gewagt hatte. Die Gebete der Familie wurden erhört, und Chadidschas Hochzeitsnacht war gekrönt von Blut.

Dschamila beugte sich zu ihr hinab, aber Jack erkannte, dass da nicht mehr zu helfen war, und zog sie hinter sich her zur Treppe, die wenigen Stufen hinunter und durch die Tücherwand.

Dahinter umfing sie – nach der Helligkeit der beleuchteten Umfriedung – tiefe Dunkelheit.

»Wir müssen verschwinden«, meinte Jack.

Dschamila zog ihn zu der nächsten Türöffnung, doch er schüttelte den Kopf.

»Verstecken funktioniert nicht. Sie werden alles absuchen. Verstärkung rufen. Wir brauchen unbedingt einen fahrbaren Untersatz.«

»Dann müssen wir dorthin.« Dschamila erinnerte sich an die Richtung, aus der sie die letzten Autos kommen gehört hatte.

Sie liefen weiter, im Dunkeln strauchelnd und stolpernd, trotzdem war es für sie kein Grund zur Freude, als es hinter ihnen hell wurde, denn Männer mit Maschinenpistolen stürmten durch denselben Ausgang, den sie genommen hatten, und einige rissen die Tücher herunter, um für die anderen Platz zu schaffen.

Jack warf einen Blick über die Schulter; ihre Verfolger zeichneten sich als Schattenrisse vor dem erleuchteten Hintergrund ab. Er selbst stand knapp außerhalb des Scheins der bunten Lichtergirlanden in der Umfriedung.

Mit einer Handbewegung bedeutete er Dschamila, sich zu ducken, ging auf ein Knie nieder, hob die Uzi und jagte in schneller Folge etliche kurze Feuerstöße hinaus. Er konnte nicht beurteilen, wie viele Gegner getroffen wurden, aber ein Kanon von Schmerzensschreien verriet ihm, dass einige Projektile ein Ziel gefunden hatten.

Dschamila war inzwischen weitergelaufen, bis zu einer Kreuzung, wo ihr Fußweg von einer breiteren Straße gequert wurde. Eine einsame Laterne warf ihr trübes Licht auf den von Schlaglöchern übersäten Asphalt.

»Jack, beeil dich! Hier stehen ihre Autos!«

Er feuerte noch eine Salve ab, sprang auf und lief zu ihr hin. Hinter ihm ein tackernder Feuerstoß und das Jaulen von Kugeln, die links an ihm vorbeiflogen.

Vier Autos waren mitten auf der Straße stehengelassen worden.

»Die Schüssel stecken!«, rief Dschamila. Sie saß bereits hinter dem Steuer des vordersten Wagens, hatte den Motor gestartet und wartete darauf, dass er einstieg. Er lief zur offenen Tür.

»Komm raus und gib mir Deckung«, keuchte er.

Im Nu war sie neben ihm.

»Bleib hinter diesem Wagen und halt sie mir vom Leib, so lange du kannst.«

Von der Wegmündung her wurden sie unter Feuer genommen. Im Schutz der Motorhaube des mittleren Autos kauernd, erwiderte Dschamila den Schusshagel, hielt auf die Silhouetten der Angreifer und setzte wenigstens einen außer Gefecht.

Jack lief unterdessen von Auto zu Auto und zog überall die Zündschlüssel ab. In Kairo war es üblich, den Schlüssel steckenzulassen: Autodiebstahl war so gut wie unbekannt. Er versenkte die Schlüssel in der Tasche seiner Galabija.

»Nichts wie weg hier!«, rief er. Dschamila wollte noch einmal feuern, aber der Abzug klemmte. Fluchend schleuderte sie die Uzi zur Seite.

Sie sprinteten zum vordersten Wagen. Dschamila warf sich hinter das Lenkrad. Jack war noch damit beschäftigt, auf den Beifahrersitz zu klettern, als sie das Fahrzeug mit durchgetretenem Gaspedal in die Nacht hinein katapultierte. Ein Schussgewitter brach los, das Heckfenster zerbarst in tausend Stücke. Dann waren ihre Angreifer nur noch Schatten im Rückspiegel. Augenblicke später hatte die Dunkelheit sie verschluckt.

Das Schwert - Thriller
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