12
... das Ungeheuer aus seinen schlimmsten Träumen
Das Haus der Goodrichs
Garden City
Am nächsten Morgen
Dienstag, 19. September
Am Vormittag nahm er sich als Erstes das Schwert vor, anschließend beschäftigte er sich mit dem Brief von Said ibn Thabit. Als er endlich eine zufriedenstellende Übersetzung zustande gebracht hatte, stapelten sich auf seinem Schreibtisch die Nachschlagewerke. Außerdem hatte er Werke der besten präislamischen und frühislamischen Dichtkunst zu Rate gezogen. Alle Zweifel, die er vielleicht noch gehabt hatte, als er mit der Arbeit anfing, waren bald zerstreut. Entweder handelte es sich bei dem Brief um eine geradezu geniale Fälschung, oder er war authentisch. Jack tendierte zu Letzterem.
Die Inschrift auf dem Schwert hatte sich letztlich als gar nicht so harte Nuss erwiesen. Sie lautete schlicht: Mein Name ist al-Adb. Ich bin das Schwert des Propheten und der Verderber der Heiden. Jack war bereit, für die Echtheit zu garantieren.
Gegen halb elf begann er sich zu wundern, dass er noch nichts von Mehdi gehört hatte. Der Buchhändler hatte ein Handy und Jacks Privatnummer, und Jack wusste, wie erpicht er darauf war, die Verkaufsverhandlungen in Gang zu bringen. Jack griff zum Telefonhörer. Er wählte Mehdis Nummer, aber keiner meldete sich.
Er wählte die Nummer der Botschaft und fragte nach Emilia. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass sie aufgehalten worden war und keine Zeit mehr gehabt hatte, zu Mussa zu fahren. Er bat darum, in ihr Büro durchgestellt zu werden, aber die Stimme, die sich meldete, war die eines Mannes. Jack erkannte in dem Sprecher Simon Henderson, Emilias Chef. Im Lauf der Jahre waren sie sich einige Male begegnet.
»Hallo? Hier ist das Büro von Emilia Goodrich. Sie ist im Moment nicht im Haus, aber vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
»Simon? Hier ist Jack. Was ist passiert, weshalb ist Emilia nicht da? Sie wollte zur Arbeit, als sie heute Morgen losgefahren ist.«
»Hallo, Jack. Das trifft sich gut, ich wollte Sie anrufen, aber etwas Wichtiges kam dazwischen, und ich musste es verschieben. Ich dachte, Emilia ist zu Hause geblieben, sie ist vielleicht krank oder hat einen Kater oder so was.«
»Emilia hat nie einen Kater, Simon. Und sie war nicht krank, sondern wollte ins Büro. Sie hat Naomi mitgenommen. Ich hatte sie gebeten, jemandem eine Nachricht von mir zu überbringen, dann wollte sie weiter zu Ihnen.«
»Aber in der Botschaft ist sie nicht.«
Jacks Herz setzte einige Schläge aus.
»Vielleicht ist sie direkt zu einer Konferenz gegangen, von der Sie nichts gewusst haben.«
Simon stieß ein kurzes, freudloses Lachen aus.
»Ihre Konferenz fand heute Vormittag statt. Ich musste für sie einspringen. Das hat mich daran gehindert, Sie anzurufen. Haben Sie in Naomis Schule nachgefragt?«
»Nein, noch nicht. Sie haben recht. Vielleicht ist Naomi etwas zugestoßen, vielleicht hatte Emilia noch keine Gelegenheit, mir Bescheid zu sagen. Ich versuche mein Glück in der Schule, aber eventuell muss ich mich noch einmal bei Ihnen melden.«
»Ich bin den ganzen Vormittag hier, Jack. Und falls sich herausstellt, dass etwas passiert ist, rund um die Uhr. Verlassen Sie sich darauf. Rufen Sie jetzt in der Schule Ihrer Tochter an.«
In der Schule wusste man von nichts.
»Was soll das heißen, Sie haben keine Ahnung? Entweder ist meine Tochter in ihrer Klasse oder sie ist es nicht.« Er schwankte zwischen Wut und Tränen. In ihm wuchs die Angst.
»Einen Moment bitte. Ich verbinde Sie mit Mrs. Crane-Johnson, der Leiterin der Schule. Bleiben Sie bitte in der Leitung.«
Er wartete. Hatte es an diesem Vormittag einen Selbstmordanschlag in der Stadt gegeben? Hätte er das nicht hören müssen? Panik stieg in ihm auf. Er dachte daran, das Radio anzustellen, aber der Apparat befand sich in der Küche.
»Professor Goodrich? Entschuldigung, dass Sie warten mussten. Was kann ich für Sie tun?«
»Ist – tut mir leid – ist meine Tochter heute Morgen zur Schule gekommen?«
»Wissen Sie das nicht? Haben Sie sie nicht hier abgesetzt?«
»Würde ich Sie anrufen, wenn ich wüsste, wo sie ist? Ihre Mutter wird vermisst, und ich will wissen, wo sich meine Tochter aufhält.«
»Könnte Ihre Frau mit ihr unterwegs sein? Bummeln, vielleicht? Einige der Mütter sind beklagenswert verantwortungslos und nehmen ihre Mädchen ...«
»Würden Sie bitte in Ihren Unterlagen nachsehen oder ihre Lehrerin fragen oder irgendetwas unternehmen, verdammt noch mal?«
Er begann innerlich zu kochen.
»Professor, ich finde Ihren Ton anmaßend. Wir ...«
»Mrs. Crane-Johnson, ich kann auch zu Fuß schneller bei Ihnen sein, als Ihnen lieb sein dürfte. Und jetzt bringen Sie bitte in Erfahrung, wo meine Tochter ist.«
Er hörte es poltern, als sie den Hörer auf den Schreibtisch knallte. In nicht ganz einer Minute war sie wieder am Apparat.
»Professor, ich habe die Anwesenheitsliste vorliegen. Wenn ich mir die Einträge des heutigen Tages ansehe, stelle ich fest, dass Naomi nicht zum Unterricht erschienen ist. Ich gehe davon aus, dass Sie sie später noch herbringen.«
»Würden Sie bitte im Klassenzimmer nachsehen? Vielleicht ist sie später gekommen, und man hat noch nicht Bescheid gesagt.«
Das Widerstreben in ihrer Stimme war hörbar.
»Professor, ich habe Ihnen bereits überproportional viel von meiner Zeit gewidmet. Auch wenn Sie es nicht zu wissen scheinen, ich habe eine Schule zu leiten; da sind Personal und Schüler, um die ich mich kümmern muss. Wenn Sie nicht imstande sind, das Kommen und Gehen Ihres eigenen Kindes im Auge zu behalten, so steht das in Ihrer Verantwortung, nicht in meiner. Ich bin überzeugt, es geht Naomi gut. Sie machen sich unnötig Sorgen. Bedenken Sie, wir sind hier in Kairo, nicht in Chicago.«
Den Weg von zu Hause bis zur Schule legte er schneller zurück, als selbst er gedacht hätte. Die Direktorin rief nach dem Hausmeister, aber man war hier in Kairo, nicht in Chicago, und bis der Mann den Weg ins Büro gefunden hatte, stand Jack in Naomis Klassenzimmer und sprach mit der Lehrerin, einer jungen Frau aus Northampton mit Namen Janice, die hier ihr freiwilliges soziales Jahr absolvierte. Janice hatte Naomi noch nicht gesehen und hatte keine Ahnung, wo sie sein könnte.
»Kann ich die Mädchen fragen, ob sie wissen, wo sie vielleicht ist? Können Sie mir zeigen, welches ihre Freundinnen sind?«
Er kannte die meisten Gesichter von Kindergeburtstagen und Ausflügen her. Naomis Mitschüler wollten ihm gern helfen, wussten aber auch nichts. Es hatte keine Verabredung gegeben, keinen Plan, die Schule zu schwänzen und zu McDonalds zu gehen oder in den Zoo.
Mit dem Handy rief er wieder in der Botschaft an. Simon Henderson meldete sich sofort.
»Neuigkeiten?«
Jack erklärte die Sachlage. Er sagte Simon, wohin Emilia die Nachricht hatte bringen sollen.
»Ich kann meine Leute hinschicken. Dauert nur ein paar Minuten.«
»Lassen Sie mich zuerst gehen. Man kann sich leicht in der Adresse vertun, es gibt keine Straßenschilder. Kommen Sie allein. Warten Sie auf mich neben dem Zigarettenverkäufer am Anfang der Straße.«
Er trennte die Verbindung und ging zurück in das Büro der Direktorin. Eine namenlose Angst schnürte ihm den Brustkorb zusammen. Mrs. Crane-Johnson saß hinter ihrem Schreibtisch und schaute ihm ängstlich entgegen.
»Ich brauche Ihr Auto.«
»Wie bitte? Was ...«
»Mein Wagen ist in der Werkstatt. Aber ich muss ganz schnell zu einer Adresse in Esbekija, deshalb brauche ich Ihr Auto.«
»Sie kriegen mein Auto nicht und auch kein anderes. Wenn Sie auch nur ...«
»Vielleicht gibt es eine ganz harmlose Erklärung dafür, dass meine Frau und meine Tochter nicht auffindbar sind, oder aber es geht um Leben und Tod. Wenn Sie sich mir in den Weg stellen, werde ich Ihnen weh tun. Und jetzt geben Sie mir bitte den Schlüssel.«
Sie zögerte noch einen Moment, dann griff sie nach ihrer Handtasche, nahm die Autoschlüssel heraus und reichte sie ihm über den Tisch.
Der Verkehr war dicht, aber um den Preis etlicher Dellen und Schrammen am Renault der Frau Direktor schaffte er es in zehn Minuten nach Esbekija.
Nichts Ungewöhnliches war zu sehen, als er die Gasse betrat. Er hatte den Wagen in einer Nebenstraße geparkt und den Weg zu Fuß fortgesetzt. Diesmal kam er vom anderen Ende und schaute sich aufmerksam nach allen Seiten um, obwohl er nicht genau wusste, wonach eigentlich. Er inspizierte auch die Gasse hinter der Häuserzeile und noch einige andere im nahen Umkreis. In einer Straße nicht weit weg entdeckte er Emilias weißen Volvo. Der Schlüssel steckte.
Er rief Mehdi von seinem Handy aus an, aber wieder meldete sich niemand. Er ging zum Eingang des Ladengewölbes. Kurz davor sah er seine beiden Freunde von gestern wieder, die mit einem neuen Fußball spielten. Er sprach den Jungen an, mit dem er sich beim letzten Mal schon unterhalten hatte.
»Hallo, Darsch«, sagte er. »Wie geht’s?«
Der Junge zuckte die Achseln.
»Einen großartigen Ball habt ihr da. Ich hoffe, es ist noch Geld genug übrig für die Eintrittskarten zum Spiel am Samstag.«
Wieder ein Schulterzucken.
»Du bist heute nicht sehr gesprächig.«
»Ich habe meiner Mutter erzählt, dass ich mit dir geredet habe. Sie sagt, ich soll aufpassen. Sie sagt, euch verdammten Ausländern kann man nicht trauen.«
»Darsch.« Jack nahm einen zweiten Anlauf. »Hast du gesehen, dass heute Vormittag jemand in den Laden von Mr. Mussa gegangen ist? Eine Frau mit einem kleinen Mädchen vielleicht? Eine Frau in einem roten Kostüm. Das Mädchen hat seine Schuluniform an.«
Darsch dachte, wie es Jack vorkam, eine Ewigkeit über diese Frage nach. Ein paar Schritte neben ihnen kickte sein Freund den Ball gegen die Mauer. Es war ein Kunststoffball, eine kostbare Rarität in diesem Viertel, und mit ihm umzugehen erforderte um einiges mehr an Geschick, als ein höchstens annähernd rundes Fetzenbündel durch die Gegend zu treten.
»Ja.« Darsch nickte. »Ich erinnere mich an eine Frau. Ich glaube, da war auch ein Mädchen. Oder zwei Mädchen. Weiß nicht.«
»Wie lange ist das her? Eine Stunde? Zwei Stunden?«
Darsch schaute mit angestrengt gerunzelten Brauen zu dem Engländer auf; er bemühte sich zu verstehen. Der Junge hatte nie eine Armbanduhr besessen, auch zu Hause gab es keine Uhr. Man maß die Zeit nicht in Stunden.
Er schüttelte den Kopf.
»Keine Ahnung. Achmad und ich sind seit dem Frühstück hier. Kurz danach sind sie aufgetaucht. Sie waren aber nicht die ersten Kunden von dem alten Mann. Kurz vor der Frau ist ein Kerl reingegangen. Einer von diesen Dschihadis. Bart, Scheitelkappe, weiße Galabija, eingebildet wie sonst wer. Hat so getan, als sieht er uns nicht. Wir sind Dreck für einen wie den.«
Die Beklemmung, die Jack in der Brust spürte, wurde so stark, dass er dachte, er bekäme einen Herzinfarkt. Er redete sich ein, alles wird gut, es gibt eine ganz harmlose Erklärung für Naomis und Emilias Unauffindbarkeit, dafür, dass Mussa nicht ans Telefon gegangen war. Der Mann konnte ein Käufer gewesen sein, weiter nichts. Möglicherweise war er sogar ein Mitglied von Mehdis Sufi-Bruderschaft.
»Sind sie wieder herausgekommen, Darsch? Denk nach. Hast du die Frau und das kleine Mädchen herauskommen sehen?«
Darsch hob die Achseln.
»Weiß nicht. Glaub nicht. Musste weg.«
Er schüttelte dem Jungen die Hand und ging zur Tür von Mehdis Ladengewölbe. Die Tür war verschlossen und auch auf mehrfaches Klopfen erschien niemand, um zu öffnen.
Simon war noch nirgends zu sehen, deshalb rief Jack Darsch zu sich.
»Hör zu«, sagte er. »Ich denke, dem alten Mann ist etwas zugestoßen. Verstehst du, was ich meine?«
Der Junge nickte. Er wusste, das Erscheinen eines Bärtigen bedeutete oft nichts Gutes.
»Ich werde die Tür aufbrechen. Halt für mich die Augen offen, und wenn ich in absehbarer Zeit nicht wieder herauskomme, sag deinem Vater oder deiner Mutter, sie sollen die Polizei rufen.«
Ohne noch länger zu zögern, warf er sich mit der Schulter gegen die altersschwache Tür. Beim dritten Mal sprang sie auf. Er trat ins Haus, und hinter ihm schwang die Tür mit einem leisen Klappen zu. Am Fuß der Treppe verharrte er und lauschte auf Geräusche, auf irgendetwas, das ihm verriet, was im Haus vor sich ging, doch nur Stille wehte ihm entgegen.
Er ging die Stufen hinauf und trat in das Zimmer oben, das von Bücherregalen gesäumte Kontor, in welchem Mussa seine Geschäfte abzuwickeln pflegte. Dort sah es aus, als hätte der Blitz eingeschlagen: umgestürzte Möbel, Glasscherben, überall verstreute Bücher und Papiere. Die Tür zu dem kleinen Hinterzimmer stand halb offen.
»Emilia?«, rief Jack laut. »Emilia, kannst du mich hören? Bist du hier irgendwo?«
Keine Antwort. Er versuchte es auf Arabisch.
Immer noch nichts. Sein Herz schlug wie eine Trommel. Etwas wühlte mit scharfen Krallen in seinem Bauch, das Ungeheuer aus seinen schlimmsten Träumen.
Er trat an die Tür und spähte durch die Öffnung, doch es drang zu wenig Licht aus dem vorderen Zimmer in das Halbdunkel, um etwas erkennen zu können.
Behutsam drückte er die Tür weiter auf. Er sah den Tisch, auf dem vor weniger als 24 Stunden Mehdis wunderbare Schatztruhe gestanden hatte.
Er trat über die Schwelle. Und als er langsam den Kopf drehte und das Szenario in sich aufnahm, kam es ihm vor, als sähe er das Ganze in Zeitlupe. Und er hatte das Gefühl, seine Augen hätten sich von seinem Herzen losgelöst und sein Herz von allem anderen. Er sah, ohne zu sehen, und begriff, ohne zu fühlen, begriff, ohne zu begreifen.
Emilia und Naomi lagen Seite an Seite, mit unnatürlich verrenkten Armen und Beinen, wie von einem achtlosen Liebhaber hingeworfen. Darsch hatte sich geirrt, da war nur ein Mädchen, nur Naomi. Emilia lag auf dem Rücken, das Gesicht der Decke zugewandt, die Augen weit offen; Naomi bäuchlings neben ihr, mit ausgestreckten Armen, wie ein kleines, weibliches Kruzifix. Ein Stück daneben lag Mehdi. Allen dreien hatte man die Kehle durchgeschnitten, von einem Ohr zum anderen – wer konnte sagen, in welcher Reihenfolge –, und um ihre Köpfe breiteten sich die Lachen geronnenen Blutes wie große, fast schwarze Blüten. Emilias Haut war im Tod nahezu alabastern, und ihre Blässe stach von dem persischen Teppich unter ihr ab wie ein Bouquet weißer Lilien von einem Bett purpurner Rosen. Naomi hatte irgendwann ihren Rucksack mit den Schulsachen fallen lassen, Bücher und Hefte schwammen in Blut, und ihr Name auf der Lasche war zugedeckt von der zähen roten Flüssigkeit.
»Jack? Wo bist du? Bist du hier drin?«
Er schaute sich nach dem Sprecher um. Sein Körper war hier, sein Verstand woanders, am anderen Ende des Universums.
»Simon?« Ein noch der Realität verhafteter Teil von ihm erkannte den Mann im Türrahmen. Er wusste nicht, weshalb Simon langsam, vorsichtig und mit gezogener Pistole auf ihn zukam.
»Sie sind hier, Simon«, sagte er. »Tu ihnen nicht weh. Tu ihnen nicht weh, Simon.«
Und plötzlich begann er zu schreien, und in ihm wurde es dunkel. So führten sie ihn weg, inzwischen stumm geworden, wie jemand, der niemals mehr ein Wort sprechen wird. Dann gingen sie wieder hinein. Nicht die Kairoer Polizei. Nicht die ägyptischen Sicherheitskräfte. Vielmehr Männer und Frauen der britischen Botschaft, gekommen, um eine der Ihren fortzutragen. Und einen Mörder zu finden, bevor er wieder mordete.