18
Ein Licht in der Dunkelheit

Loch Killin

Später am selben Morgen

4.55 Uhr

An dieser, der östlichen, Seite des Loch, fuhren keine Busse. Aus diesem Grund leisteten Angus und Ailsa Gilfillan sich ihren alten Volvo Kombi, der ihnen dazu diente, Gerätschaften und Mitglieder ihrer Gemeinde von einem Ort zum anderen zu transportieren. Nun war der Volvo an diesem Morgen in Jack Goodrichs Händen und in Gottes Hut, und Angus blieb nichts anderes übrig, als die drei Meilen von der Stelle, wo er den Range Rover versenkt hatte, bis nach Hause auf Schusters Rappen zurückzulegen. Immer noch war es so finster, dass man nicht die Hand vor Augen sehen konnte, aber er kannte die Straße gut und hatte überdies seine zuverlässige Ever-Ready-Taschenlampe bei sich.

Es war vollbracht, worum der Professor ihn gebeten hatte, und Angus war überzeugt, richtig gehandelt zu haben, auch wenn es ihn die sträfliche und Gott missfällige Vergeudung eines wertvollen Autos dünkte. Die steile Böschung hinter Foyers bot sich an, den schweren Wagen fast bis auf den Grund des Sees zu befördern, wie es an keiner anderen Stelle so dicht am Ufer möglich war. Bei laufendem Motor und gelöster Handbremse, hatte er einen schweren Stein auf das Gaspedal gelegt und war schnell zurückgesprungen, als der Wagen sich in Bewegung setzte, schneller wurde und ins Wasser tauchte. Ein hübsches Spielzeug für das Ungeheuer in der Tiefe. Er hatte nie an Nessies Existenz gezweifelt, auch wenn er und die anderen Rechabiten lange über dessen Abstammung und Bedeutung in Gottes Schöpfung diskutiert hatten, um endlich zu dem Schluss zu kommen, es sei eine Kreatur des Teufels, Abkömmling Leviathans, und solle in dem stygischen Abgrund bleiben, worin es seit Anbeginn der Zeit schon hauste.

Auf dem letzten Stück Wegs merkte er, dass er wahrlich nicht mehr der Jüngste war. Er wollte jetzt nichts anderes, als nach Hause kommen und sich mit einer schönen großen Schüssel Porridge stärken.

Erst fand er es merkwürdig, dass weiter vorn ein Licht zu sehen war, bis er begriff, dass es sich um ein erleuchtetes Fenster seines eigenen Hauses handelte. Hatte Professor Goodrich ihnen nicht ans Herz gelegt, sie sollten die Vorhänge fest zuziehen? Er konnte sich nichts anderes vorstellen, als dass Ailsa ihm helfen wollte, im Dunkeln den Weg nach Hause zu finden. Er musste sich beeilen, dachte er, und die Vorhänge wieder schließen.

Sie saß auf einem hochlehnigen Stuhl in der Küche, und neben ihr stand ein fremder Mann und hielt ihr eine Pistole an die Schläfe. Sie hatte Todesangst, das erkannte er auf den ersten Blick, und wie auch nicht. Ihre Lippen bewegten sich stumm, im Gebet oder flehenden Bitten, und er sah, dass sie sich nassgemacht hatte, und fühlte ihre Scham und einen großen Zorn auf den Mann, der sie solcher Demütigung aussetzte. Er wollte sie in die Arme schließen, sie trösten und ihr sagen, alles wird wieder gut, nur dass er wusste, nichts würde je wieder gut sein.

Doch fand er es auch seltsam befreiend, den Mann dort zu sehen, mit Augen wie die eines auf Raub ausgehenden Fuchses, grell und bösartig, so voller Hass, wie die seinen von Liebe überströmten, denn nun konnte er gewiss sein, dass es recht gewesen war, Jack Goodrich zu helfen, dass er nicht gegen Gottes Gebot verstoßen hatte, indem er das große hässliche Ungetüm von einem Automobil auf den Grund von Loch Ness schickte. Nur eins war falsch gewesen: Ailsa allein im Haus zu lassen, schutzlos, während er sich um das Auto kümmerte. Nun hielt ein Mann ihr eine Pistole an den Kopf, ein Mann, der heute Nacht bereits einen Menschen ermordet hatte, einen Geheimdienstagenten, wenn man dem Professor glauben konnte, und das konnte man, wer wollte noch daran zweifeln. Der Bewaffnete hatte einen dieser riesigen Parkas an, die es in Inverness zu kaufen gab, wie eine Daunensteppdecke mit Ärmeln und Kapuze.

Ein Geruch hing in der dünnen, kalten Luft – von Tee und aufgewärmtem Essen. Vermutlich hatte sie dem Fremden, der frierend und hungrig Einlass begehrte, eine Mahlzeit angeboten. Oder war er gleich mit schussbereiter Waffe hereingekommen und hatte sie gezwungen, ihm etwas zu essen zu machen? Angus besaß keine Waffe, und wenn er eine gehabt hätte, hätte er es nicht über sich gebracht, einen Menschen zu töten. Außer möglicherweise hier und jetzt, angesichts seiner verängstigten Frau und dem Blick dieses Mannes ausgesetzt, seinen kalten Augen.

Der Fremde konnte ein Zigeuner sein oder ein Araber oder ein Italiener, dachte Angus, verzweifelt bemüht, den Mörder mit etwas in Zusammenhang zu bringen, das er kannte. Er erinnerte sich, dass Jack Goodrich in Ägypten gelebt hatte, dass seine Frau und Tochter dort gestorben waren. Nun, die Frau zumindest, die Tochter war anscheinend entführt worden. Von diesem Mann, wie Professor Goodrich glaubte.

»Würden Sie mir bitte erklären, wie Sie dazu kommen, meiner guten Frau eine Pistole an den Kopf zu halten?«

Der Mann musterte ihn, als suchte er nach einem Grund, den Abzug zu betätigen oder die Waffe auf den alten Mann zu richten, der ihn gestört hatte.

»Sag mir, wo er ist, wo er hingefahren ist. Deine Frau und ich haben einen Rundgang durch das Haus gemacht, und ich weiß, dass er nicht mehr hier ist. Wenn du mir nicht die Wahrheit sagst, werde ich sie erschießen. Das ist keine leere Drohung. Ich habe schon oft getötet, ihr Tod wird der geringste für mich sein. Ich schwöre bei Allah, dass ich sie töten werde. Sag mir, wo er hingefahren ist.«

Angus spürte, wie ihn eine große Ruhe überkam. Gott war mit ihm, dachte er, er ließ seinen treuen Diener nicht allein in der Gefahr.

»Wo ist wer hingefahren? Hier sind nur Ailsa und ich. Außer uns ist niemand hier gewesen.«

»Du bist früh unterwegs für einen Mann, der die ganze Nacht neben seiner Frau geschlafen hat.«

»Dies ist eine ländliche Gegend. Wir stehen früh auf, wie von Gott gewollt. Bitte nehmen Sie die Waffe weg. Sie machen ihr Angst.«

»Ich nehme die Waffe weg, wenn du mir sagst, wo ich Goodrich finde. Vielleicht erschieße ich sie nicht gleich, vielleicht sorge ich dafür, dass sie vorher leidet. Wenn du mich anlügst, werde ich ihr Schmerzen zufügen. Willst du diese Schuld auf dich laden, alter Mann?«

»Sie irren sich. Niemand mit diesem Namen ist hier gewesen. Überhaupt niemand, außer uns beiden.«

»Ich bin seinen Spuren bis hierher gefolgt, den Reifenspuren des Autos, das er ...« – ihm kam der Gedanke, Jack als Verbrecher darzustellen –, »das er mir gestohlen hat. Ihr habt einem Verbrecher Unterschlupf gewährt, einem Verrückten. Also sagt mir, wo ist er?«

»Ich habe auch Reifenspuren gesehen, junger Mann. Sogar hier in unserer Abgeschiedenheit fahren Autos. Wohin? Das weiß ich nicht. Da gibt es viele Möglichkeiten.«

»Er ist hierhin abgebogen. Die Spur führen zu eurem Schuppen.«

»Die stammen von mir. Ich bin mit dem Wagen weggefahren und habe ihn bei einem Freund gelassen. Dann bin ich zu Fuß nach Hause gegangen. Das tue ich oft.«

»Ich habe dich gewarnt. Ich habe gesagt, sie wird es büßen, wenn du lügst. Vielleicht muss ich dir beweisen, dass ich es ernst meine.«

Unvermittelt packte der Fremde Ailsas Handgelenk und zerrte sie, ohne auf ihren Protest zu achten, quer durch die Küche zum Herd.

Als Ailsa ihm Tee gekocht hatte, in dem naiven Bemühen, ihn friedlich zu stimmen und mitteilsam, hatte der Mörder beobachtet, wie sie ihren altmodischen Wasserkessel auf die Kochstelle des Gasherds setzte. Jetzt legte er die Waffe beiseite und drehte den Schalter auf die höchste Stufe. Ein blaugelber Flammenkranz schoss empor.

Er verschob seinen Griff von Ailsas Handgelenk zu ihrem Unterarm, zwang ihre Hand in die Flammen und hielt sie fest. Sie schrie. Und wieder. Und wieder. Ein Geruch nach verbranntem Fleisch breitete sich aus, ihre Hand begann sich rot zu färben, dann schwarz. Angus machte eine Bewegung, als wollte er sich auf den Unhold stürzen, der seine geliebte Frau so furchtbar quälte, aber der hatte seine Waffe wieder aufgehoben und richtete die Mündung genau auf Ailsas Kopf.

»Aufhören! Ich sage Ihnen, wo er ist!« Der alte Mann konnte nichts anderes mehr denken, als um jeden Preis das Schreckliche, das Unvorstellbare abzuwehren.

»Verrat ihm nichts!«, rief Ailsa, dann konnte sie nicht mehr gegen den Schmerz ankämpfen und verlor die Besinnung.

Der Mann ließ sie achtlos zu Boden fallen.

»Heraus mit der Sprache, solange noch Zeit ist, sie in ein Krankenhaus zu bringen«, sagte er. »Goodrich bedeutet dir nichts. Er ist weder dein Verwandter noch dein Freund. Sag mir, wohin er von hier aus gefahren ist.«

»Ich denke, Sie haben seine Reifenspuren gesehen. Dann müssen Sie es doch wissen.« Angus war außer sich vor Sorge um Ailsa. Sie waren seit über fünfzig Jahren verheiratet, und er spürte ihren Schmerz, als wäre es sein eigener.

»Ich weiß die Richtung, aber sein Vorsprung ist zu groß, ich kann ihn jetzt nicht mehr einholen. Er muss euch gesagt haben, wo er hin will.«

»Weshalb hätte er das tun sollen? Haben Sie doch Erbarmen. Sie haben meiner Frau sehr weh getan, sie hat eine schwere Brandverletzung. Lassen Sie mich einen Krankenwagen rufen.«

»Nicht nötig.« Der Mann wechselte die Pistole in die rechte Hand, zielte auf Ailsa und schoss ihr eine Kugel in den Kopf. Ein Ruck durchlief ihren Körper, dann lag sie still.

Angus hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu stürzen. Sein Gott hatte ihn verlassen, die Verheißung eines ganzen Lebens gläubiger Hinwendung zum Herrn, der Gebete, Psalmen und Predigten war entzweigebrochen und lag ebenso leblos auf dem Küchenfußboden wie seine ermordete Frau.

»Nun kannst du mich ebenfalls töten«, sagte er. »Denn ich werde kein Wort mehr sagen, außer um den Zorn des Herrn auf dein Haupt herabzubeschwören. Du wirst in der Hölle brennen, für das, was du getan hast, und weder Gott noch ich werden das mindeste Erbarmen haben mit dir.«

Einen Kilometer entfernt vom Haus der Gilfillans lag Ian Stewart, hochbetagt und vom Krebs zerfressen, auf dem Sterbebett. Seine Frau Jean neben ihm sang halblaut alte Volkslieder: »Mo Shuil Ad Dheidh«, »My Love is Like a Red, Red Rose«, »Will Ye No Come Back Again?«, vertraute Lieder aus der Zeit ihrer jungen Liebe, und jetzt siechte er dahin in ihrem Ehebett, und sein Haar auf dem Leinenkissen war weiß, weiß und lang, denn er hatte es nie abschneiden wollen, und nun würde er mit diesem langen weißen Haar begraben werden.

Der zweite Schuss hallte scharf und trocken in der klaren Morgenluft. Jean fragte sich, wer das sein konnte, um diese Stunde. Noch war es zu dunkel, um ein Kaninchen oder einen Hasen ausmachen zu können. Einer von diesen modernen Wilderern vielleicht, die Geräte hatten, mit denen sie im Dunkeln sehen konnten? Merkwürdig nur, dass es sich nicht angehört hatte wie eine Schrotflinte. Eine Pistole möglicherweise? Ging man heutzutage mit so etwas auf die Jagd?

Schließlich stand Jean auf und ging nach unten. Um diese Zeit hatte Ian gern eine Tasse Tee und ein paar Vollkornkekse. Nachher würde sie noch eine zweite Kanne aufgießen, für die junge Krankenschwester, Mary McGregor, die in ungefähr einer Stunde kam. Und hoffentlich das Morphium mitbrachte. Ian brauchte es dringend.

Sie machte für sie beide ein Tablett zurecht, Servietten und Unterdeckchen, wie sie es gern hatten, die Kekse für ihn und Haferplätzchen für sie. Richtig frühstücken wollte sie später, nachdem Mary sie abgelöst hatte.

Der Kessel hatte gebrodelt, der Tee war aufgegossen und zog, als an die Tür geklopft wurde. Sie ordnete ihr Haar und ging hin, um zu öffnen, auch wenn sie sich wunderte, wer das sein konnte, so früh am Morgen. Ob Ians helfender Engel es heute früher geschafft hatte? Denn wer sollte es sonst sein, nicht wahr?

Das Schwert - Thriller
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