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Der Brief
Kairo
14.30Uhr
Draußen auf der Straße erlebte er für einen Augenblick die Panik, die alle Nicht-Einheimischen in Kairo überfällt: zu viel Verkehr, zu viele Menschen, zu viel Lärm und Staub, zu viele Gerüche. Er stand auf dem Bürgersteig am Tahrir Square, dem größten öffentlichen Platz der Stadt. Wuchtige Mercedes Limousinen (»Hühnerärsche« im hiesigen Straßenjargon) versuchten sich mit bösem, scharfem Hupen gegen Busse durchzusetzen, die Busse schüchterten röhrend alles ein, was ihnen den Weg zu versperren drohte, Mopeds fegten in tollkühnen Schlangenlinien – und oft zu ihrem Verhängnis –, durch die Lawine der Blechkarossen, und wo er hinschaute, sah Goodrich junge Männer in Jeans und Kinder in ausgeleierten Pullovern, alte Frauen in schäbigen Dschellabas, junge Frauen mit Kopftuch, die alle ihr Leben aufs Spiel setzten, nur um die andere Straßenseite zu erreichen.
Er musterte seine Umgebung: Verkehrszeichen mit einer Patina aus dem Schmutz und Rost vieler Jahre, Werbeplakate für die neusten Produkte der ägyptischen Filmstudios, Ladenschilder in Arabisch und gebrochenem Englisch, Lichtreflexe auf schmutzigen Fensterscheiben, niedersinkender Staub in Sonnenstrahlen. Hier starrte das Antlitz des Sphinx ausdruckslos ins Leere. Dort schaute eine junge Schauspielerin namens Basma mit ihren großen Augen und einem verführerischen Lächeln auf die Passanten herab. Ringsumher schmückten die anmutigen Bögen und Schnörkel arabischer Buchstaben den Platz. Vergangenheit und Zukunft reichten sich an jeder Ecke die Hände. Zeit hatte hier keine Bedeutung.
Er ging an Ladentüren vorbei, aus denen die neusten ägyptischen Popsongs wummerten, vorbei an einem Bettler mit heischend ausgestreckter Hand, dem er etwas Geld gab, ein ägyptisches Pfund. Nicht viel, dachte er, nur ein paar Pennies, umgerechnet. Aber hier konnte man mit wenig lange auskommen.
Er schaute auf die Uhr. Halb drei. Bald würde es langsam ein wenig kühler werden, jetzt aber war es noch heiß, staubig und laut, und es gab davor kein Entkommen. Die meisten Kairoer lebten ihr Leben in einem einzigen Zimmer, ganze Familien vegetierten auf lächerlich engem Raum, wo Babys plärrten, alte Männer und Frauen sich an ein elendes Dasein klammerten, junge Männer und Frauen im Halbdunkel stumm kopulierten, ohne Freude. In der islamischen Nekropole, am Rand der Stadt der Lebenden, hausten die Ärmsten in den Gräbern und teilten ihre kümmerliche Existenz mit den lange Dahingeschiedenen.
Er nahm sein Handy und versuchte Emilia zu erreichen. Sie meldete sich nicht. Er rief in der Vermittlung an.
»Ich fürchte, sie ist in einer Konferenz, Sir.«
»Vielen Dank. Ich rufe später wieder an.«
Er steckte das Handy ein. Alles in Ordnung: Die Botschaft stand noch.
Zurück in der Universität, wartete der ganze Stapel der Morgenpost auf ihn. Miss Mansy steckte den Kopf zur Tür herein, um Bescheid zu geben, dass sein Kurs um 16.00 Uhr über Verbformen im Südarabischen des 7. Jahrhunderts abgesagt worden war.
Er ließ es sich nicht nehmen, Miss Mansy nachzuschauen, wie sie den Flur hinunterging, genauer gesagt, ihrem Allerwertesten. Man war einmütig der Ansicht, sie hätte das schönste Hinterviertel in Kairo, und in einer Stadt, wo die meisten Frauen sich immer noch von Kopf bis Fuß verhüllt in der Öffentlichkeit bewegten, war das eine ernste Sache. Einige der ägyptischen Studenten verfielen ihr mit Haut und Haaren und litten unendliche Liebespein um Miss Mansy. Sie hingegen hegte seit langem den festen Entschluss, sich einen amerikanischen Professor oder reichen Mann zu angeln, der sie von ihrem Dasein als Fakultätssekretärin erlöste.
Goodrich schloss die Tür und begab sich ohne rechte Begeisterung zu seinem Schreibtisch. Er dachte, dass es für ihn einer mittleren Katastrophe gleichkäme, wenn Miss Mansy kündigte oder wenn Soziologie oder Englisch sie ihm wegschnappten. Sie alle waren scharf auf sie, denn, Augenweide oder nicht, sie galt zu Recht als die beste Sekretärin der ganzen Universität. Sie hatte einen Abschluss in Arabisch, beherrschte fließend fünf Dialekte sowie die moderne Schriftsprache, und sie war mit alleinstehenden männlichen Angehörigen verschiedener Fakultäten ausgegangen. Ein Juwel. Unersetzlich. Und heißer als eine Horde Affen.
Seufzend setzte Goodrich sich vor den Stapel eingegangener Post, der seiner harrte. Über die letzten Tage hinweg hatte sich einiges angesammelt, und er wusste kaum, wo er anfangen sollte. Er fischte den Brieföffner aus der Schreibtischschublade. Wie gewöhnlich war das meiste Makulatur. Interessantes kam heutzutage per E-Mail. Etliche Bücherkataloge waren dabei, auch einer mit antiquarischen Büchern, die weder er persönlich noch die Universität sich leisten konnten.
Jack war mittlerweile seit fünf Jahren Professor für mittelalterliches Arabisch an der AU. Das Angebot war aus heiterem Himmel gekommen, kurz nach Emilias Versetzung an die Botschaft. Davor hatte er glücklich und zufrieden in London gelebt, wo sie im Außenministerium tätig war. Die Versetzung nach Kairo bedeutete für sie eine Beförderung, und dass er sie nun begleiten konnte und sich gleichzeitig beruflich verbessern, war geradezu perfekt. Sein Lehrauftrag an der Schule für orientalische und afrikanische Studien lief ins Leere. Geld war knapp, wie überall auf dem Universitätssektor, anderswo wurden Fachbereiche gekappt, und mit vierzig Jahren brauchte er sich kaum mehr Hoffnung auf eine Beförderung im akademischen Betrieb zu machen, geschweige denn auf eine Bestallung auf Lebenszeit.
Er hatte sich erst spät der akademischen Laufbahn zugewendet. Seine erste Liebe war die Armee gewesen. Mit siebzehn war er eingetreten, drei Jahre später ging er von seinem Heimatregiment, den Royal Anglians, zum SAS, dem Special Air Service. Seinem Einsatz im Irak während des ersten Golfkriegs war ein mehrmonatiger Lehrgang für Arabisch an der Militär-Sprachschule in Buckinghamshire vorausgegangen, den er als Bester seiner Klasse abschloss. Sein Lehrer fand, er hätte eine Begabung für Arabisch. Am Ende des Krieges hatte er genug Tod und Gewalt gesehen, um für den Rest seines Lebens damit bedient zu sein. Seine jugendliche Begeisterung für militärische Dinge war stilleren Leidenschaften gewichen, einer Begeisterung für Lernen und Wissen, speziell auf die arabische Kultur bezogen.
Emilia traf er bei der Eröffnungsfeier für eine Ausstellung von Koranmanuskripten, die er in seiner Zeit an der Schule für orientalische und arabische Studien zu organisieren geholfen hatte. Er stand allein mit einem Glas Wodka in einer Ecke des Raums, als sie zu ihm trat und ein Gespräch begann, welches nach fünfzehn Jahren immer noch frisch und lebendig weiterging. In derselben Nacht schliefen sie das erste Mal miteinander, und auch darin hatte sich noch kein Überdruss eingeschlichen.
Er begann die nächste Schicht Briefe abzutragen. Ein Haufen Werberundschreiben wanderten zusammengeknüllt und ungelesen in den Papierkorb.
Beinahe ganz zuunterst befand sich ein Brief von seinem Freund, dem Gelehrten und Buchhändler Mehdi Mussa. Wie alle von Mussas Briefen war er in der elegantesten arabischen Kalligraphie abgefasst, der Ruq’a-Schrift. Die Sprache war blumig, beeinflusst von den erlesensten klassischen Vorbildern. Nach mehreren Zeilen verschnörkelter Wendungen aus dem Werk von Al-Hariri und anderen Meistern gehobener Prosa kam Mehdi zu seinem eigentlichen Anliegen.
»Sehr verehrter Herr Professor«, schrieb er, »ich bedaure zutiefst, dass ich mich genötigt sehe, Ihre wertvolle Zeit in Anspruch zu nehmen. Desungeachtet wäre ich überaus glücklich, wenn Sie es irgend ermöglichen könnten, mich in meinem Laden aufzusuchen, sehr gern am Montag, nachmittags, gegen 17.00 Uhr. Ich habe etwas, das ich Ihnen zeigen möchte. Bisher habe ich es noch keinen anderen sehen lassen, teils aus Freundschaft, teils, um mich zu schützen. Ich weiß, Ihnen kann ich vertrauen, deshalb diese Einladung und diese besondere Gelegenheit, in Augenschein zu nehmen, was ich Ihnen zeigen werde. Ich versichere Ihnen, Sie werden Ihre Zeit nicht als vergeudet betrachten. Wie das Sprichwort sagt: ›Glaube, was du siehst und vergiss, was du weißt‹.
Falls Sie nicht geneigt sind oder sich nicht in der Lage sehen, meiner Einladung Folge zu leisten, werde ich mich umgehend an einen anderen Interessenten wenden. Doch würde ich es sehr begrüßen, wenn Sie der Erste wären, dem ich es vorlege und dessen Urteil ich vernehme. Ich werde bis 18.00 Uhr warten, und wenn Sie bis dahin nicht gekommen sind, werde ich mich anders orientieren.«
Jack legte das Blatt seufzend auf den Schreibtisch. Garantiert wollte der alte Knabe ihm ein weiteres Manuskript des Kitab al-Buchala präsentieren, ein Text aus dem 9. Jahrhundert, der dem Buchhändler besonders am Herzen lag. Doch selbst angenommen, dass es sich wirklich um eine Kostbarkeit handelte, sah er seine Hände gebunden: Das Budget des Fachbereichs war noch knapper bemessen als sonst, und er war überzeugt, der stets präsente Bedarf für die Dinge der grundlegenden Ausstattung wog schwerer als der Luxus, noch ein Manuskript oder noch eine Lithographie zu erwerben. Andererseits, Mussa war ein schlauer Manipulator. Er kannte das Budget seiner Klienten bis auf den letzten Piaster. Nie würde er etwas zeigen, von dem er nicht glaubte, es auch verkaufen zu können, und er hatte Goodrich als den Kunden ausgewählt, von dem am ehesten ein lohnendes Angebot zu erwarten war. Sein Kurs für diesen Nachmittag war ohnehin abgesagt, deshalb blickte Jack erwartungsvoll seinem Treffen mit dem Buchhändler entgegen. Nicht in seinen schlimmsten Träumen hätte er sich vorgestellt, welche Folgen diese Verabredung haben würde.