Kapitel Sieben
Im Haus der Listers versuchte Vera, Hannah dazu zu überreden, wenigstens für ein paar Tage zu Simons Eltern zu ziehen, doch das Mädchen weigerte sich. «Ich werde doch eh die ganze Nacht aufbleiben und heulen – und mir wahrscheinlich ziemlich einen antrinken. Das kann ich nur hier daheim.»
«Wir können auch eine Polizeipsychologin kommen lassen, die über Nacht bei Ihnen bleibt.»
«Nein», sagte Hannah. «Das will ich nicht. Das könnte ich nicht ertragen.»
Sie ging zurück zum Fenster und starrte in den Garten hinaus, der jetzt ganz im Schatten lag.
«Bleiben Sie hier bei ihr?» Diese Frage richtete Vera an Simon. Das Mädchen beachtete die beiden nicht mehr.
«Natürlich», sagte Simon. «Ich mache alles, was sie will.»
Er stellte sich hinter Hannah und schlang seine Arme um sie. Dass Vera ging, schienen die beiden gar nicht zu bemerken.
Als sie aus dem Dorf fuhr, sah Vera das weiße Haus, von dem Hannah gesagt hatte, es gehöre Simons Eltern. Kurz entschlossen lenkte sie den Wagen in die Kiesauffahrt. Simon und Hannah waren in ihren Augen immer noch kaum mehr als Kinder, und sie hätte sich wohler gefühlt, wenn sie gewusst hätte, dass sich ein Erwachsener um das Mädchen kümmerte oder zumindest ein Auge darauf hatte, was geschah. Außerdem waren Simons Mutter und Jenny Lister ja vielleicht befreundet gewesen. Die Frau konnte ihr unter Umständen wertvolle Hinweise liefern.
Schon als sie an der hohen Eibenhecke vorbeifuhr, sah Vera, dass das Grundstück tadellos gepflegt war. Die Osterglocken waren schon fast wieder verblüht, aber der Garten bot dennoch ein Farbenmeer dar: büschelweise blaue Hyazinthen, Vergissmeinnicht und dunkelvioletter Nieswurz. Sogar der Rasen war dieses Frühjahr schon das erste Mal gemäht worden. Entweder ist die Frau verrückt nach Gartenarbeit, oder sie bezahlt jemanden dafür, dass er ihr hilft. Vera konnte gepflegte Gärten nicht ausstehen, und sie war eher dafür, Essbares anzupflanzen als Blumen. An den feuchten Stellen ihres Gartens ließ sie Löwenzahn wachsen, aus dessen Blättern sie bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen ihr nach einer gesunden Mahlzeit zumute war, einen Salat machte. Ihre Nachbarn waren in die Jahre gekommene Hippies und froh darüber, dass im Garten nebenan keine Ordnung herrschte. Vera fragte sich flüchtig, was sie wohl von diesem Garten hier halten würden.
An einem der Fenster im oberen Stock bewegte sich jemand. Der Motorenlärm hatte offenbar Aufmerksamkeit erregt. Vera überlegte, ob sich die Neuigkeit von Jennys Tod schon im Dorf herumgesprochen hatte. Hatte Simon, bevor er ging, seiner Mutter noch erzählt, dass die Mutter seiner Freundin tot war? Eher nicht, dachte Vera. Er war so schnell da gewesen, um sich um Hannah zu kümmern, dass er wohl kaum die Zeit für ein Gespräch gehabt hätte.
Niemand kam an die Tür. Simons Mutter – wenn sie das im oberen Stock gewesen war – wollte wohl nicht, dass man sie für eine Frau hielt, die aus Fenstern späht. Oder vielleicht hoffte sie, dass die Besucherin wieder wegfuhr?
Vera klingelte, dann hörte sie Schritte auf der Treppe, und die Tür wurde geöffnet.
«Ja bitte?» Die Frau war groß, über fünfzig, vielleicht so alt wie Vera, aber ebenso adrett und zurechtgemacht wie der gnadenlos gepflegte Garten. Dunkle, in einer Welle aus dem Gesicht gekämmte Haare, graue Hose, weiße Bluse und eine lange, graue Strickjacke. Lippenstift. Wollte sie gerade ausgehen, oder trug sie den immer? Vera stand auf der Türschwelle und dachte, wie seltsam manche Frauen doch waren.
«Kann ich Ihnen helfen?» Die Frau verlor schon die Geduld. Sie war verwirrt, das sah Vera deutlich. Der Wagen, mit dem Vera gekommen war, war groß, neu und ziemlich teuer. Eine der Annehmlichkeiten ihres Dienstgrades. Mrs Eliot hätte bestimmt eher einen erfolgreichen Mann darin vermutet. Vera aber war eine korpulente, schlampig gekleidete Frau ohne Strumpfhosen, die Haut voller Pusteln. Sie schminkte sich nie. Vera sah erbärmlich aus.
«Ich komme von der Polizei Northumbria. Inspector Stanhope.» Irgendwo tief unten in ihrem Beutel lag auch ihr Polizeiausweis, aber da wollte sie jetzt lieber nicht rumwühlen. Sie könnte auf den Rest des Bacon-Sandwiches stoßen, das noch vom gestrigen Frühstück übrig war.
«Ah ja?» Die Frau wirkte besorgt, aber nicht erschrocken, was ja eher die Regel war, wenn die Polizei unerwartet vor der Tür stand. Was habe ich verbrochen? Hat jemand einen Unfall gehabt? Ist meinem Mann, meiner Tochter oder meinem Sohn etwas zugestoßen? Simons Mutter dagegen war eher aufgeregt. Vielleicht hatte sie ja doch schon vom Tod ihrer Nachbarin gehört. Obwohl sie keine Trauer erkennen ließ und auch nicht versuchte, welche zu heucheln.
Sie streckte die Hand aus. «Veronica Eliot. Sind Sie wegen Connie Masters hier? Sie hat ihren Namen geändert, aber ich habe sie sofort wiedererkannt. Ich wusste, dass schließlich doch noch Anklage erhoben würde.»
Der Name kam Vera entfernt bekannt vor, aber sie ließ sich nicht ablenken.
«Ich bin wegen Jenny Lister hier.»
Die Frau runzelte die Stirn. Verwirrt? Enttäuscht? «Was ist mit Jenny?»
«Ihr Sohn hat es Ihnen noch nicht erzählt?» Und dann, als die Frau den Kopf schüttelte: «Gut, Herzchen, warum lassen Sie mich nicht einfach reinkommen?»
Veronica Eliot trat beiseite und ließ Vera in eine große Eingangshalle. Ein Bild an der Wand gegenüber der Haustür zog ihren Blick auf sich. Ein kleines Aquarell, das zwei steinerne Torpfosten und einen grasüberwachsenen Pfad zeigte. Vera fand, dass er einladend aussah, man wäre ihm gern gefolgt. Aber auf dem Bild schien er nirgends hinzuführen. Auf den Pfosten saßen gemeißelte Vogelköpfe. Kormorane, womöglich. Lange Hälse und lange Schnäbel.
«Wo ist das?», fragte Vera.
«Das ist die Einfahrt zu Greenhough, dem Haus meines Großvaters», sagte die Frau.
«Hochherrschaftlich.»
«Nicht mehr. In den dreißiger Jahren ist es abgebrannt. Heute steht nur noch das Bootshaus. Und diese Pfosten da.»
Veronica wandte sich brüsk ab. Sie führte Vera einen kühlen Flur entlang und in die Küche. Der Dienstbotentrakt, dachte Vera. So schätzt sie mich also ein.
Ohne einen Platz angeboten zu bekommen, setzte die Kommissarin sich auf den Stuhl am Kopfende des Tisches. «Jenny Lister ist tot. Ermordet. Deshalb ist Ihr Sohn Hals über Kopf davon: Er wollte sich um Hannah kümmern.»
Das Gesicht der Frau ließ nichts erkennen. Wieder runzelte sie leicht die Stirn, was eher Missfallen auszudrücken schien als Bestürzung. Langsam setzte sie sich ebenfalls. Die Stühle waren aus hellem Holz, passend zum Tisch, und grau gepolstert. Ganz schön nobel und teuer – eine Küche, die aussah wie ein Sitzungssaal. Die Küchengeräte, riesig und aus rostfreiem Stahl, standen am anderen Ende des Raums, eine halbe Meile weit entfernt.
«Verstehe», sagte Veronica schließlich. «Das wird wohl einer ihrer Schützlinge gewesen sein. Ich habe ja nie verstanden, weshalb jemand freiwillig in die Sozialarbeit geht. Denken Sie bloß mal an die Leute, mit denen man es da zu tun bekommt. Schauen Sie sich doch Connie Masters an.»
Schon wieder dieser Name. Vera notierte sich, dass sie das überprüfen wollte, wenn sie wieder im Büro war. Sie selbst hatte ja auch nie besonders viel von Sozialarbeitern gehalten, aber jetzt, angesichts dieser Frau, verspürte sie den Wunsch, Jenny Lister zu verteidigen.
Sie legte sich gerade eine Bemerkung zurecht, als Veronica weitersprach. «Das ist natürlich traurig, aber damit ist nun wenigstens diese lächerliche Idee mit der Hochzeit vom Tisch.»
«Mögen Sie Hannah Lister denn nicht?» Vera war überrascht. Das Mädchen war ihr sofort sympathisch gewesen. Wenn ich einen Sohn hätte und der würde was mit einer Kleinen wie der da anfangen, ich würde mich freuen wie eine Schneekönigin.
«Ach, na ja, sie ist ganz nett, aber sie sind doch beide noch so jung. Und ich denke schon, dass Simon eine bessere Partie machen könnte. Er studiert in Durham. An seiner Uni sind ein paar ganz reizende junge Frauen.» Sie blickte wehmütig drein.
Großer Gott!, dachte Vera. Hannah hat recht. Sie ist ja wirklich ein waschechter Snob. Ich dachte, die wären schon vor Jahren ausgestorben.
«War Mrs Lister denn für die Verbindung? Den Eindruck hat Hannah mir aber nicht vermittelt.»
«Das konnte man bei Jenny nie wissen. Typisch Sozialarbeiterin. Nur keine Partei ergreifen. Sie hat zwar immer gesagt, dass sie die beiden für zu jung hält, aber sie hat sie auch nicht voneinander ferngehalten. Während der Semesterferien wohnt Simon praktisch dort. Hannah geht noch zur Schule. Jenny hat wohl schon mitbekommen, wie lächerlich die Beziehung ist, aber sie hat Simon trotzdem bei sich aufgenommen.»
«Und was hält Ihr Mann von der Verbindung?» Denn einen Mr Eliot musste es einfach geben, dachte Vera. Jemanden, der das Geld herbeischaffte und Veronica mit teuren Kosmetika und schicken neuen Möbeln versorgte.
«Oh, Christopher ist viel auf Dienstreise. Er ist selten hier. Er ist Hannah bloß ein paar Mal begegnet.»
«Haben Hannah und Simon sich in der Schule kennengelernt?»
«Nein. Hannah ist auf der Gesamtschule in Hexham.» Beinahe hätte Veronica die Nase gerümpft. «Simon haben wir auf eine Privatschule in der Stadt geschickt.»
«Das muss Sie ja ganz schön was gekostet haben.»
Diese Bemerkung murmelte Vera leise vor sich hin, und Veronica tat so, als hätte sie es nicht gehört. Sie fuhr fort: «Sie haben sich durch die Musik kennengelernt. Am Sage, diesem Kulturzentrum in Gateshead, gibt es ein Programm für junge Musiker. Nach den Proben hat Simon Hannah oft nach Hause gebracht. Dann ist das Orchester in Norditalien auf Tournee gegangen, und da haben sich die beiden ineinander vernarrt. Seitdem sind sie unzertrennlich.»
Vera dachte an die Jugendlichen, mit denen sie bei der Arbeit zu tun hatte: die Junkies und Säufer, die Diebe und Schläger, die Mütter in den heruntergekommenen Wohnsiedlungen, die ganz krank vor Sorge waren. Sie fand, dass Veronica Eliot kaum Grund zur Klage hatte.
«Können Sie sich vorstellen, wieso jemand Jenny Lister umbringen wollte?», fragte sie plötzlich. Denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch nicht die Spur eines Motivs. Bevor Veronica sich wieder über die Schützlinge von Sozialarbeitern auslassen konnte, fügte Vera hinzu: «Anscheinend hat sie mit Kindern gearbeitet, deshalb glauben wir derzeit nicht, dass der Mord etwas mit ihrer Arbeit zu tun hat. Wie ist sie mit den anderen im Dorf denn so ausgekommen? Was haben die Leute von ihr gehalten?»
Veronica schien nachzudenken. «Wir haben nicht in denselben Kreisen verkehrt. Sie hat sich wohl nicht oft im Dorf blicken lassen. War den ganzen Tag bei der Arbeit und hat es weit gehabt ins Büro. Ich finde ja, dass man, wenn man in einer kleinen Gemeinde lebt, auch seinen Beitrag leisten sollte. Sie wissen schon, im Gemeinderat oder dem Ausschuss für die Spielgruppe oder dem Schulbeirat. Also ich mache da überall mit.»
Muss echt nett sein, die Zeit für so was zu haben. Aber Vera wäre lieber über glühende Kohlen gelaufen, als zu einem berufsmäßigen Ausschussmitglied auf dem Dorf zu werden.
«Sind Sie Mitglied im Willows-Fitness-Club?»
Falls die Frage Veronica überraschte, so zeigte sie es nicht. «Nein», sagte sie. «Das ist wirklich kein Ort für mich. Das war einmal ein sehr schönes Hotel, aber seit die Kette es übernommen hat, ist es einfach vulgär geworden. Zur Eröffnung des Clubs war ich eingeladen, aber ich fand es ziemlich abstoßend.» Missbilligend schürzte sie die Lippen. «Die erwarten doch tatsächlich, dass die Mitglieder ihre eigenen Badetücher mitbringen.»
Trotz ihrer spontanen Abneigung gegen die Frau wäre es wohl doch zu optimistisch, Veronica als Mordverdächtige zu betrachten, dachte Vera. Die Kommissarin hätte sie nur zu gern mit aufs Revier genommen, sie unter den dortigen Stammgästen warten lassen und dann in einen muffigen Verhörraum gebeten, aber Veronica würde natürlich niemals jemanden erdrosseln. Sie brachte die Leute mit ihren hochnäsigen Blicken und überheblichen Worten zur Strecke.
«Können Sie mir jemanden nennen, der sie gut kannte?» Vera hoffte, dass es außer Jennys nächsten Angehörigen noch ein paar Menschen gab, die ihren Tod betrauerten, die in Gedenken an sie einen heben und Geschichten von den schönen Zeiten erzählen würden, die man zusammen verbracht hatte.
«Wirklich, Inspector, ich glaube nicht, dass ich Ihnen da weiterhelfen kann. Jenny und ich haben uns gekannt, weil unsere Kinder miteinander befreundet sind. Sonst hatten wir nichts gemein.» Sie stand auf, ging aus der Küche und den Flur hinunter. Vera folgte ihr. «Sie könnten es natürlich mal bei Connie Masters versuchen. Ich nehme an, die beiden haben sich durch Jennys Arbeit kennengelernt.» Um ihre Lippen spielte ein feines, triumphierendes Lächeln, und an der Tür zögerte sie kurz. Sie hoffte wohl, Vera würde reagieren, doch als diese nichts dazu sagte, machte sie die Tür zu und schloss sorgfältig ab.
Vor lauter Neugier war Vera versucht, noch einmal an die Tür zu hämmern und Genaueres über Connie Masters zu erfragen. Aber genau darauf hatte Veronica es doch abgesehen, und die Genugtuung wollte Vera ihr nicht verschaffen. Stattdessen setzte sie sich ins Auto und fuhr vorsichtig an, wobei sie hoffte, dass der aufspritzende Kies den Lack ihres brandneuen Wagens nicht zerkratzte.
An der Kreuzung am Dorfrand hielt sie an, um sich zu orientieren. Im oberen Stock des Cottages, das auf der anderen Straßenseite auf dem tieferliegenden Grundstück am Fluss kauerte, ging Licht an. Es war später, als sie gedacht hatte. Sie sah auf die Uhr im Armaturenbrett. Ashworth hatte im Willows vermutlich schon Schluss gemacht und war jetzt auf dem Heimweg in seine adrette kleine Schuhschachtel in der adretten kleinen Siedlung am Rand von Kimmerston. Sie würde ihn ja dann morgen früh sehen. In dem erleuchteten Cottage konnte sie schemenhaft eine Frau und ein Kind erkennen, und plötzlich überkam sie die Sehnsucht nach der Kindheit, die sie nie gehabt hatte. Die Frau in dem Cottage hatte die Arme fest um das Kind gelegt, als wollte sie es vor der Welt draußen beschützen. Hector hatte es nicht böse gemeint, aber er hatte sie nun mal vernachlässigt und Vera ganz sich selbst überlassen.