Kapitel Einunddreißig

Joe Ashworth saß vor dem Haus der Shaws in seinem Wagen und versuchte, sich vorzustellen, wie das Leben in den letzten paar Jahren dort gewesen sein musste. Derek, der starke Mann, der Häuser gebaut und Geld gemacht hatte, der gut für seine Familie sorgte und plötzlich erkennen musste, dass er gescheitert war. Der verpassten Gelegenheiten nachhing. Seine Frau, die das sorglose Leben hatte aufgeben und eine Arbeit annehmen müssen, die sie verabscheute. Hatte sie Derek die Schuld daran gegeben? Hatte ihre Verbitterung ganz im Stillen an der Ehe genagt, und verachtete sie sich selbst dafür? Hatte sie sich einen Geliebten gesucht, eine Affäre begonnen? Das hätte Ashworth nicht überrascht. Und dann war da der Junge, aufgeweckt und charmant und gewöhnt, alles zu bekommen, was er wollte, und dem erst Hannah und dann die Wendung im Geschick seiner Eltern einen Strich durch die Rechnung gemacht hatten. Ashworth wünschte, Vera wäre bei dem Gespräch dabei gewesen. Sie hätte herausbekommen, was hinter all dem steckte. Sie hätte einen Sinn darin erkannt.

Er ließ den Motor an und fuhr durch das Tal nach Barnard Bridge. Connies Nissan stand immer noch nicht vor dem Cottage, aber er hielt trotzdem an, klopfte an die Tür und spähte durch die Fenster. Aus dem Briefschlitz ragte die Post. Er schob sie durch. Dann setzte er sich in den Garten und rief nacheinander bei Connies Freundinnen an, die Frank ihm aufgelistet hatte. Dazu brauchte er nicht lang. Es waren nur drei, und keine von ihnen hatte Connie in letzter Zeit gesehen. «Irgendwie haben wir uns aus den Augen verloren, seit sie in den Westen gezogen ist», meinte eine, und etwas Ähnliches sagten sie alle. Es war ihnen unangenehm, dass sie keine besseren Freundinnen gewesen waren. Wieder wurde Joe klar, wie einsam Connie gewesen sein musste, zu stolz, um mit den Freundinnen aus ihrem alten Leben in Verbindung zu bleiben, und geschnitten von den Frauen in ihrem neuen. Er versuchte es noch einmal auf Connies Handy, aber der Anruf wurde sofort auf die Mailbox umgeleitet.

Aus einem Impuls heraus überquerte er die Straße und ging die Auffahrt zum Haus der Eliots hoch. Früher einmal wäre er jetzt nervös gewesen. Wenn die Arbeit ihn in die Häuser der Reichen geführt hatte, war er nicht gern Polizist gewesen, er fühlte sich wohler in den Sozialwohnungen, den kleinen Cottages der Bergarbeiter. Aber Vera hatte ihm das ausgeredet: Sie sind ebenso gut wie die. Lassen Sie sich doch nicht von Geld einschüchtern. Das heißt nicht, dass die schlauer wären als Sie, und zu besseren Menschen macht es sie erst recht nicht.

Veronica Eliot öffnete die Tür. Sie forderte ihn nicht auf, einzutreten, und er fühlte sich in etwa so willkommen wie ein Vertreter für Isolierfenster. Die Shaws hatten sich wenigstens gefreut, ihn zu sehen.

«Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wo Connie Masters sein könnte?», fragte er.

«Wieso sollte ich?»

«Sie waren doch gestern Nachmittag bei ihr, als Jenny Listers Tasche gefunden wurde. Weil Sie eine gute Nachbarin sind. Sie macht gerade eine schwierige Zeit durch. Ich dachte, sie hätte Ihnen vielleicht etwas gesagt. Falls sie sich vor der Presse versteckt hält.»

«Ich glaube nicht, dass die Presse sie schon ausfindig gemacht hat.» Jetzt wirkte Veronica nicht mehr so feindselig. Hatte sie gedacht, er wäre ihretwegen da? «Sie hat mir gegenüber nicht erwähnt, dass sie weg will.»

«Könnte sie bei irgendwem hier im Dorf sein?»

Veronica schien kurz zu überlegen, aber er merkte genau, dass sie den Gedanken schon verworfen hatte. «Sie hat sich hier noch mit niemandem so richtig angefreundet. Es ist eher unwahrscheinlich, fürchte ich.»

Vielleicht blieb Joe auf der Türschwelle stehen, weil sie so kurz angebunden war. Vera hatte ihm beigebracht, hartnäckig zu sein und den Vertretern dieser dreisten Mittelklasse Paroli zu bieten. «Das muss schwer für Sie gewesen sein», sagte er, «wieder ein Kind da unten im Cottage zu sehen.»

Sie sah ihn voll Abscheu an. Wenn er auf einer ihrer schicken Dinnerpartys einen Furz gelassen hätte, hätte sie nicht verächtlicher blicken können.

«Ich weiß nicht, wie Sie auf die Idee kommen, Sie hätten das Recht, in den privaten Tragödien meiner Familie herumzuwühlen.»

Darauf ging er nicht ein, er redete weiter, als dächte er nur laut nach und erwartete gar keine Antwort. «Bestimmt hat es damals eine Untersuchung gegeben. Ein plötzlicher Todesfall, da ist sicher die Polizei eingeschaltet worden. Und das Sozialamt auch, nehme ich an. Die Leute haben bestimmt getratscht. Das kann nicht leicht gewesen sein.»

Da verlor Veronica die Beherrschung. Plötzlich und völlig unerwartet bröckelte ihre Fassade, und Joe kam sich vor wie ein Wurm. Sie war hochrot im Gesicht und schimpfte auf ihn ein, dass die Worte nur so auf ihn niederprasselten. «Glauben Sie im Ernst, das hätte mir irgendwas ausgemacht? Ich hatte gerade meinen Sohn verloren. Glauben Sie wirklich, ich hätte mich darum geschert, dass die Leute tratschen könnten?»

«Es tut mir leid.»

«Und es ging ja nicht nur um mich. Auch Christopher hatte seinen kleinen Sohn verloren. Ich wusste, ich würde es nicht ertragen, danach noch einmal ein Kind zu bekommen. Simon hatte seinen Bruder verloren. Können Sie sich auch nur ansatzweise vorstellen, wie es uns ging?»

«Es tut mir leid», wiederholte Ashworth.

Es war, als hätte er gar nichts gesagt. «Wir haben Simon nie die Schuld an dem gegeben, was damals passiert ist. Nie. Er war noch ein Kind. Aber er war alt genug, um sich daran zu erinnern. Er hat gewusst, dass er nicht hätte wegrennen dürfen. Er denkt, dass es sein Fehler war. Damit muss er seitdem klarkommen. Glauben Sie wirklich, ein bisschen Tratsch könnte schlimmer sein als diese Qual?»

«Nein», sagte Ashworth. Er musste sich davon abhalten, die Hände hochzunehmen, um seinen Kopf vor der Gewalt der Worte zu schützen. «Nein, natürlich nicht.»

Der Ausbruch endete ebenso plötzlich, wie er begonnen hatte. Veronica wurde wieder unnahbar und eiskalt. «Um Ihre Frage zu beantworten, Sergeant, natürlich war es schwer, ein Kind da spielen zu sehen, wo Patrick ums Leben gekommen ist. Ich war hin- und hergerissen. Vielleicht hat das, was ich erlebt habe, ja auf mein Verhalten Connie gegenüber abgefärbt. Ich bin nicht nett zu ihr gewesen. Aber mit ihrem Verschwinden habe ich nichts zu tun. Ich weiß nicht, wo sie ist.»

Sie wollte sich schon umdrehen und die Tür wieder zumachen, aber Ashworth rief sie noch einmal zurück.

«Könnte ich bitte mit Hannah sprechen?»

«Hannah ist nicht hier. Sie und Simon sind heute Morgen kurz nach Ihnen aus dem Haus gegangen. Ich nehme an, sie sind wieder bei ihr zu Hause, aber sie haben mir nicht gesagt, wo sie hinwollen.» Sie blieb in der Tür stehen, eine einsame und würdevolle Gestalt, und sah zu, wie der Polizist wegging.

 

Er fand das Mädchen im Garten hinter dem kleinen Haus, das es mit seiner Mutter bewohnt hatte. Als er an die Tür klopfte, machte niemand ihm auf, und er wollte schon aufgeben, als Hilda ihm von ihrem Wohnzimmerfenster aus zuwinkte und auf einen bogenförmigen Durchgang zwischen ihrem Haus und dem der Listers deutete.

Hannah war allein. Sie hatte das rote Haar flüchtig zu einem Zopf zusammengebunden und trug Gummistiefel und einen riesigen handgestrickten Pullover mit ausgefransten Bündchen und Löchern an den Ellbogen. Sie grub gerade ein kleines Gemüsebeet um. Als sie ihn sah, hielt sie inne und lehnte sich auf die Harke. Sie war ganz rot im Gesicht, und ihr Atem ging schnell.

«Mum hat in den Osterferien immer Kartoffeln gesetzt. Und dicke Bohnen. Das wollte ich nicht schleifen lassen.»

«Sie haben sich ja daraufgestürzt wie der Teufel auf die armen Seelen.» Das hatte sein Großvater immer gesagt. «Das erschöpft Sie doch.»

«Das hoffe ich ja.» Sie lächelte ihn an. «Es wäre schön, mal wieder ohne Tablette einschlafen zu können. Am anderen Morgen fühle ich mich davon immer so mies.»

«Ist Simon nicht hier?»

«Er ist mit Mums Wagen in den Supermarkt nach Hexham gefahren. Das hätte ich nicht ertragen – weder den Supermarkt noch den Wagen –, deshalb bin ich hiergeblieben. Irgendwas müssen wir ja essen, und ich will nicht jeden Tag ins weiße Haus gehen.» Sie bückte sich geistesabwesend, zupfte etwas Unkraut aus der Erde und warf es auf die Schubkarre, dann richtete sie sich wieder auf. «Wissen Sie schon, wer meine Mutter umgebracht hat?»

Er schüttelte den Kopf. «Können Sie mir ein paar Fragen beantworten?»

«Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass wir hier draußen bleiben. An der Luft fühle ich mich besser.» Und er hatte wirklich den Eindruck, dass es ihr viel besser ging. In der Frühlingssonne sah sie fast fröhlich aus. Sie war nicht mehr so blass und teilnahmslos, wirkte nicht mehr wie betäubt.

«Hat Ihre Mutter in letzter Zeit mal erwähnt, dass ihr im Fitness-Club irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen ist? Wir glauben, dass einer von den Angestellten die Gäste und seine Kollegen bestohlen hat. Das könnte ein Motiv sein.» Er wollte mit etwas Allgemeinem anfangen, nichts zu Persönlichem.

«Nein. Sie hat nichts gesagt. Aber das heißt nicht, dass ihr nichts aufgefallen ist. Wir haben beide viel zu tun gehabt. Sie ist oft erst spät von der Arbeit heimgekommen, und da war ich dann schon mit Si unterwegs oder habe mich zum Lernen auf mein Zimmer verkrochen. Wir standen uns zwar nahe, aber viel Zeit zum Reden hatten wir nicht.»

«Ich möchte gern noch einmal über Danny Shaw mit Ihnen sprechen.» Joe zögerte. Das war ein heikleres Thema, aber er wollte es anschneiden, solange er Hannah für sich allein hatte. «In seinem Zimmer hängt eine Collage. Seine Mutter hat gesagt, dass Sie ihm die geschenkt hätten. Das klingt, als wäre mehr zwischen Ihnen gewesen als bloß ein paar Kino- oder Kneipenbesuche. Karen sagt, Sie seien seine erste Liebe gewesen und er sei nie über Sie hinweggekommen.»

Sie bückte sich wieder, um noch etwas Unkraut auszuzupfen und seinem Blick auszuweichen.

«Eine Zeitlang habe ich gedacht, ich würde ihn lieben. Das Bild habe ich ihm geschenkt, als ich noch ein bisschen verliebt in ihn war.»

«Was ist denn schiefgelaufen?»

«Eigentlich nichts. Ich habe Simon kennengelernt und erkannt, dass Danny im Grunde ein ziemlicher Trottel ist.»

«Dann haben Sie Danny also für Simon den Laufpass gegeben? Das klang heute Morgen aber noch ein bisschen anders.»

«Ach ja?» Sie lächelte. «Keine Ahnung. Dieser ganze Kram kommt einem so wichtig vor, wenn man mittendrin steckt, aber später bedeutet es kaum noch was. Das ist ein kleines Dorf hier. Es gibt kaum Jugendliche im gleichen Alter. Noch bevor man siebzehn ist, ist man wahrscheinlich mit den meisten der verfügbaren Jungs schon mal ausgewesen. Das ist wie bei einem dieser schottischen Volkstänze. Wechseln Sie den Partner, wenn die Musik aufhört. Am Ende sind wir alle einfach nur gute Freunde geworden.»

Joe nahm an, dass das stimmte. Bei ihm war es das Gleiche gewesen. Bevor er seiner Frau begegnet war, war er mit ein paar ihrer Freundinnen ausgegangen; eine davon war erst letzte Woche mit ihrem Mann bei ihnen zum Abendessen gewesen. Die Leidenschaft der Jugendjahre verebbte schnell.

Er wollte Hannah fragen, ob sie mit Danny geschlafen hatte, ob sie so eng zusammen gewesen waren, hielt sich aber zurück. Er wusste, dass ihr die Frage lächerlich erschienen wäre, ganz abgesehen davon, dass er nicht in ihren Privatangelegenheiten herumschnüffeln wollte.

«Hat Danny das sehr getroffen? Heute Morgen haben Sie gesagt, dass er Ihnen E-Mails geschrieben und Sie angerufen hat, nachdem Sie ihn verlassen hatten. Hat er Ihnen Schwierigkeiten gemacht?»

Sie zuckte die Achseln. «Nein. Er war bald drüber weg. Mit seiner Neuen hat er in der ersten Woche an der Uni was angefangen, so untröstlich kann er also nicht gewesen sein.»

Sie schob die Schubkarre an den Rand des Gartens und warf das Unkraut auf den Komposthaufen. «Ist das alles, was Sie wissen wollten? Ich fürchte, ich bin Ihnen keine große Hilfe.»

«Hat Simon je mit Ihnen über Patrick gesprochen?» Joe hatte nicht vorgehabt, sie nach dem toten Bruder zu fragen, aber jetzt dachte er, es könnte wichtig sein: das ertrunkene Kind und was das aus Simon gemacht hatte.

«Natürlich.» Sie strich sich eine vereinzelte Haarsträhne aus der Stirn und hinterließ dort einen Streifen Erde. «Wir sagen uns alles.»

«Was hat er Ihnen erzählt?»

«Dass Patrick wie ein Gespenst in ihrem Leben war. Alle seine Sachen sind weg. Veronica hat sein ganzes Spielzeug und alle seine Kleider weggeworfen, und nach dem Unfall haben sie seinen Namen kaum mehr erwähnt. Simon sagt, er hat manchmal das Gefühl, dass es Patrick nie gegeben hat, dass er sich den Unfall und das alles nur ausgedacht hat.»

«War Ihre Mutter damals schon als Sozialarbeiterin tätig?» Ashworth kam es so vor, als tastete er sich langsam an einen Zusammenhang heran, an eine Erklärung.

«Ich glaube schon.» Hannah sah unvermittelt auf. «Glauben Sie, dass sie sich nach dieser schrecklichen Sache um die Familie Eliot gekümmert hat? Ihre Ausbildung hatte sie damals schon abgeschlossen, glaube ich, und wir haben wohl auch schon hier gewohnt.»

«Es ist mir nur grad in den Sinn gekommen», sagte Joe. «Aber das wäre schon ein zu arger Zufall. Ihre Mutter hätte sich sicher daran erinnert, schließlich ist es in der unmittelbaren Nachbarschaft passiert. Sie hätte darüber gesprochen.»

«Oh, das glaube ich nicht.» Hannah wirkte überzeugt. «Sie hat so einen Fimmel gehabt, was die Vertraulichkeit betrifft. Sie hat immer gesagt, die Arbeit soll im Büro bleiben, da, wo sie hingehört.» Sie lehnte die leere Schubkarre gegen die Wand. «Heute werde ich hier wohl nicht mehr weitermachen. Möchten Sie vielleicht einen Tee?»

«Fühlt Simon sich verantwortlich für den Tod seines Bruders?»

Sie war schon auf dem Weg zur Hintertür des Hauses, doch seine Frage hielt sie zurück.

«Natürlich.» Sie zog sich das Band, das den Zopf zusammengehalten hatte, vom Kopf und schüttelte die Haare aus. «Das hat den Menschen aus ihm gemacht, der er heute ist.»