Kapitel Eins
Vera schwamm langsam durchs Becken. Ein älterer Herr, der sich die Badekappe wie ein straff gespanntes Kondom über den Kopf gezogen hatte, kraulte an ihr vorbei. Er schwamm nicht besonders gut und war doch schneller als sie. Im Kosmos des Schwimmens war sie das Faultier. Sie fand es anstrengend genug, ihren massigen Körper überhaupt durchs Wasser zu bewegen.
Das Gefühl von Wasser im Gesicht war ihr zuwider – ein Spritzer, und sie glaubte, sie müsse ertrinken –, deshalb schwamm sie die Bahn langsam in Brustlage und hielt das Kinn ein ganzes Stück über der Wasseroberfläche. Wobei sie vermutlich aussah wie eine riesige Schildkröte.
Es gelang ihr, den Kopf noch ein Stückchen höher zu recken, sodass sie auf die Wanduhr sehen konnte. Gleich Mittag. Bald würden die rüstigen Senioren für den Aqua-Aerobic-Kurs anrücken. Die Frauen mit ihren lackierten Zehennägeln, den geblümten Badeanzügen und jener selbstgefälligen Gewissheit, zur letzten Generation zu gehören, die noch ohne größere Einbußen früh in Rente gehen konnte. Dann spielte immer laute Musik – die von der hochempfindlichen Lautsprecheranlage und der unerträglichen Akustik der Schwimmhalle allerdings so verzerrt wurde, dass man sie kaum noch als Musik bezeichnen konnte –, und eine junge Frau im Gymnastikanzug schrie herum. Schon den Gedanken daran konnte Vera nicht ertragen. Sie hatte ihre üblichen zehn Bahnen geschwommen. Na gut, acht. Sie konnte sich einfach nichts vormachen, und sollte ihr Leben davon abhängen. Und jetzt, so wie ihr der Atem in den Lungen pfiff, hatte sie tatsächlich das Gefühl, dass ihr Leben davon abhing. Ach, scheiß drauf! Noch fünf Minuten ins Dampfbad, und dann einen extrastarken Latte macchiato und zurück an die Arbeit.
Das mit dem Schwimmen war die Idee ihrer Ärztin gewesen. Vera war zur Routineuntersuchung gegangen und hatte sich gegen die üblichen Vorhaltungen wegen ihres Gewichts gewappnet. Was ihren Alkoholkonsum betraf, da log sie ja immer, aber ihr Gewicht war unübersehbar, das konnte sie nicht verheimlichen. Die Ärztin war noch jung, sie sah aus wie ein kleines Mädchen, das den respekteinflößenden Kittel einer Erwachsenen nur als Verkleidung trug.
«Ihnen ist schon klar, dass Sie sich umbringen?» Sie beugte sich über den Tisch nach vorn, und Vera konnte sehen, dass sie kein Make-up auf der perfekten Haut trug. Sie roch dezent nach Erwachsenenparfum.
«Ich habe keine Angst vor dem Tod», sagte Vera. Sie liebte dramatische Äußerungen, diese aber entsprach vermutlich sogar der Wahrheit.
«Vielleicht sterben Sie ja auch nicht.» Die Ärztin hatte eine klare Stimme, die jedoch ein bisschen zu hoch war, um angenehm zu klingen. «Jedenfalls nicht gleich.» Und dann zählte sie die ganzen scheußlichen Symptome auf, zu denen Veras Völlerei führen konnte. Eine altkluge Musterschülerin, die ihr die Leviten las. «Es wird Zeit, Miss Stanhope, dass Sie anfangen, Ihren Lebensstil ernsthaft zu überdenken.»
Inspector, wollte Vera sagen. Inspector Stanhope. Aber sie spürte, dass ausgerechnet dieses als Ärztin verkleidete Kind sich von ihrer Stellung nicht beeindrucken lassen würde.
Also war Vera Mitglied im Fitness-Club eines großen Hotels vor den Toren der Stadt geworden, und an den meisten Tagen zwackte sie sich eine Stunde von der Arbeit ab und schwamm zehn Bahnen. Oder acht. Nie, dachte sie selbstgerecht, weniger als acht. Sie versuchte, zu einer Zeit zu kommen, wenn das Becken leer war. Frühmorgens und abends kam nicht in Frage. Dann war der Umkleideraum überfüllt mit all den mageren, sonnengebräunten jungen Frauen, die sich an ihre iPods stöpselten und an sämtlichen Geräten im Fitnessraum trainierten. Wie sollte Vera ihre mit Ekzemen übersäten Beine, ihren schwabbeligen Bauch und ihre Cellulitis vor diesen zwitschernden, kichernden Göttinnen entblößen? Hin und wieder warf sie einen schnellen Blick in den Fitnessraum, der mit seinen riesigen Maschinen und den keuchenden, sich windenden Leibern aussah wie eine moderne Folterkammer. Die Männer glänzten vor Schweiß, und sie ertappte sich dabei, dass ihr Anblick sie faszinierte – der Anblick der glatten Muskeln, der kräftigen Schultern und der Füße in Turnschuhen, die auf dem Stepper auf und ab stampften.
Normalerweise kam sie am späten Vormittag in den Fitness-Club, sagte auf der Arbeit, sie hätte ein Meeting, und hetzte hierher. Sie hatte sich einen Club ausgesucht, der ein Stück außerhalb lag; das Letzte, was sie wollte, war, dass jemand, den sie kannte, sie hier sah. Ihren Kollegen hatte sie nichts davon erzählt, und obwohl ihnen möglicherweise aufgefallen war, dass ihre Haut und die Haare nach Chlor rochen, hüteten sie sich doch davor, etwas zu sagen.
Vera erreichte den Beckenrand und hielt sich fest, um wieder zu Atem zu kommen. Sich aus dem Becken zu stemmen, wie es die jungen Frauen taten, war für sie nicht drin. Als sie zur Treppe watete, warf schon jemand die Kette aus Schwimmkork in die Mitte des Pools, um die für den Aqua-Aerobic-Kurs reservierten Bahnen abzugrenzen. Sie hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft.
Im Dampfbad duftete es nach Zedernholz und Eukalyptus. Der Dampf war so dicht, dass sie zuerst gar nicht sehen konnte, ob außer ihr noch jemand da war. Es machte ihr nichts aus, das Dampfbad mit anderen Frauen zu teilen – hier konnte ja keine genauer erkennen, wie sie aussah. Vielleicht spürten sie ihre Massigkeit, aber der Rest blieb ihnen verborgen. Doch wenn sie mit einem Mann allein hier drin war, fühlte sie sich merkwürdig verwundbar. Es war nicht die Angst, jemand könnte sie angreifen oder auch nur antatschen oder sich vor ihr entblößen. Sie waren ja bloß durch eine Schwingtür vom Lärm der Schwimmhalle getrennt. Auf einen Schrei hin würde jemand vom Personal kommen, außerdem hatte sie noch nie Angst vor solchen Spinnern gehabt. Aber hier drin herrschte eine Intimität, die ihr Unbehagen bereitete. Wenn sie ein Gespräch anfing, würde sie womöglich Dinge von sich preisgeben, die sie später bereute. Hier, wo man fast nackt war und betäubt von der Hitze und dem Duft, würde eine zufällige Begegnung sie noch dazu verleiten, Vertraulichkeiten auszuplaudern.
Doch im Moment war nur eine andere Frau da, die mit angezogenen Beinen in der Ecke saß, die Füße ruhten auf der Marmorbank. Ihr Kopf war zurückgelehnt, sie sah vollkommen entspannt aus. Vera beneidete sie. Den Zustand vollständiger Entspannung erreichte sie selbst nur selten. Die Mädchenärztin hatte ihr Yoga vorgeschlagen, und Vera hatte es ausprobiert, aber sterbenslangweilig gefunden. In einer Stellung zu verharren, stundenlang, wie es ihr vorkam, flach auf dem Rücken zu liegen, während ihr die Gedanken und Ideen im Kopf herumtobten – wie um alles in der Welt sollte das entspannend sein?
Vera ließ sich behutsam auf dem Marmor nieder, der vom Kondenswasser ganz rutschig war, und machte dabei ein Geräusch wie ein nasser Furz. Die Frau in der Ecke reagierte nicht, wie taktvoll. Vera versuchte, den Kopf nach hinten zu lehnen und die Augen zu schließen, aber die Gedanken an die Arbeit drängten sich vor. Sie hatte gerade keinen Fall, der ihr besondere Sorgen bereitete. Seit Weihnachten war es ungewöhnlich ruhig gewesen. Aber irgendetwas gab es immer: Nörgeleien über die Büropolitik, der Gedanke an einen Hinweis, dem man hätte nachgehen sollen. In Momenten körperlicher Ruhe arbeitete ihr Gehirn wie üblich am heftigsten.
Sie machte die Augen wieder auf und betrachtete die Frau in der Ecke mit neidischem Blick. Der Dampf wirkte jetzt weniger dicht, und Vera sah, dass sie noch nicht alt war, eher in den Vierzigern. Kurzes, lockiges Haar, ein schlichter, blauer Badeanzug. Schlank, mit langen, wohlgeformten Beinen. Und erst da, als ein Luftzug aus dem Nichts den Nebel zerstäubte, wurde Vera klar, dass ihre Gefährtin zu ruhig dasaß und ihre Haut zu blass war. Die Frau, auf die Veras Neid sich gerichtet hatte, war tot.