Kapitel Vierundzwanzig
Heute war Spielgruppe, und die Sonne schien so warm, dass Connie Alice zu Fuß zum Gemeindesaal brachte. Der Klatsch unter den auf dem Bürgersteig versammelten Frauen drehte sich ausschließlich um Jenny Listers Tod, was eine angenehme Abwechslung zu den üblichen boshaften Bemerkungen über Connie und Elias Jones darstellte. Weil Connie früher mit dem Mordopfer zusammengearbeitet hatte, wurde sie, während alle darauf warteten, dass die Türen sich öffneten, in die Unterhaltung mit einbezogen. Zunächst kamen nur kurze, zaghafte Fragen, aber nach ein paar Minuten war Connie plötzlich von einem Haufen aufgeregter junger Frauen umringt. «Was, glauben Sie, ist passiert? In den Zeitungen steht ja nur so allgemeines Zeug. Was hat die Polizei Ihnen gesagt?» Connie kam sich wie ein Flittchen vor, aber sie lieferte ihnen, was sie haben wollten, kleine Auskunftshäppchen über Jenny und ihre Arbeit im Sozialamt. Als der Gemeindesaal geöffnet wurde, hingen sie ihr an den Lippen, und niemand drängelte wie sonst ins Gebäude.
Drinnen saß Veronica Eliot mit Klemmbrett und Füller an einem kleinen Tisch und nahm die Anmeldungen für das kommende Halbjahr entgegen. Ihre Lippen leuchteten, und sie sah tadellos aus in ihrer schwarzen Leinenbluse, deren Kragen so steif gebügelt war, dass Connie sich wunderte, dass er seiner Trägerin noch nicht den Nacken aufgeschlitzt hatte. Connie reihte sich in die Schlange ein. Als es hier kaum noch auszuhalten gewesen war, hatte sie daran gedacht, Alice anderswo zur Vorschule zu schicken oder ihren Exmann so lange zu nerven, bis er eine private Vorschule bezahlte, aber im September sollte Alice auf die Grundschule kommen, und es wäre verrückt, sie nur für ein Halbjahr umzumelden.
Als sie an der Reihe war, fühlte sie sich im ersten Moment peinlich berührt. Sie ging davon aus, dass Veronica nicht wollte, dass sie ihr gemeinsames Mittagessen erwähnte. Denn wie sollte Veronica den anderen Müttern ihre veränderte Einstellung erklären? Wie kompliziert solche unausgesprochenen Übereinkünfte zwischen Frauen doch immer waren! Männer handelten da sicher viel offener. Doch Veronica lächelte sie freundlich an. «Das hat mir Spaß gemacht neulich. Das müssen wir mal wiederholen.»
Connie war ganz durcheinander. Sie blickte Veronica an, hellhörig, ob diese irgendwie sarkastisch klang oder andere, dunklere Motive deutlich wurden. Wollte sie sich über sie lustig machen?
«Es war sehr nett von Ihnen.» Connie sah sich um. Sie war die Letzte in der Schlange; die anderen Mütter zerstreuten sich langsam. Wenn jemand hätte mithören können, dachte sie, hätte Veronica das nie so gesagt. «Warum kommen Sie nicht mal bei mir vorbei?» Connie fragte sich, wieso sie plötzlich ein Bedürfnis verspürte, sich zu revanchieren. «Wie wäre es mit heute? Kommen Sie doch zum Tee. Ich kann Ihnen zwar nichts Selbstgebackenes anbieten, aber gestern habe ich Kuchen im Tyne Teashop gekauft, um mir mal was zu gönnen, und der schmeckt immer gut.»
Veronica blickte von ihrem Bogen Papier auf, und Connie machte sich auf eine Abfuhr, bestenfalls eine höfliche Entschuldigung gefasst. Hier im Dorf herrschte eine strenge Hierarchie, und selbst wenn ihre traurige Berühmtheit die Dinge nicht noch zusätzlich erschwert hätte, verkehrten sie doch in unterschiedlichen Kreisen.
«Vielen Dank», sagte Veronica. Dann huschte ein fast schon triumphierendes Lächeln über ihr Gesicht, als hätte sie die ganze Zeit auf diese Einladung gehofft. «Sollen wir sagen, so gegen vier? Wir sehen uns dann.» Sie nahm den Scheck aus Connies Hand und legte den Füller beiseite.
Connie ging zurück zum Cottage und fragte sich, was diesen Wandel bei Veronica bewirkt hatte. Im Ernst, worum ging es bei der ganzen Sache? Was konnte Veronica Eliot bloß von ihr wollen?
Während Alice in der Spielgruppe war, machte Connie das Haus sauber. Beim Putzen und Staubsaugen versuchte sie, alles durch die Augen der Älteren zu sehen, und stellte sich die geringschätzigen Blicke vor, die über die schäbigen Möbel, die Spinnweben und den ganzen Dreck schweiften. Doch als Veronica dann kam, etwas früher als erwartet – sie tauchte überraschend in der Küchentür auf, im Arm einen Strauß Blumen aus dem eigenen Garten –, zeigte sie sich gnädig. «Du lieber Himmel, wie haben Sie das Cottage verändert! Ich war einmal zum Abendessen bei den Eigentümern hier, und da war es bei weitem nicht so gemütlich wie jetzt.»
Aber dann setzten sie sich doch nach draußen, wo es trotz des leichten Windes angenehmer war als in dem feuchten Haus. Alice hatte ihre Gummistiefel an und planschte in dem Streifen Schlamm und Sand herum, der einen kleinen Strand zwischen dem Bach und dem Fluss bildete. Connie goss ihnen Tee aus einer Porzellankanne ein, die sie ganz hinten in der Speisekammer gefunden und für diese Gelegenheit ausgespült hatte. Wieder fiel ihr der junge Mann ein, der am Nachmittag des Mordtages aufgetaucht war. Auch da hatte sie draußen ihren Kaffee getrunken.
Veronica erzählte von ihrem Sohn.
«Er sagt, dass sie immer noch vorhaben, nächstes Jahr zu heiraten. Er wollte sogar mit Hannah durchbrennen, mit ihr ins Ausland fahren und sofort heiraten – wie kommt er bloß auf die Idee, das könnte ihr irgendwie über den Tod ihrer Mutter hinweghelfen! Jenny hat nicht mehr von dieser Hochzeit gehalten als ich. Stellen Sie sich nur mal vor, so eine armselige Zeremonie am Strand, inmitten von Pauschaltouristen. Ich bin froh, dass Hannah genug Verstand besitzt, um da nicht mitzumachen. Sie sagt, dass sie es ihrer Mutter schuldig ist, ihr Versprechen zu halten und zu warten, bis Simon seinen Magister hat. Das verschafft ihm zumindest ein bisschen Zeit. Wer weiß schon, was die beiden in zwölf Monaten voneinander halten?»
«Muss er denn nicht ohnehin in ein paar Wochen zurück an die Uni, wenn das neue Semester anfängt?» Connie interessierte sich nicht sonderlich für Simon Eliots Pläne, aber sie kannte die Spielregeln. Jede Frau musste der anderen zugestehen, über Dinge zu sprechen, die ihr am Herzen lagen. Bald würde Veronica Connie über Alice reden lassen, darüber, wie aufgeweckt sie war und wie gut sie sich hier eingelebt hatte. Die Grundschule im Nachbarort hatte einen sehr guten Ruf, und es gab zu viele Anmeldungen. Veronica saß im Schulbeirat und konnte vielleicht ihren Einfluss geltend machen. Schon möglich, dass Veronica einen ganz bestimmten Plan bei diesem Treffen verfolgte, aber Connie verfolgte auch einen.
«Ich habe Simon gesagt, dass er auf jeden Fall zurück an die Uni geht.» Veronica klang entschlossen. «Natürlich möchte er in Hannahs Nähe bleiben, aber er hat ja auch noch sein eigenes Leben. Du liebe Güte, sie hat schließlich noch einen Vater. Ich weiß ja, dass die beiden nie besonders gut miteinander ausgekommen sind, aber er könnte schon mal etwas Verantwortung übernehmen.» Kurze Pause. «Finden Sie nicht auch?» Die Frage kam heftig und etwas unerwartet heraus.
«Hannah will wahrscheinlich in Barnard Bridge bleiben, bis sie das Abitur gemacht hat.» Connie wollte Veronica nicht brüskieren, jetzt, wo sie diese neue Eintracht erreicht hatten, doch sie fand Simons Loyalität eher bewundernswert. Sie war sich nicht sicher, ob sie, sollte ihr jemals etwas zustoßen, wollte, dass Alice ihrem Exmann anvertraut würde. Wie sollte ihre Tochter sich denn in seiner neuen Familie zurechtfinden?
«Ja, scheint so. Und dann, mit Verlaub, wird sie bei Simon in Durham einziehen. Wir haben ihm da eine kleine Wohnung gekauft, ein Schnäppchen, wenn man sich den Immobilienmarkt so anschaut, und als Geldanlage. Durham ist sehr beliebt. Aber wenn uns klar gewesen wäre, wohin das führt, hätten wir es nicht getan.»
Alice war ein Stückchen den Bach hinaufgewatet. Obwohl der Fluss dahinter stark angeschwollen war, war das Wasser im Bach immer noch seicht und bedeckte kaum die Sohlen ihrer Gummistiefel, aber Connie rief ihr trotzdem hinterher, froh, Veronica dadurch nicht antworten zu müssen. «Pass auf! Wir wollen doch nicht, dass du ausrutschst und nass wirst.»
Da blickte Veronica auf, offenbar von ihren eigenen Sorgen abgelenkt. «O ja, Liebes, komm her und spiel hier bei uns. Das sieht mir ziemlich gefährlich aus da drüben.»
«Das ist schon in Ordnung», sagte Connie schroff. Veronica hatte ihren Sohn wahrscheinlich viel zu sehr behütet, dachte sie. Und davon abgesehen, welches Recht besaß die Frau, sich hier einzumischen?
Alice hatte in der Böschung einen Stock gefunden und stocherte damit jetzt am anderen Ufer des Baches im Unkraut herum. Dort stand der Bärenklau in riesigen Dolden, die höher aufragten als das Mädchen; die filigranen Blätter und gerippten Stängel mussten ihm wie ein Wald vorkommen, aufregend und geheimnisvoll.
«Komm zurück!», rief Veronica, sie klang beinahe schon panisch. «Ach bitte, komm doch her zu uns.»
Alice drehte sich um und legte die Stirn in Falten, folgte der fremden Frau aber nicht.
«Es ist wirklich in Ordnung», sagte Connie. Ihr fiel wieder ein, wie Veronica Alice angesehen hatte, als sie bei ihr zum Essen gewesen waren. «Im Ernst, ich glaube, Kinder brauchen einfach das Gefühl, Abenteuer zu erleben. Sie müssen doch lernen, mit Risiken umzugehen, finden Sie nicht?»
«Wie können Sie so etwas nur sagen?» Veronica geriet geradezu außer sich. «Ausgerechnet Sie! Sie haben es zugelassen, dass ein Kind in Ihrer Obhut stirbt!»
Alice musste die schrille Stimme gehört haben, auch wenn sie die Worte nicht verstanden hatte, und drehte sich nun wieder zu ihnen um. Einen Moment lang war alles still. Wasser plätscherte über Kieselsteine. In der Ferne rumpelte ein Traktor. Connie presste die Lippen aufeinander, um nichts zu sagen. Vor den Augen ihrer Tochter wollte sie nicht die Beherrschung verlieren.
«Es tut mir leid», sagte Veronica schließlich. «Das war nicht angebracht.»
Möglicherweise angesteckt von der Spannung zwischen den beiden Erwachsenen, ging Alice auf einmal mit dem Stock auf den Bärenklau los, sie hieb auf die Pflanzen ein und trampelte auf ihnen herum, um einen kleinen Pfad mitten durch das Unkraut zu schlagen. So weit hatte sie sich noch nie vom Cottage entfernt. Connie begann, die Tassen und Teller ineinanderzustapeln. Jetzt wollte sie bloß noch, dass Veronica ging. Sie würde sie ja doch höchstens erdulden. Die Vorstellung, aus ihnen könnten Freundinnen werden – sie, Connie, könnte in den erlauchten Kreis derer aufgenommen werden, die zu köstlichen Mahlzeiten in das große weiße Haus eingeladen wurden –, war absurd.
«Schaut mal, was ich gefunden habe!» Alice war schon fast nicht mehr zu sehen, und ihre Stimme klang seltsam gedämpft. Connie stand auf, froh, aus Veronicas Nähe zu entkommen. Sie ging zum Wasser hinunter, die Bewegung löste die Anspannung aus ihren Muskeln. Beim Überqueren des Bachs musste sie auf einem großen, flachen Stein balancieren, damit ihre Schuhe nicht nass wurden.
Alice stand auf einer verwilderten Lichtung mitten im Unkraut und schaute auf den Boden. «Gefällt sie dir, Mummy? Können wir sie behalten?» Und sie bückte sich, um die zerknautschte Handtasche aus Leder aufzuheben.