Kapitel Siebzehn
Joe Ashworth dachte, dass ja alles gut und schön war, wenn Vera ihre Anweisungen gab, aber Holly vom Haus der Listers loszueisen, war nicht einfach gewesen. Am Ende hatten sie einen Kompromiss geschlossen: Holly würde gehen, sobald am Nachmittag die Polizeipsychologin käme. Das bedeutete, dass er am Vormittag allein in Barnard Bridge unterwegs war, und es stellte sich heraus, dass es keineswegs einfach war, diesen Jemand aufzuspüren, von dem Vera gemeint hatte, er könnte etwas über Jennys Geliebten wissen. Ashworth war in einem der Bergarbeiterdörfer im Südosten Northumberlands aufgewachsen – auch wenn es selbst in seiner Kindheit schon nicht mehr viele Gruben gegeben hatte. Das war auch so ein Dorf gewesen, wo die Kinder auf der Straße spielten und die Mütter vor der Haustür saßen, ihnen zusahen und miteinander schwatzten. In so einer Umgebung fiel es ihm nicht schwer, die Menschen dazu zu bringen, ihre Geheimnisse auszuplaudern. Vera sagte immer, er sei wie ein Zauberer, er könne das Vertrauen der Leute aus dem Nichts heraus gewinnen. Aber da gehörte keine Zauberei dazu. Er spazierte einfach in den nächstgelegenen Pub, glitt zurück in den Dialekt, der ihn als einen der Ihren auswies, und schon bald erzählte ihm die Bardame alles, was er wissen wollte. Oder sie verwies ihn an jemanden, der ihm weiterhelfen konnte. Die Leute erzählten alle gern ihre Geschichten, und Joe war ein guter Zuhörer.
Aber das Dorf hier war anders. Er traf kurz vor neun Uhr ein, weil er dachte, dass er dann vielleicht die jungen Mütter abfangen könnte, die ihre Kinder gerade an der Schule absetzten, hatte aber natürlich vergessen, dass es im Dorf keine Schule mehr gab. Das Schulgebäude war zu einem protzigen Haus umgebaut worden, und da, wo einmal der Pausenhof gewesen war, parkten jetzt zwei dicke Autos. Es gab zwar die Spielgruppe, die auch Connie Masters’ Tochter besuchte, aber die hatte nur an drei Tagen in der Woche offen. Er schaute auf den Aushang vor dem Gemeindesaal: Der heutige gehörte nicht dazu. Auf der Hauptstraße war kein Fußgänger zu sehen, doch der Verkehrsstrom wollte nicht abreißen, und die Erschütterungen durch die Lastwagen bohrten sich in seinen Kopf, bis er nicht mehr klar denken konnte. In der Nacht hatte das Baby mehrmals geschrien, und der Schlafmangel war auch nicht gerade hilfreich.
In der Post, die auch als Gemischtwarenladen diente, standen zwei Rentner in der Schlange vor dem Schalter. Er wartete, bis sie ihre Rechnungen bezahlt und der eine von ihnen seinen Brief an den erwachsenen Sohn in Australien aufgegeben hatte, bevor er sie ansprach. Zwei ältere Männer, die ihr Leben lang hier im Dorf gewohnt hatten.
«Aber es ist nicht mehr wie früher, wissen Sie. Früher, da hätte ich Ihnen von jedem Mann und jeder Frau und jedem Kind hier im Sprengel sagen können, wie sie heißen. Jetzt wohnen in der Hälfte der Häuser Leute, die ich noch nie gesehen habe.»
Ashworth spürte, wie er seine Zuversicht wiedergewann. Ob sie nun unter Tage gearbeitet hatten oder auf dem Feld, die Leute waren überall gleich. Einer der beiden Männer wohnte neben Jenny Lister. Er habe schon mit einem Polizeibeamten gesprochen, sagte er schüchtern, nachdem sein Freund ihn angestoßen hatte. Am Vortag hätten sie bei allen in der Straße vorbeigeschaut. Der Mann sei sehr nett gewesen, aber man habe gleich gesehen, dass er es eilig hatte. Er habe ihn auf eine Tasse Tee hereinbitten wollen, der Mann habe aber keine Zeit gehabt.
«Also, ich habe alle Zeit der Welt», sagte Ashworth. «Und für eine Tasse Kaffee könnte ich jetzt glatt jemanden umbringen.»
Die beiden Männer sahen einander an, und Ashworth merkte, dass ihnen unbehaglich zumute war. Sie wollten nicht ungastlich sein, sagten sie, aber keiner von beiden könne ihn zu sich nach Hause bitten. Cuthbert wohne ein gutes Stück außerhalb des Dorfes, und Maurice sei den Vormittag über aus dem Haus verbannt worden, damit seine Frau in Ruhe putzen und backen könne. Es wäre ihr schrecklich peinlich, wenn er mit einem Fremden auftauchen würde, wo sie doch nicht auf Besuch vorbereitet sei. Sie besäßen angrenzende Schrebergärten und hätten vorgehabt, die Zeit dort zu verbringen. Wahrscheinlich hatten sie schon in der Schule nebeneinander gesessen, dachte Ashworth. Cuthbert und Maurice. Cuthbert, der das Reden übernahm, der Anführer. Er hatte es zum Verwalter auf einem der großen Höfe gebracht und wohnte immer noch dort in einem Diensthäuschen. Maurice war stiller und stotterte ein wenig. Sein linker Arm schien nicht mehr so recht zu wollen. Er war es, der neben den Listers wohnte.
Wieder nahm Cuthbert das Heft in die Hand. Sie könnten doch ins Café gehen, sagte er. In den Schrebergärten warte ja nichts Dringendes auf sie. Und Maurice willigte ein, wie er es wahrscheinlich immer tat. Das Café lag direkt am Fluss. Draußen hing ein großes, neues Schild, auf dem Tyne Teashop stand. Kunstvoll gepinselte altmodische Lettern, gold auf grünem Grund. Vor der Tür blieben die Männer kurz stehen. Ashworth wusste sofort, dass sie da noch nie drin gewesen waren. Selbst Cuthbert war ein wenig nervös.
«Ist das hier neu?», fragte Ashworth. «Schaut gut aus. Und es geht selbstverständlich alles auf meine Rechnung.»
Daraufhin entspannte sich die Stimmung etwas, und auch das konnte Ashworth verstehen. Bei ihm zu Hause war seine Mum für alle Geldangelegenheiten zuständig gewesen; jeden Monat hatte sie die Kontoauszüge überprüft und seinem Vater freitags beim Abendessen das Taschengeld gegeben.
«Es war mal eine Bäckerei», sagte Cuthbert. «Dann ist Mary in Rente gegangen, und so ein Mädel aus dem Süden hat es gekauft. Meine Frau war mal drin und hat gesagt: Nie wieder. Touristenpreise.»
Sie setzten sich an einen Tisch beim Fenster. Eine Frau kam, um ihre Bestellung aufzunehmen. Auf der Karte standen fünf verschiedene Arten Kaffee, was Maurice ein wenig zu verwirren schien, weshalb Cuthbert Cappuccino für sie beide bestellte. «Mo hatte vor kurzem einen Schlaganfall», sagte er. «Manchmal kann er nicht mehr so gut sprechen wie früher. Aber als wir alle vier in Rente gegangen sind, waren wir einmal zusammen in Italien, das war toll, mit den ganzen Museen und so, und daher weiß ich, was er gern trinkt.» Das wiederum brachte Ashworth, der felsenfest davon überzeugt gewesen war, zwei alte Landeier vor sich zu haben, die das Tyne Valley noch nie verlassen hatten, einigermaßen aus dem Konzept.
«Möchten Sie auch etwas essen?» Die Besitzerin war freundlich, und ihrem Ton nach schätzte Ashworth, dass sie nicht weiter aus dem Süden kam als York.
Sie bestellten einen Teller gemischtes Gebäck. Die Frau bediente sie und verschwand dann in der Küche, und Ashworth brachte die beiden behutsam auf das Thema Jenny Lister zurück.
«Sie kennen sie doch bestimmt schon, seit sie hierhergezogen ist, oder?» Er richtete seine Frage an beide Männer. Es schien Maurice nichts auszumachen, wenn Cuthbert für ihn sprach, aber dieses Mal wandte sich Cuthbert seinem Freund zu und ließ ihn antworten.
«Aye, die Kleine war da noch ein Baby. Meine Hilda hat immer ausgeholfen, auf die Kleine aufgepasst. Wir haben selber keine Kinder, und sie hat es gern gemacht.»
«Sie haben sich also gut miteinander verstanden?»
«Oh, das waren ganz reizende Nachbarn. Als ich den Schlaganfall hatte, da hat Jenny meine Hilda immer ins Krankenhaus gefahren. Jeden Abend, eine ganze Woche lang.» Maurice biss in ein köstlich aussehendes Teilchen mit rosa Glasur und leckte sich die dicken braunen Finger ab.
«Ich muss Ihnen ein paar heikle Fragen stellen», sagte Ashworth. «Es gab da vielleicht etwas, von dem Jenny nicht gewollt hätte, dass es sich im Dorf verbreitet, und ich weiß, dass Sie so etwas respektieren würden. Aber hier geht es um was anderes. Das hier ist kein Kaffeekränzchen. Es könnte uns helfen, herauszufinden, wer sie ermordet hat.»
Sie nickten. Sehr ernst, erfreut, noch einmal von Nutzen zu sein.
«Wir glauben, dass sie einen Freund hatte», sagte Ashworth. «Aber niemand weiß, wer das war. Haben Sie mal jemanden in das Haus gehen sehen, den Sie nicht kannten?»
Maurice schüttelte langsam den Kopf. «Nur die Freunde von der Kleinen. Und die waren auch sehr nett, wissen Sie. Man hört ja so einiges über die jungen Leute heutzutage, aber die haben immer ein paar Worte mit einem gewechselt und auch mal einen Witz gemacht. Die Frau, die an dieser Schule in Effingham unterrichtet, ist manchmal vorbeigekommen, aber andere Leute … Da kann ich mich an nichts erinnern.» Er blickte Ashworth mit einem schiefen Lächeln an. «Mein Gedächtnis ist seit dem Schlaganfall allerdings auch nicht mehr, was es mal war.»
«Könnte Hilda sich erinnern?»
Cuthbert fing an zu kichern und verschluckte sich an den letzten Krümeln seines Kuchens. «Und wie Hilda sich erinnern könnte. Sie ist für das Tyne Valley das, was dieses Spionagenest in Cheltenham für den Geheimdienst ist.»
«Aber sie ist keine Klatschbase», stammelte Maurice. «Kann man nicht sagen.»
«Na ja, sie weiß oft mehr, als sie sich anmerken lässt», lenkte Cuthbert ein. «So viel ist sicher.»
«Ob sie wohl mit mir reden würde, was meinen Sie?» Ashworth war sicher, dass er einiges Wissenswerte aus Hilda, der Matrone, herausbekommen würde. Alte Damen liebten ihn. «Ich will ja nicht stören, wenn sie viel zu tun hat, aber Sie könnten ihr doch sagen, wie dringend es ist.»
Maurice zögerte.
«Jetzt komm schon, Mo!», sagte Cuthbert. «Die Gelegenheit, mit so einem hübschen Kerl wie dem hier zu reden, die würde sie sich doch nicht entgehen lassen. Du kriegst mehr Ärger, wenn du ihn nicht mitbringst. Abgesehen davon ist sie jetzt sicher mit Staubsaugen fertig, und die Wäsche hängt bestimmt auch schon auf der Leine. Sie sitzt wahrscheinlich mit einer Tasse Kaffee vor dem Fernseher und schaut sich irgendeinen Blödsinn an.»
Maurice lächelte sein schiefes Lächeln und stand auf.
Hilda war noch nicht ganz fertig mit der Hausarbeit. Als sie kamen, wischte sie gerade den Küchenboden. Sie standen im Flur und sahen, wie ihr breiter Hintern sich zu den Bewegungen des Mopps hin und her wiegte.
«Was gibt es denn?» Gereizt, aber auch besorgt. Vielleicht dachte sie, Maurice hätte wieder einen Anfall gehabt.
«Es geht um Jenny Lister», sagte Cuthbert.
Hilda warf ihm einen raschen Blick zu, den Ashworth nicht ganz einordnen konnte. Während sie den Boden fertigwischte, ließ sie die drei im Flur stehen, dann führte sie sie in das kleine Wohnzimmer und ließ die Tür offen, sodass sie sich aus der Küche mit ihnen unterhalten konnte. Sie hätten auch im Haus von Ashworths Großmutter sein können. Polierte Möbel aus dunklem Holz und, wo man hinsah, Spitzendeckchen. An den Wänden gerahmte Stickereien. Es roch nach Bienenwachs und Pfefferminz. Das Fenster war klein, und davor hing eine Tüllgardine, die nur sehr wenig Licht hereinließ.
«Tee oder Kaffee?» Sie hatte ihren Eimer ausgeleert und rieb jetzt den Boden trocken.
Maurice grinste Cuthbert an. Offenbar hatten sie sich richtig entschieden.
Der Kaffee war sehr schwach, löslicher Kaffee mit heißer Milch, aber es gab selbstgebackene Haferkekse und Scones, die noch warm waren, mit so viel Butter, dass sie ihnen beim Essen über die Finger rann. Das Gebäck im Tearoom war kaum mehr als ein Mundvoll für jeden gewesen.
«Also, wer ist das?»
«Er ist von der Polizei.» Maurice sah sie bang an.
«Na, so viel habe ich auch schon erraten!» Sie drehte sich zu Ashworth um. «Ich nehme an, Sie haben auch einen Namen.»
Also stellte er sich vor und beantwortete ihre Fragen, wo er geboren sei und wo er wohne. Anscheinend hatte sie in jungen Jahren als Sekretärin bei Parson’s gearbeitet und eine seiner Tanten gekannt.
«Was wollen Sie denn nun wissen? Ich schätze, es geht um Jenny Lister.»
«Alles, was Sie mir erzählen können», sagte Ashworth. «Uns fallen gar nicht immer die richtigen Fragen ein.»
Hilda band sich die Schürze ab, setzte sich auf einen Stuhl mit hoher Lehne und faltete die Hände im Schoß. Als sie dann sprach, war sie so konzentriert wie eine Kandidatin bei einer Quizshow, die Fragen zu ihrem Spezialgebiet beantwortet. «Jenny Lister ist …», eine ganz kurze Pause, «… 1993 ins Dorf gezogen. Im Sommer. Hannah war noch ein Baby, und Jenny hatte Mutterschaftsurlaub.» Wieder schwieg sie und rümpfte kurz die Nase, um deutlich zu machen, dass sie das missbilligte. Ein Anflug von Eifersucht?, fragte sich Ashworth. Wenn ich Kinder gehabt hätte, wäre ich zu Hause geblieben und hätte selbst auf sie aufgepasst? «Hannahs Vater, Jennys Mann, war nach London zurückgegangen, wo er auch herkam.»
Die gleiche Geschichte wie bei Connie Masters, dachte Joe Ashworth. Deren Mann hat sie auch verlassen, als das Kind noch klein war. Ob es wohl von Bedeutung ist, dass ihnen beiden so was zugestoßen ist? Oder gehen über dem Versuch, mit einem kleinen Kind und einem anspruchsvollen Job eine Ehe zusammenzuhalten, die meisten Beziehungen kaputt? Vielleicht passiert so was ja ständig. Ashworths Frau arbeitete schon seit dem ersten Kind nicht mehr. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie er überleben sollte, wenn sie den ganzen Tag nicht da wäre. Plötzlich kam es ihm seltsam vor, dass er sich noch nie klargemacht hatte, wie abhängig er davon war, dass sie alles am Laufen hielt.
Unterdessen redete Hilda weiter. «Früher war Jenny das, was man eine Rundum-Sozialarbeiterin nannte. Sie hat sich um alles gekümmert. Dann haben sie das System geändert, und sie hat sich auf Kinder spezialisiert. Schließlich war sie dann für Pflegefamilien und Adoptionen zuständig.» Sie blickte Ashworth durch kleine, rechteckige Brillengläser an. «Aber das wissen Sie bestimmt schon alles.»
Er nickte. «Trotzdem, es ist sehr hilfreich, wenn jemand das mal zusammenfasst.» Die beiden alten Männer hätten ebenso gut nicht mehr im Zimmer sein können. Maurice sah aus, als würde er gleich einschlafen. Die Lastwagen, die vor dem Fenster vorbeirollten, rumpelten gleichmäßig im Hintergrund.
«Sie hat einen Freund gehabt», sagte Hilda plötzlich. «Lawrence. Hat als Ranger im Nationalpark gearbeitet. Sehr nett. Einmal haben wir sie zum Abendessen eingeladen. Bevor Maurice den Schlaganfall hatte, haben wir gern Leute zu uns eingeladen. Das machen wir immer noch, aber jetzt nur noch enge Freunde.»
«Was ist aus diesem Lawrence geworden?»
«Keine Ahnung. Sie haben davon gesprochen, zusammenzuziehen, und als Nächstes erfahre ich, dass sie sich getrennt haben.»
«Hat Jenny je mit Ihnen darüber gesprochen?»
«Sie hat sich nicht bei anderen ausgeweint», sagte Hilda. Jetzt, wo die Schürze weg war, sah Ashworth, dass sie recht adrett gekleidet war. Sie trug einen Faltenrock und eine gelbe Baumwollbluse. Eine flotte Frau, in jedem Sinne des Wortes.
«Aber Sie waren doch bestimmt fast wie eine Mutter für sie.»
«Kurz, nachdem das passiert ist, habe ich sie im Garten gesehen. Sie hat furchtbar ausgeschaut. Totenbleich, und man konnte sehen, dass sie geweint hatte. Ich habe sie auf einen Kaffee hereingebeten. Da hat sie mir erzählt, dass sie sich getrennt haben. Ich habe was über Männer fallen lassen – was man so sagt, wenn jemand ganz geknickt ist: ‹Machen Sie sich keinen Kopf deswegen. Die meisten Männer haben eine krankhafte Angst, sich zu binden.› Irgendwie so was. Aber sie hat gesagt, dass Lawrence nicht so einer ist und dass es ihr Entschluss gewesen ist, ihn nicht mehr zu treffen.»
«Hat sie gesagt, warum? Gab es da einen anderen?»
«Aye.» Hilda blickte zu ihm hoch. «Jemand ganz und gar Unpassenden. Das waren ihre Worte, nicht meine. ‹Ich weiß ja, dass es falsch ist, aber ich kann einfach nicht anders. Bei ihm fühle ich mich lebendig.› Das hat sie mir gesagt.»
«Hat sie Ihnen sonst noch was über ihn erzählt? Ihnen ist doch klar, wie wichtig das sein könnte.»
«Sie hat sich für die Verbindung geschämt.» Die pummelige kleine Frau sah Ashworth an, um sicherzugehen, dass er auch verstand, was sie sagte. «Mir ist das nicht sehr ersprießlich vorgekommen. Man sollte sich für die Wahl seines Partners nicht entschuldigen müssen. Vielleicht ist sie ihm ja zufällig begegnet, und sie hatten das, was man einen One-Night-Stand nennt. Ich habe mich aber auch gefragt, ob sie ihn womöglich durch die Arbeit kennengelernt hat.»
«Ein Kollege?» Ashworth ahnte, was für ein Stirnrunzeln das ausgelöst hätte, aber wenn man mit einem Sozialarbeiter ins Bett ging, musste man sich deswegen doch noch lange nicht schämen.
«Wohl eher einer von ihren Schützlingen, meinen Sie nicht auch?» Jetzt redete Hilda mit Ashworth, als wäre er ihr ebenbürtig, fast so scharfsinnig wie sie selbst. «Das habe ich schon früher befürchtet. Jemand tut ihr leid, sie versucht, ihm zu helfen, und dann kommen Gefühle ins Spiel.»
Auch Ashworth verstand, wie so was passieren konnte und weshalb es ein Geheimnis bleiben musste. Wahrscheinlich verstieß es gegen die Vorschriften ihres Berufs, und Jenny hätte zudem wie eine Närrin dagestanden. Die coole, professionelle Sozialarbeiterin, die sich mit einem Verlierer einlässt. Wie hätte das wohl ausgesehen?
«Vielleicht war es ja auch ein verheirateter Mann», sagte Ashworth. «Jemand von hier, jemand, den Sie vielleicht kennen, und sie wollte Ihnen deshalb nichts von ihm erzählen.» Die Vorstellung, dass Jenny sich in einen ihrer Schützlinge verliebt hatte, kam ihm einleuchtender vor, aber er musste auch andere Möglichkeiten ausloten.
«Kann sein.» Hilda sah nicht überzeugt aus. «Aber heutzutage scheint es für die Leute keine so große Sache mehr zu sein, wenn sie eine Affäre haben. Ich weiß nicht, ob Jenny sich dann so furchtbar aufgeregt hätte. Und überhaupt, wenn es jemand von hier gewesen wäre, hätte ich bestimmt schon vorher davon erfahren.» Ihr Tonfall deutete an, dass es daran keinen Zweifel gab.
«Cuthbert hat gesagt, dass er die Hälfte der Leute, die jetzt im Dorf leben, nicht mehr kennt.»
Hilda grinste ihn verschmitzt an. «Aye, mag sein. Cuthbert ist aber auch nicht Mitglied im Women’s Institute.»