Kapitel Einundzwanzig
Vera saß allein in dem Haus, das einmal ihrem Vater gehört hatte. In Nächten wie dieser, wenn sie etwas zu tief in die Scotchflasche geschaut hatte, konnte sie ihn hier immer noch vor sich sehen, wie er gutsherrengleich in dem einzigen bequemen Sessel vor dem Feuer saß. Oder wie er am Tisch stand, auf dem er Plastikfolie ausgebreitet hatte, in der Hand irgendeinen toten Vogel, und sich mit konzentriert zusammengekniffenen Augen anschickte, das Tier auszustopfen. Sie konnte wieder den Geruch nach totem Fleisch und Chemikalien riechen.
«Das Ausstopfen. Darin verbinden sich Kunst und Wissenschaft», pflegte er zu sagen.
Und Diebstahl. Und Mord. Schließlich hatte er seltene Vögel in freier Wildbahn gefangen und sie im Auftrag von Sammlern, die ähnlich durchgeknallt waren wie er, getötet, und sie hatte ihn nie davon abgehalten. Was hatte das aus ihr gemacht? Jetzt wurde ihr klar, dass es in diesem Fall im Grunde nur um Familien ging, um die merkwürdigen Bande zwischen Kindern und Eltern. Blut und Wasser, dachte sie, und dabei fiel ihr Elias ein, den dieselbe Mutter ertränkt hatte, die behauptet hatte, ihn zu lieben.
Sie war mit Hectors Beleidigungen aufgewachsen, seinem als Humor getarnten Spott: «Deine Mutter war eine so schöne Frau. Ich sammle überhaupt nur schöne Dinge. Ach, Vee, was ist bloß schiefgelaufen bei dir? Von wem stammst du bloß ab? Muss wohl meine Seite der Familie sein, was? Na, hoffen wir wenigstens, dass du auch meinen Verstand hast.»
Nur dass ich nicht mal seinen Verstand abbekommen habe, dachte sie jetzt und warf noch ein Holzscheit ins Feuer, sah zu, wie es Funken sprühte, wie die Rinde sich abschälte und aufplatzte. Ich hätte mich vergewissern müssen, ob es eine Verbindung zwischen Michael Morgan und dem Willows gibt. Erste Stunde auf der Polizeischule.
Auf der ganzen Fahrt Richtung Norden hatte sie ihre Wut am armen Joe Ashworth ausgelassen. «Muss ich denn an alles selbst denken? Ich habe doch um eine Liste der Angestellten gebeten. Um Übereinstimmungen zwischen den Verdächtigen und dem Fitness-Club zu überprüfen. Das hätte Charlie machen sollen. Was hat dieser Faulpelz denn bloß getrieben?» Sie fuhr zu schnell durch den Nebel und kostete es aus, dass Joe blass wurde und, die Lippen fest aufeinandergepresst, zusammenzuckte, als sie beinahe ein entgegenkommendes Auto rammten.
Schließlich aber kitzelte sie die Reaktion hervor, auf die sie gehofft hatte. Er konnte nicht mehr und verlor die Beherrschung. «Bloß weil Ihnen Ihr Leben keinen Pfifferling wert ist, müssen Sie mich nicht mit in den Abgrund reißen! Ich habe eine Frau und Kinder. Menschen, die sich tatsächlich Sorgen um mich machen. Und wenn Sie Ihr Team ordentlich leiten würden, anstatt selbst die Arbeit Ihrer Leute zu machen, wüssten Sie auch, was Charlie getrieben hat!»
Sie warf ihn unten an seiner Straße aus dem Wagen, machte nur in schroffem Ton mit ihm aus, dass sie ihn am nächsten Morgen abholen würde. «Seien Sie dann bloß fertig. Ich habe keine Lust, hier rumzuwarten, nur weil Sie noch Windeln wechseln oder Ihrer Brut einen Abschiedskuss geben.» Sie lud ihn nicht ein, noch auf einen Drink mitzukommen, obwohl sie sich schon den ganzen Nachmittag darauf gefreut hatte: auf die Möglichkeit, alles Gehörte in die rechte Perspektive zu rücken und mit dem einzigen Mann, dem sie sich jemals wirklich nahe gefühlt hatte, den Feierabend zu genießen. Seit ihrem Vorschlag, er solle sein Auto im Tyne Valley lassen, hatte sie das schon im Hinterkopf gehabt.
Wie traurig das doch ist! Das war ihr Vater, der sich wieder in ihre Gedanken gemogelt hatte. Er ist so jung, er könnte dein Sohn sein. Glaubst du wirklich, er schert sich auch nur einen Dreck um dich?
Sie stand auf und ging zum Fenster. Der Nebel hatte das Licht aus dem Tal geschluckt. Sie war jetzt von allem abgeschnitten, ganz allein auf der Welt. Mit schwankenden Schritten brachte sie die Flasche und das Glas in die Küche. Sie wusste, wenn sie jetzt noch etwas trank, würde sie die ganze Nacht nicht schlafen, und sie musste dem Geist ihres Vaters doch zeigen, dass sie ihren Job gut machte. Dass sie wusste, was sie tat.
Morgendliche Einsatzbesprechung auf dem Polizeirevier von Kimmerston. Ashworth war fertig gewesen, als sie bei seinem hübschen kleinen Häuschen in der gepflegten Siedlung voller Möchtegern-Manager vorfuhr; er kam schon aus der Haustür, bevor sie auch nur aus dem Auto gestiegen war. Und sie war gnädig gewesen. Hatte sich entschuldigt, was sie sonst so gut wie nie tat. Jetzt herrschte eine Art Waffenstillstand zwischen ihnen, bei dem beide sich unwohl fühlten.
Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, über ihr Team. «Wir haben echt Mist gebaut.» Vera fand, dass dieses «wir» ganz schön edel von ihr war. «Wie konnten wir bloß die Verbindung zwischen Morgan und dem Willows übersehen?»
«Na ja, er gehört eben nicht richtig zum Personal», sagte Charlie. «Er benutzt den Raum im Fitness-Club und zahlt nur eine symbolische Miete, weil sie glauben, dass er Kundschaft für den anderen Kram anlockt. Aber er arbeitet freiberuflich, deshalb steht er nicht auf der Liste mit den Angestellten, die sie uns geschickt haben, und offizielles Mitglied im Club ist er auch nicht.»
Er war nervös, was Vera diebisch freute. So nervös, dass der Styroporbecher mit Kaffee in seiner Hand zitterte und seine Stimme bebte. Sie nahm an, dass Ashworth Charlie gestern Abend angerufen hatte, kaum dass er zu Hause war: Sorge dafür, dass du auf alles eine Antwort hast. Die Chefin ist auf dem Kriegspfad.
«Wissen wir, ob er an dem Morgen, an dem Jenny Lister umgebracht worden ist, im Hotel war?»
«Das kann mir niemand sagen.» Charlie sah eingeschüchtert zu ihr hoch, wartete darauf, dass ihr der Kragen platzte. «Er muss nicht einstechen so wie die Angestellten.»
«Na, dann kriegen wir das besser mal raus.» Vera blickte in die Runde. «Nein, ich kriege das besser mal raus. Ich sollte sowieso noch mal zum Hotel fahren. Ich habe das Gespür für den Tatort verloren, und ich kenne mich immer noch besser da aus als irgendwer von euch. Hat Morgan einen Ausweis, mit dem er in den Schwimmbereich kommt?»
«Ja, einen Angestelltenausweis. Das hat er ausgehandelt, als er da mit seiner Praxis angefangen hat. Meistens, wenn er dort ist, geht er schwimmen und in den Fitnessraum.»
Langsam entspannte Charlie sich. Vera hatte die Versuchung verspürt, ihm eine Standpauke zu halten, um ihn endlich auf Trab zu bringen, aber heute Morgen beim Aufwachen war ihr hochherzig zumute gewesen, sie war stolz auf sich, weil sie an einem heiklen Punkt der Ermittlungen aufgehört hatte, zu trinken. «Was wissen wir über Freya Adams?»
Er hatte sich sogar ein paar Notizen zu Freya gemacht, die er jetzt vorlas, wobei er, da sie ihn nicht unterbrach, immer flüssiger wurde.
«Freya Adams hat vor etwa zwei Jahren begonnen, im Willows zu arbeiten, erst immer nur samstags, weil sie noch zur Schule ging, dann, in den vergangenen Sommerferien und über Weihnachten, ganztags. Um die Zeit hat sie dann am Newcastle College angefangen. Über Weihnachten ist sie sogar in die Unterkünfte für die Angestellten gezogen, weil ihre Eltern ausgewandert sind. Die haben zwar arrangiert, dass sie bei ihrer Großmutter bleiben kann, aber das hat offenbar nicht so gut funktioniert. Anscheinend hat sie sich zu eingeengt gefühlt. Ihre Oma hat sie wie ein Kind behandelt. Das sagt zumindest Ryan Taylor, der stellvertretende Geschäftsführer.»
«Arbeitet sie noch im Hotel?», fragte Ashworth.
Ein rascher Blick auf die Notizen. «Nicht, seitdem sie bei Morgan eingezogen ist. Er möchte, dass sie sich auf ihr Studium konzentriert.»
«Und das engt sie ja wohl überhaupt nicht ein!» Das kam von Holly, die seit Beginn der Besprechung auf eine Gelegenheit wartete, ihren Senf dazuzugeben.
«Weiß die Geschäftsführung vom Willows, dass Freya schwanger ist?», fragte Vera.
«Ryan hat da was läuten gehört, aber er hat nicht mit Morgan darüber gesprochen.» Charlie hielt inne. «Ich habe den Eindruck, dass unser Michael gern für sich bleibt. Er unternimmt kaum was mit den Hotelangestellten. Hält sich für was Besseres. Und er trinkt ja auch nichts, und wenn die anderen was zusammen unternehmen, ist meistens Alkohol im Spiel.»
«Warum ist er dann auf die Weihnachtsfeier gegangen? Kaum zu glauben, dass das sein Ding ist.» Vera konnte die Weihnachtsfeiern im Büro nicht ausstehen. Jeder versuchte, fröhlich zu sein. Mieses Essen und mieser Fusel. Keine Chance für sie, das nüchtern zu überstehen.
«Keine Ahnung.» Charlie sah unsicher von dem Fetzen Papier in seiner Hand auf, die Frage brachte ihn aus dem Konzept. «Das hat sie alle überrascht. Er war nicht mal eingeladen, ist einfach da aufgekreuzt.»
«Vielleicht hatte er da ja schon ein Auge auf Freya geworfen», meinte Holly. «Er kommt mir vor wie ein Raubtier auf Beutezug. Auch schon, wie er sich an Mattie rangemacht hat. Gut möglich, dass er ihr gefolgt ist und nur die Gelegenheit beim Schopf ergriffen hat, als sie in dem Café Geld brauchte. Vielleicht guckt er sich ja junge, unschuldige Dinger aus, die niemanden haben. Bestimmt ist darüber geklatscht worden, wie Freyas Eltern sie im Stich gelassen haben. Also ist er auf die Feier gegangen, um sie sich zu angeln.»
«Und dann muss er sie fast sofort geschwängert haben.» Vera fragte sich, wie einvernehmlich dieser Sex wohl gewesen war. Hatte Freya auf der Feier was getrunken? War es da passiert? Jetzt war es zu spät, ihn deswegen dranzukriegen, aber so oder so fügte es sich nahtlos ins Bild …
«Was glauben wir in Bezug auf Morgan und Jenny Lister?», fragte Joe Ashworth. «Hatten sie eine Affäre? Wenn ja, wann? Bevor er was mit Freya angefangen hat?»
Lange herrschte Stille. Alle versuchten, sich über die komplizierten Zeitabfolgen klar zu werden, wollten sich aber auch nicht festlegen.
«Das glaube ich einfach nicht», sagte Holly schließlich. «Er steht auf schutzlose kleine Mädchen. Frauen, die Hilfe brauchen und sich ihm nicht widersetzen. Frauen, die er kontrollieren kann. Es würde seinem Wesen komplett widersprechen, wenn er was mit einer starken, unabhängigen älteren Frau gehabt hätte. Wir haben nur die Aussage von dieser alten Nachbarin, dass Jenny eine neue Beziehung angefangen hat. Dafür, dass Morgan das war, gibt es keinen Beweis.»
«Auch starke Frauen können Hilfe gebrauchen.» Vera sprach, ohne nachzudenken, dann sah sie, dass alle sie anschauten und Schlüsse zogen, von denen ihr lieber wäre, sie würden sie nicht ziehen. «Und Jennys Freundin, die Lehrerin, glaubt, dass sie so was wie eine Affäre hatte. Irgendeinen Kerl, den sie geheim halten musste. Und sie hätte es ja wohl kaum zugegeben, wenn sie es mit Morgan getrieben hätte, oder? Den sie betreut hat und der in einen bekannten Skandal verwickelt war. Holly, was haben Sie aus Lawrence May rausgekriegt, dem Kerl, mit dem Jenny zusammen war?»
«Der kann sie nicht umgebracht haben», sagte Holly. «Er war auf einer Konferenz in Derbyshire. Ich hab’s überprüft.»
«Hat er gesagt, warum sie ihm den Laufpass gegeben hat?»
«Nein, aber ich glaube, weil er sie zu Tode gelangweilt hat. Ich meine, er scheint ja echt ein netter Kerl zu sein. Aber schrecklich ernsthaft. Ihr kennt die Typen. Als müsste er den Planeten im Alleingang retten. Er hat mich zur Schnecke gemacht, nur weil ich eine Plastikflasche in den Mülleimer bei ihm im Büro geschmissen habe, anstatt sie zum Recyceln zu bringen.»
«Sie hat ihm also nicht gesagt, dass sie sich in jemand anders verliebt hat?»
«Er hat gesagt, er hätte den Eindruck gehabt, dass da was Neues in ihrem Leben war», sagte Holly. «Ich habe ihn echt in die Mangel genommen, aber was Genaueres konnte er nicht sagen. Er hat nicht gewusst, ob es eine neue Liebe war oder ein neues Projekt.»
«Wenn Lister was mit Morgan hatte, haben wir keinen Beweis dafür, so oder so», sagte Ashworth. «Wir sollten es also als Möglichkeit im Hinterkopf behalten, uns aber nicht darauf festlegen. Schließlich ist es ja auch egal, ob Morgan Lister umgebracht hat, weil sie sich in sein neues Leben mit Freya eingemischt hat oder weil er mit ihr ins Bett gegangen ist. Dem Gericht ist das Motiv einerlei. Wir müssen beweisen, dass er an dem Morgen im Willows war. Wir brauchen den Beweis, dass er ein Stück Schnur um Jenny Listers Hals gelegt und sie erdrosselt hat. Das Warum muss uns dabei nicht groß beschäftigen.»
Aber ich will wissen, warum, dachte Vera, während sie wartete, bis die anderen Aufgaben zugeteilt waren. Mir ist das Motiv nicht einerlei. Ich bin eine neugierige alte Hexe, deshalb mache ich diesen Job doch überhaupt.
Als sie beim Willows vorfuhr und all die Frauen sah, die mit ihren Sporttaschen und den teuren Turnschuhen dort hineingingen, konnte Vera kaum glauben, dass sie auch einmal dazugehört hatte, dass sie sich hier zwischen zwei Besprechungen oder auf dem Weg zur Arbeit schnell ihre Dosis Fitness abgeholt hatte. Sie fragte sich, ob die Besucherzahlen immer noch zurückgingen, ob es Frauen gab, die ihren Mitgliedsbeitrag zurückverlangt hatten. Für einen Wochentag um diese Tageszeit kam es ihr ein bisschen zu ruhig vor. Sie durchquerte das Foyer und ging die Treppe hinunter in den Fitness-Club. Mit ihrer Mitgliedskarte kam sie durch das Drehkreuz. So gut wie unsichtbar, dachte sie, auch ohne Tasche und Handtuch. Eine weitere Frau in den Fünfzigern, die sich der Täuschung hingab, dass es sie gesünder und schöner machte, wenn sie ein paar Bahnen schwamm. Sie bezweifelte, dass auch nur einer von den Angestellten, wenn man ihnen ihre Beschreibung gab oder selbst ein Foto zeigte, sich daran erinnern würde, dass sie da gewesen war.
Ryan Taylor betätigte sich gerade als Krisenmanager in der Küche, wo eine Kaffeemaschine in die Luft geflogen war. Braune Brühe tröpfelte aus der Maschine und bildete eine Lache auf dem gefliesten Boden. Köche und Kellnerinnen verteilten das Malheur mit ihren Schuhen im ganzen Raum. Es war heiß. Auf dem Gasherd standen dampfende Töpfe, und jemand brüllte eine junge, weiß gekleidete Frau an: «Willst du das Stück Fleisch da etwa einäschern? Was glaubst du eigentlich, wo wir hier sind? In irgendeiner billigen Fast-Food-Bude?»
Taylor stand neben der Kaffeelache und schrie in sein Handy. «Gleich fängt bei uns die Stoßzeit an. Ich brauche jetzt sofort einen Wartungsingenieur! Und schickt mir ’ne verdammte Putzkraft, um die Sauerei hier wegzumachen.»
«Und ich dachte, ich kriege wenigstens eine anständige Tasse Kaffee.»
Er hatte wohl die Antwort erhalten, die er wollte, denn er schaltete sein Handy aus, drehte sich zu ihr um und lächelte. «Kommen Sie mit in mein Büro, Inspector, dann mache ich Ihnen einen.»
«Die Putzkraft, auf die Sie warten, das ist wohl nicht zufällig Danny, der Student?»
Ryan sah sie durchdringend an, er überlegte, ob die Frage irgendwas Besonderes zu bedeuten hatte. «Nein, er hat Spätdienst. Außerdem ist heute sein freier Tag. Warum?»
«Nur so, Herzchen. Ich bin nur neugierig.»
Sie folgte ihm in sein Büro und sah zu, wie er Wasser in die Kaffeemaschine füllte, bevor sie weitersprach.
«Wenn man hier so sitzt», sagte sie und beobachtete, wie das Wasser aus dem Filter tröpfelte, «kann man kaum glauben, dass es draußen überhaupt noch anderes Leben gibt. Für Sie muss das ja noch viel schlimmer sein. Wohnen Sie hier im Hotel?»
«Nein. Ich habe eine Wohnung in der Stadt, zusammen mit meinem Lebensgefährten Paul. Es gibt aber ein Zimmer hier, das ich benutzen kann, wenn ich über Nacht bleiben muss.»
«Ist schon ein komischer Ort, so ein großes Hotel.» Sie spürte, dass er sich fragte, worauf sie mit dem Gedanken hinauswollte. Sie war sich selbst nicht ganz sicher. «Vor allem für die Angestellten, die hier wohnen. Alle hocken ständig aufeinander. Wie in einem Kloster. Führt das nicht zu Spannungen?»
«Das kommt schon vor. Und sehr klösterlich geht es dabei nicht zu.»
«Liebesgeschichten also. Affären …»
«So was gibt’s.»
«Michael Morgan und Freya Adams.» Sie nahm die Tasse, die er ihr entgegenhielt, und schnupperte dankbar daran. «Was ist da vor sich gegangen?»
Ryan zuckte die Achseln. «Die sind beide volljährig. Ich weiß aber, dass sich ein paar von den Angestellten Sorgen gemacht haben. Karen, die Empfangsdame vom Fitness-Club, hatte mal ein mütterliches Gespräch mit Freya. ‹Weißt du denn auch, worauf du dich da einlässt?› So was in der Art. Aber ich konnte ja schließlich nichts dagegen unternehmen.»
«Hat Morgan früher schon mal jungen Frauen nachgestellt?»
Ryan nahm sich Zeit, um darüber nachzudenken. «Mir ist nichts zu Ohren gekommen, aber ich werde mich mal umhören.»
«Tun Sie das. Und ich muss wissen, ob er am Mordtag morgens hier gewesen ist. Das war zwar nicht der Tag, an dem er für gewöhnlich praktiziert, aber soweit ich es verstanden habe, kommt er manchmal her, um in den Fitnessraum zu gehen. Auf der Liste, die wir von Ihren IT-Leuten bekommen haben, mit den Mitgliedern, die durchs Drehkreuz gegangen sind, steht er nicht, aber er würde schon einen Weg finden, das zu umgehen. Er ist nicht dumm.»
«Halten Sie ihn für einen Mörder?»
Vera merkte genau, dass er zuallererst ans Hotel dachte, an die Medien und was es wohl für Folgen hätte, wenn ein Mann, der fast zu den Angestellten gehörte, verhaftet würde. Ryan betrachtete Michael Morgan nicht als Freund. Um ihn persönlich machte er sich keine Gedanken. «Aber nein, nicht doch. Ich habe nur laut nachgedacht, mir eine Geschichte zusammengereimt. Darum geht es im Grunde in meinem Job. Das meiste sind am Ende nur Geschichten.»
«Letztes Jahr hätten wir ihn fast gebeten zu gehen, als es diesen ganzen Rummel um den kleinen Jungen gab.» Ryan starrte aus dem Fenster. «Aber am Ende hat er Louise noch mal umgestimmt.»
«Er kann gut mit Frauen, nicht wahr?» Vera lachte kurz auf, um zu zeigen, dass die Frage keine große Bedeutung besaß.
«Muss er wohl. Wenn’s ums Geschäft geht, ist Louise zäh wie Leder.»
«Ist er je mit Mattie Jones hier gewesen, der Mutter von dem kleinen Jungen?», fragte Vera.
Ryan schüttelte den Kopf. «Nicht dass ich wüsste. Und seitdem er und Freya zusammengezogen sind, ist auch Freya nicht mehr hier gewesen. Die Mädchen, mit denen sie gearbeitet hat, haben sie einmal zum Mittagessen hierher eingeladen, aber sie ist nicht gekommen.»
«Haben Sie einen Schlüssel von dem Zimmer, in dem er seine Sprechstunden abhält?»
«Natürlich. Aber von seinen Utensilien hat Michael da nichts stehen. Die bringt er immer mit.»
«Macht er seine Termine selbst, oder machen das die Mädchen an der Rezeption für ihn?»
«Er kümmert sich selbst um alles», sagte Ryan. «Wenn jemand ihn zu Rate ziehen will, geben wir seine Handynummer weiter.»
«Also kein Terminkalender.» Vera hätte wissen müssen, dass es so einfach nicht sein würde. «Keine Chance, an die Namen seiner Kunden zu kommen.»
«Tut mir leid.»
Sie deutete auf die geschlossene Tür, die Pforte von Ryans Privatreich zur Außenwelt des Hotels. «Wissen Sie was, Herzchen, wenn Sie da draußen sind und meine Arbeit für mich machen und Ihre Leute über Michael Morgan ausfragen, kriegen Sie doch raus, ob irgendwer ihn mal mit Jenny Lister zusammen gesehen hat.»
Ryan nickte. Noch ein junger Mann, der sie unbedingt bei Laune halten wollte.
«Und was mich angeht, ich laufe hier einfach mal ein bisschen rum und rede mit den Leuten. Ist das in Ordnung?»
«Sicher.» Aber Vera spürte genau, dass er heilfroh sein würde, wenn sie endlich vom Hotelgelände verschwunden war.