Kapitel Sechs
Es gab Tage, da meinte Joe Ashworth, dass er im Grunde ein Heiliger war – schließlich arbeitete er mit Vera Stanhope zusammen. Seine Frau jedenfalls hielt ihn definitiv für verrückt, dass er den Dienst spätabends und frühmorgens einfach so hinnahm und sich jederzeit in schroffem Ton zu Vera in die Berge bestellen ließ: «Nur weil sie selbst keine Familie und kein Leben neben dem Job hat, heißt das noch lange nicht, dass du immer alles fallen lassen und zu ihr hinrennen musst.» Ashworth hatte versucht, dem mit einem Scherz die Spitze zu nehmen: «Wenigstens brauchst du nicht zu befürchten, dass wir eine Affäre anfangen!» Schließlich war Vera zwanzig Jahre älter als er und übergewichtig, und ihre Haut war rissig von den ganzen Ekzemen. Da runzelte seine Frau die Stirn und sah ihn über den Rand ihres Bechers mit heißer Schokolade hinweg an, die sie jeden Abend trank, um besser einschlafen zu können. Sie selbst lief nicht Gefahr, zuzunehmen. Gerade erst hatte sie das Baby abgestillt, und die Kinder hielten sie auf Trab. «Kann schon sein, dass du nichts von Inspector Stanhope willst, aber sie könnte es durchaus auf dich abgesehen haben!» Daraufhin lachte Ashworth, aber der Gedanke bereitete ihm Unbehagen. Manchmal hatte seine Chefin so eine Art, ihn anzustarren, die Lider halb geschlossen, und dann fragte er sich, was sie wohl gerade dachte. Ob sie jemals mit einem Mann geschlafen hatte? Das konnte er sie ja wohl kaum fragen, obwohl sie ihn zuweilen nach sehr persönlichen Dingen ausforschte, bis es fast schon unhöflich war.
Und jetzt hatte sie ihm die Verantwortung für den Fitness-Club und das Hotel übertragen, während sie sich Richtung Tyne Valley davonmachte, um im Privatleben des Opfers herumzuschnüffeln. Das war überhaupt nicht ihr Job, sie hätte es einem jüngeren Mitglied des Teams überlassen können. Seine Frau legte ihm hin und wieder nahe, sich für einen anderen Posten zu bewerben – wenn schon nicht für eine Beförderung, dann doch wenigstens für eine Versetzung, auch damit er neue Erfahrungen sammelte. An Tagen wie diesen hielt Ashworth das für einen ziemlich vernünftigen Vorschlag.
In der Lounge des Hotels, die sich schließlich geleert hatte, sprach er mit Lisa, dem jungen Mädchen, das Vera sich als Hilfskraft auserkoren hatte. Mittlerweile waren alle Mitglieder des Fitness-Clubs vernommen und nach Hause geschickt worden, und auf einem großen Schild an der Hoteltür stand, dass der Club «aufgrund unvorhergesehener Ereignisse» für vierundzwanzig Stunden geschlossen sei. Er hatte den Eindruck, dass Vera mit Lisa sehr gedankenlos umgegangen war. Das Mädchen dazu zu bringen, sich die Leiche anzusehen, bloß um sich selbst bei der Identifizierung ein paar Minuten zu sparen – das war unprofessionell und nicht gerade nett.
Für die Lounge war offenbar eine junge Frau mit polnischem Akzent zuständig. Sie trug ein schwarzes Kleid und flache Schuhe. «Darf ich Ihnen eine Erfrischung bringen?»
Er fragte Lisa, ob sie einen Kaffee wolle, und als ihr ein Latte macchiato gebracht wurde, zusammen mit ein paar hausgemachten kleinen Keksen, setzte Lisa sich mit vorgebeugtem Oberkörper hin, nahm einen Schluck und legte die Hände um das Glas. Auf ihrer Oberlippe war ein Fleck Milchschaum. Sie musste bemerkt haben, dass er dort hinsah, denn sie wurde rot und wischte den Fleck mit der Serviette weg.
Die Lounge war eingerichtet wie ein Wohnzimmer in einem der Häuser des National Trust, in die Joes Frau ihn immer geschleppt hatte, ehe die Kinder kamen. Ein blank gebohnerter dunkler Holzfußboden, in dessen Mitte ein rechteckiger Teppich lag. Es war ein roter Webteppich, der sich unter den Füßen beinahe ebenso hart anfühlte wie der Fußboden selbst und so ausgetreten war, dass man an einigen Stellen das Muster schon nicht mehr erkannte. An den Wänden Gemälde in großen vergoldeten Rahmen, hauptsächlich Porträts: Männer mit Perücken und Frauen in langen Kleidern. Längs der Wand große, lederbezogene Chesterfield-Sofas und um die Tische mit den zierlichen Beinen Stühle, die mit Chintz bezogen waren. An einem Ende der Lounge gab es einen riesigen Kamin, doch heute brannte kein Feuer, und auch die großen Heizkörper waren abgedreht, sodass man schon beim Eintreten die Kühle verspürte. Über allem hing ein Geruch nach Staub.
Verstreut auf den Tischen standen die Überreste des Imbisses für die Rentner. Kaffeekannen und Schalen mit Würfelzucker und weißes Porzellangeschirr. Brotstückchen und Krümel waren auf dem Fußboden gelandet. Am anderen Ende der Lounge machte sich eine Frau Mitte vierzig daran, die Trümmer wegzuräumen.
«Danke, dass Sie gewartet haben», sagte er. Lisas Schicht war mittlerweile bestimmt zu Ende. Sie saßen in einer Ecke, und wenn er etwas sagte, schien das im ganzen Raum widerzuhallen.
Langsam hob sie den Blick und sah ihn an. «Schon in Ordnung.»
«Die Tote heißt Jenny Lister», fing er an. «Sagt Ihnen der Name irgendwas?»
Sie schüttelte den Kopf. «In meinen Kursen ist sie nicht gewesen. Aber ich mache ja auch meistens die Dehnungsgymnastik für die über Fünfzigjährigen, und dafür war sie ja wohl noch zu jung.»
«Aye», sagte er. «Tut mir leid, dass die Chefin Sie dazu gebracht hat, die Leiche anzuschauen.»
«Überhaupt», fuhr Lisa fort, «so alt hat sie noch gar nicht ausgesehen. Vielleicht ist sie ja in den Kurs von Natalie gegangen, einen Mutter-Kind-Kurs. Heute gibt es ja immer mehr junge Mütter in den Vierzigern. Sie sollten Natalie einmal fragen.»
«Hatten Sie den ganzen Morgen Dienst am Schwimmbecken?»
«Nein», sagte sie. «Die ausgebildeten Bademeister kommen erst ab halb zehn, wenn die verbilligten Zeiten anfangen. Davor schwimmen nur die Sportbesessenen, und die unterschreiben einen Haftungsausschluss. Normalerweise ist immer jemand in der Nähe, aber zurzeit haben wir zu wenig Personal. Ich habe ein paar Mal vorbeigeschaut, aber nichts Ungewöhnliches gehört oder gesehen.»
Sie schwieg kurz und sah mit leerem Blick zu ihm hoch. Ashworth merkte, dass er nicht mehr weiterwusste. Was würde Vera Stanhope jetzt tun? Sie hatte die Vermutung geäußert, dass die Kleine wegen irgendetwas besorgt war, und in der Regel lag sie mit ihrem Gespür für Menschen richtig. «Wie ist es so, hier zu arbeiten?»
Er sah, dass die Frage Lisa überraschte. Was konnte das mit dem Mord zu tun haben?
Argwöhnisch blickte sie ihn an. «Ist schon okay. Normalerweise.»
«Das hier bleibt unter uns», sagte Ashworth. «Ich gebe nichts von dem, was Sie sagen, an Ihren Chef weiter.»
«Der ist in Ordnung.»
Vielleicht hat sie ja gar keine Angst, dachte Ashworth. Vielleicht ist sie einfach nur ein maulfauler, mürrischer Teenager. Er hatte selbst jüngere Schwestern und wusste noch genau, wie die seine Eltern mit ihrem Schweigen und den Launen in den Wahnsinn getrieben hatten.
«Gibt es sonst noch was, das ich Ihrer Meinung nach wissen sollte, irgendwas Ungewöhnliches, worüber man nicht gern redet, das aber für unsere Ermittlungen von Bedeutung sein könnte?» Er sprach eindringlich, unterdrückte jedoch den Impuls, die Stimme zu heben.
Lisa stellte ihren Latte macchiato ab. Sie sah aus, als fühle sie sich unwohl, und zwirbelte eine Haarsträhne um die Finger. «Da sind Sachen verschwunden», sagte sie. «In den letzten paar Wochen erst.»
«Was für Sachen?»
«Geldbörsen, Kreditkarten, Armbanduhren.»
«Aus den Umkleideräumen?» Wieso hat Taylor das nicht erwähnt? Das könnte uns ein Motiv liefern, wenn Jenny Lister den Missetäter auf frischer Tat ertappt hat.
«Ein- oder zweimal auch», sagte Lisa. «Öfter aber aus dem Pausenraum für die Angestellten. Deswegen wollte Ryan auch keinen Bericht darüber schreiben, und er ist damit durchgekommen. Er wollte es eben nicht an die große Glocke hängen. Wollte nicht, dass die Leute ihre Mitgliedschaft kündigen, weil sie glauben, dass hier jemand klaut. Nicht solange Louise, die Hauptgeschäftsführerin, nicht da ist.»
Und deswegen hat er auch mir nichts gesagt.
Lisa blickte wieder zu ihm hoch. «Die glauben, dass ich es war», sagte sie. «Ryan nicht, der ist in Ordnung. Anständig. Er weiß, dass ich an so was nicht mal denken würde. Aber die anderen von der Belegschaft. Ich habe gehört, wie sie tratschen. Das liegt daran, dass mein Dad mal gesessen hat und ich im Westend wohne. Man muss bloß sagen, wo man wohnt, und schon verdächtigen sie einen. Aber ich war das nicht. Ich mag den Job hier. Da werde ich keinen Mist bauen.»
Ashworth nickte. Die Sozialwohnungen im Westend von Newcastle waren in seiner Jugendzeit berüchtigt gewesen und standen auch heute noch im Ruf, Nährboden für Kriminalität und Bandenwesen zu sein, trotz des privaten Wohnungsbaus, der um die Gegend herum entstanden war. Vera hatte also mal wieder recht gehabt, dachte er. «Haben Sie irgendeine Vermutung, wer es gewesen sein könnte?»
Sie zögerte. Man hatte ihr sicher beigebracht, niemanden zu verpfeifen.
«Ich werde hier schon nicht mit Handschellen auftauchen», sagte er. «Aber Sie arbeiten hier. Ich frage Sie nur nach Ihrer Meinung.»
Er sah, wie sie sich das durch den Kopf gehen ließ und dann schüchtern lächelte. Wahrscheinlich wurde sie nicht oft nach ihrer Meinung gefragt. Sie dachte nach.
«Es ging los, als Danny angefangen hat, hier zu arbeiten.»
«Danny?»
«Danny Shaw. Der bei der Putzkolonne aushilft. Ich habe gehört, wie Ryan der fetten Kommissarin von ihm erzählt hat. Er geht zur Uni. Seine Mum arbeitet an der Rezeption.»
«Wie ist er denn so?»
Sie hielt inne, um nach dem richtigen Ausdruck zu suchen, und verschränkte die Arme vor der Brust. «Ein bisschen durchtrieben. Er erzählt einem, was man hören will. Und das Putzen hat er auch nicht gerade erfunden. Aber Männer putzen wahrscheinlich generell nicht so besonders gut, oder?»
Diese Weisheit hatte sie bestimmt von ihrer Mutter, dachte Ashworth, sie klang jetzt wirklich wie eine ältere Frau. Lisa warf ihm einen Blick zu. «Aber er sieht echt scharf aus. Die Mädchen hier sind alle total in ihn verknallt.»
«Ist eine von ihnen mit ihm zusammen?»
Sie schüttelte den Kopf. «Er hält sie alle hin, flirtet rum und schmeichelt sich ein, aber man sieht gleich, dass es nur ein Spiel für ihn ist. Er hält sich für was Besseres.»
«Und was ist mit Ihnen?», fragte Ashworth, so wohlwollend, als ginge er selbst auf die sechzig zu und wäre ihr Onkel. «Haben Sie einen netten Freund?» Er hoffte, dass sie einen hatte. Er hoffte, dass sie glücklich war.
Wieder sah sie ihn ganz ernst an. «Noch nicht. Ich habe ja gesehen, wie’s bei meiner Mutter war. Verheiratet mit siebzehn, und mit einundzwanzig schon drei Kinder. Ich lasse mir Zeit. Ich muss an meine Karriere denken.» Sie blieb kerzengerade sitzen, die Hände auf die Knie gelegt, bis er ihr zulächelte und sagte, sie könne dann gehen.
Karen Shaw, die Frau am Empfang, wollte gerade aufbrechen. Sie saß an ihrem Tisch und starrte auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand, und kaum sprang der Minutenzeiger auf die volle Stunde, da war sie auch schon vom Stuhl gerutscht, hatte ihre Zeitschrift zusammengerafft und sich die Strickjacke um die Schultern gelegt. Ashworth fragte sich, wieso Taylor sie den ganzen Nachmittag dort hatte sitzen lassen. Vielleicht hatte er sie ja ganz einfach vergessen. Oder Vera hatte von ihr verlangt, dass sie bis zum Ende ihrer Schicht dablieb.
«Haben Sie einen Moment Zeit?»
Sie funkelte ihn an. «Nach so einem Tag will ich nur noch nach Hause, ein heißes Bad nehmen und ein großes Glas Wein trinken.»
«Aber Sie hatten ja wohl kaum zu viel zu tun. Heute Nachmittag ist doch niemand mehr gekommen.»
«Nein», sagte sie. «Und vor lauter Langeweile hätte ich fast noch mein letztes bisschen Verstand verloren.» Sie hängte sich die Tasche über die Schulter. «Schauen Sie, selbst an richtig guten Tagen ist das hier nicht gerade der anspruchsvollste Job. Heute allerdings war es nicht zum Aushalten.» Er spürte die Energie, die sie versprühte.
Er schenkte ihr sein schönstes Lächeln, das, von dem seine Mutter sagte, damit könne er einen Eisberg zum Schmelzen bringen. «Ich sage Ihnen was, Sie widmen mir eine halbe Stunde Ihrer Zeit, und ich lade Sie auf Ihr Glas Wein ein.»
Sie zögerte, dann grinste sie. «Dann aber besser nur ein kleines. Ich muss noch fahren.»
Sie führte ihn nach oben in die Hotelbar. Das ganze Gebäude wirkte leer, fast schon unheimlich. Ashworth fühlte sich an den Horrorfilm erinnert, den Sarah ihn neulich Abend gezwungen hatte, im Fernsehen anzuschauen. Sie hatte einen Hang zum Makabren. Er stellte sich vor, wie ein Mann mit einer Axt auf den leeren Fluren auftauchte. Nur, dass Jenny Lister nicht mit einer Axt umgebracht worden war.
Die Bar war kleiner als die Lounge und anders eingerichtet. Vor seinem inneren Auge sah Ashworth Männer in weißen Anzügen und Frauen in Zwanziger-Jahre-Kleidern mit Stirnbändern und langen Zigarettenspitzen. An den Wänden hingen Regale mit Cocktailgläsern, und auf dem geschwungenen Holztresen stand ein silberner Cocktailshaker. Dahinter saß ein pickliger Jüngling auf einem hohen Barhocker und las den Sportteil des Chronicle, was die ganze Atmosphäre auf einen Schlag zunichte machte. Offenbar waren alle Angestellten angewiesen worden, einfach weiter zu arbeiten, als hätte es im Schwimmbad keinen Mord gegeben. Der Junge nahm ihnen die Störung unübersehbar übel. «Tut mir leid, aber das Hotel ist geschlossen.»
Karen ließ ein Lächeln aufblitzen. «Ich arbeite hier, und der da ist von der Polente.»
Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster, das in Richtung des Flusses auf den Garten hinausging, sie mit einem Glas Chardonnay und er mit einem Orangensaft. Er sah, dass der Rasen gemäht war, die Rabatten aber wirkten ungepflegt und zugewuchert. Wieder durchzuckte ihn ein überspannter Gedanke, wie er gar nicht zu ihm passte: Es kam ihm in den Sinn, dass sie womöglich aussahen wie ein Liebespaar – der verheiratete jüngere Mann und die muntere Geschiedene, beide auf Spaß und Leidenschaft und Gesellschaft aus. Trafen sich solche Menschen nicht in Hotels wie diesem? Zum allerersten Mal konnte er den Reiz einer solchen Affäre beinahe verstehen, den Kitzel.
«Ich kann nicht lang bleiben. Mein Mann wartet darauf, dass das Abendessen auf den Tisch kommt.» Womit seine Phantasie in Stücke zersprang. Warum hatte er angenommen, sie wäre geschieden?
«Wie lange arbeiten Sie schon im Willows?»
Sie verzog das Gesicht. «Zwei Jahre.»
«Gefällt der Job Ihnen denn nicht?»
«Wie ich schon sagte, er ist sterbenslangweilig. Aber was anderes kann ich nicht. Früher bin ich davon ausgegangen, dass immer jemand da sein würde, der für mich sorgt. Und ich würde es wahrscheinlich nirgendwo aushalten, wo ich einem Chef in den Arsch kriechen muss.»
Sie hielt inne, aber er unterbrach sie nicht. Er merkte, dass sie das Publikum genoss. Sie würde schon weiterreden.
«Mein Mann ist im Immobiliengeschäft. Vor dem Boom hat er ein paar billige Wohnungen am Tyne gekauft, einigermaßen hergerichtet und an Studenten vermietet. Aber die Renovierungen sind größtenteils auf Kreditbasis gemacht worden. Er hat immer gedacht, er könnte die Wohnungen weiterverkaufen, wenn es eng für uns wird.»
Wieder schwieg sie, und diesmal warf er eine Bemerkung ein. Nur um zu zeigen, dass er zuhörte. «Aber als es dann eng für Sie wurde, wollte niemand kaufen …»
«Genau. Plötzlich ging uns das Geld aus. Es war ganz schön hart, sich umzustellen. Keine Urlaube im Ausland mehr, keine schicken neuen Autos. Wir mussten sogar die Putzfrau rausschmeißen.» Sie schnitt eine Grimasse, um ihm zu zeigen, dass sie über sich selbst lachte, über diesen bizarren Lebensstil. Offensichtlich kam sie nicht aus reichem Hause.
Dann wurde sie wieder ernst. «Ich meine, wir haben’s überlebt, aber leicht war das nicht. Dann hat Danny angefangen zu studieren, und wir mussten die Gebühren bezahlen. Er ist unser einziges Kind, und wir wollten nicht, dass es ihm an irgendwas fehlt. Jerry hat sich schon den Arsch abgearbeitet, also war ich dran, den Hintern hochzukriegen und einen Job zu suchen. Ich war Mitglied im Willows-Fitness-Club, und als ich die Stellenanzeige gesehen habe, dachte ich mir: Das ist genau das Richtige für mich. Und es ist ja auch in Ordnung. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass es so langweilig werden würde.»
Sie schaute aus dem Fenster. Ashworth sah, wie draußen endlich auch Keating, der Gerichtsmediziner, eintraf. Er war bei einem anderen Fall aufgehalten worden, und im Dampfbad wartete immer noch Jenny Lister auf ihn.
«Kannten Sie die Tote?»
«Das Gesicht habe ich wiedererkannt. Wie sie heißt, hätte ich nicht gewusst.»
«Was wissen Sie über sie?»
«Sie hat es immer eilig gehabt und ist nie lang geblieben. Und sie war höflich. Hat mir immer zugelächelt und zugewinkt, auch wenn sie nur ihre Karte durch die Schranke gezogen hat. Sie hat mich behandelt wie einen Menschen, nicht bloß wie ein Rädchen in der Maschinerie.»
Langsam musste Ashworth zum haarigen Teil übergehen. Jede Frau würde doch ihren Sohn beschützen, oder nicht? Was immer er auch getan haben mochte. «Sie haben Danny hier einen Ferienjob besorgt?»
«Stimmt.» Und schon war sie in Verteidigungsstellung, sah zu ihm hoch, als wollte sie sagen: Na und? Das ist doch wohl kein Verbrechen!
«Macht es ihm Spaß?»
«Er ist ein junger Bursche. Klar würde er lieber im Bett bleiben oder mit seinen Kumpels losziehen. Aber es ist seine Idee gewesen. Er will im Sommer rumreisen und weiß, dass wir das nicht bezahlen können. Also muss er sich selbst drum kümmern.»
«Wir müssen mit ihm reden», sagte Ashworth. «Er hat den Poolbereich sauber gemacht. Vielleicht hat er was gesehen.»
«Dazu brauchen Sie doch nicht meine Erlaubnis. Er ist beinahe zwanzig. Erwachsen. Wenn sie ihn heute überhaupt reinlassen, muss er seine Schicht eben angetreten haben.»
Ashworth wusste, dass sie Danny eingelassen hatten und dass dieser gerade in Taylors Büro saß. Er war der nächste auf der Liste der Angestellten, die Joe befragen wollte.
«Was wissen Sie über die Diebstähle, die hier verübt worden sind?»
Sie trank ihr Glas aus und stellte es auf den Tisch, ihre Stimme blieb ruhig. «So was passiert doch überall, oder nicht? Das ist belanglos. Hier arbeiten solche und solche. Ich sehe nicht, was das mit dem Mord zu tun haben könnte.»
«Aber es hat doch bestimmt für böses Blut gesorgt. Für Gerüchte. Es ist nicht schön, wenn man denken muss, dass ein Kollege einen womöglich bestiehlt.»
Sie zuckte die Achseln. «Ich versuche, nicht so viel auf den Klatsch zu geben.» Wieder raffte sie die große, weiche Tasche zusammen. «Wenn das alles ist? Zu Hause warten ein heißes Bad und ein kühles Glas Wein auf mich. Eins reicht mir nie so ganz.»
Er blieb, wo er war, und blickte aus dem Fenster, bis sie durch den Haupteingang aus dem Hotel nach draußen trat. Sie zog ein Handy aus der Tasche, drückte eine Taste und hielt es sich ans Ohr. Am Auto drehte sie sich um, und er konnte sehen, dass sie die Stirn runzelte und aufgebracht war. Er hätte seine Pension bei der Polizei darauf verwettet, dass sie mit ihrem Sohn sprach.