Kapitel Sechsunddreißig
Vera verbrachte den ganzen Tag in der Hotellounge des Willows. Die meisten Gäste waren abgereist, obwohl Ryan Taylor ihnen versichert hatte, dass die Sandsäcke dem Wasser standhalten würden. In der Lounge war es still und düster; trotz der hohen Fenster drang nur wenig Licht von draußen herein. Nachdem Walking back to Happiness zum dritten Mal auf der Endlosschleife gelaufen war, hatte sie Taylor angeschnauzt, er solle die Hintergrundmusik ausmachen; das Lied gab ihr das Gefühl, verspottet zu werden, weil sie unfähig war, den Fall zu lösen.
Zumindest für diesen Tag hatte sie sich entschlossen, nichts zu unternehmen. Warten zu müssen war für sie das Allerschlimmste, und ihr war klar, dass sie ein Risiko einging. Wenn Joe Ashworth ihren Verdacht gekannt hätte, wäre er entsetzt gewesen. Er hätte ihr nahegelegt, jemanden zu verhaften, dramatische Verfolgungsjagden durch das Tal zu veranstalten. Aber natürlich konnte sie sich auch irren. Der Gedanke war ihr gekommen, als sie hier gesessen und der Schilderung des jungen Kellners gelauscht hatte, wie Jenny Lister am Morgen ihres Todestages hier auf jemanden gewartet hatte, der nicht aufgetaucht war. Es war nicht viel, um eine Anklage darauf aufzubauen. Und selbst wenn ich recht habe, dachte Vera, ist es noch lange nicht ausgemacht, dass es zu einer Verurteilung kommt. Ein Geständnis wäre für alle am besten.
Nachdem sie sich einmal zum Nichtstun entschlossen hatte, fand sie es besser, hier im Hotel zu bleiben, wo sie keinen Schaden anrichten konnte. Wenn sie wieder loszog, auf ihren riesigen, mit Gummistiefeln bewehrten Füßen, brachte sie das fragile Gleichgewicht, das derzeit noch herrschte, womöglich nur durcheinander. Schließlich bestand die Gefahr, dass noch weitere Gewalttaten verübt würden.
Also blieb sie in dem großen geblümten Ohrensessel am Fenster sitzen und zitierte abwechselnd die Mitglieder ihres Teams zu sich. Die meiste Zeit aber telefonierte sie, manchmal in beschwörendem Ton, manchmal fluchend. Einmal pfefferte sie ihr Handy durch den Raum und musste es von der mit Seide bezogenen Chaiselongue bergen, auf der es gelandet war. Doreen, die ältere Kellnerin, brachte ihr literweise Tee, Käsesandwiches und Scones mit Butter. Etwa einmal in der Stunde rappelte Vera sich auf und stampfte in der Lounge umher, um wieder ein Gefühl in den Gliedern zu bekommen. Dann stellte sie sich ans Feuer, das endlich doch etwas Wärme zu spenden schien, oder watschelte auf die Toilette, kehrte zu ihrem Sessel zurück und fuhr fort, etwas aufs Papier zu kritzeln, um die Entwicklung des Falls festzuhalten.
Einmal hielt sie zehn Minuten lang inne und starrte aus dem Fenster auf einen Regenbogen, der sich übers Tal spannte. Doch die Sonne, die sich kurz gezeigt hatte, wurde bald wieder von einer Wolke verdeckt, und der Regenbogen verblasste und verschwand.
Holly besuchte sie als Erste. Sie kam am frühen Nachmittag, völlig ausgehungert. Vera fütterte sie mit Chips und Kuchen und hörte zu, was sie über Hannah und Danny zu berichten hatte. Holly war an der High School gewesen und hatte mit ein paar Lehrern gesprochen, und mit deren Hilfe war es ihr dann gelungen, einige von den jungen Leuten aufzuspüren, die mit Danny und Hannah befreundet gewesen waren. Sie hatte in einer Bar in Hexham mit ihnen geredet, wo einer von den Jungs jobbte, um Geld fürs Reisen zu verdienen. Der hatte noch ein paar andere aus der alten Clique zusammengetrommelt.
«Nicht dass Danny viele enge Freunde gehabt hätte», sagte Holly, den Mund voll Kuchen. «Anscheinend war er ein helles Köpfchen, aber aufgeblasen. Ziemlich arrogant. Die Lehrer würden das nie zugeben, aber man hat gleich gemerkt, dass sie ihn nicht ausstehen konnten. Die jungen Leute sind etwas nachsichtiger gewesen. Er war wohl so eine Art Anführer. Hat sich immer in den Vordergrund gespielt. Aber sie haben ihn eher bewundert als gemocht. Ich hatte den Eindruck, dass sie ihn für ziemlich cool gehalten haben, aber auch für ein wenig egozentrisch. Genau der Richtige, wenn man abends mal einen draufmachen wollte, aber keiner für eine dauerhafte Freundschaft.»
Schon wieder dieses Wort.
«Und was war mit seiner Beziehung zu Hannah?» Vera machte sich immer noch Notizen. Sie wollte das genau durchschauen.
«Seine erste Freundin ist sie nicht gewesen, da waren sich alle sicher. Aber sie war die Erste, die ihm wirklich was bedeutet hat. Und offenbar war es auch das erste Mal, dass ein Mädchen ihm den Laufpass gegeben hat. Das war ein schwerer Schlag für ihn. Das Letzte, was er erwartet hätte.»
«Hat er Simon Eliot die Schuld daran gegeben?» Das könnte wichtig sein, dachte Vera. Sie sah Holly an und hoffte, dass diese die Frage ernst nahm. «Es sieht ganz danach aus, als hätte Hannah ihn für Simon in die Wüste geschickt.»
«Danny war damals wohl ziemlich angekotzt, aber in letzter Zeit sind sie anscheinend gut miteinander ausgekommen. In den Semesterferien hat man sie zusammen rumhängen sehen. In dem Alter ist das alles keine so große Sache.»
Das hatte Hannah auch gesagt.
«Es glaubt also keiner, dass Danny einen heimlichen Groll gegen den jungen Eliot gehegt hat? Er war der Typ, der seinen Groll gut hätte verbergen können.»
«Nein», sagte Holly. «Ich hatte nicht den Eindruck, dass irgendwas in der Art zwischen ihnen gestanden hat.»
Vera seufzte leise, und das erinnerte Holly an ihre Großmutter, wenn diese Patiencen legte. Manchmal, wenn sie alle Karten ausgespielt hatte, machte sie genau so ein Geräusch, wie es Vera eben entschlüpft war.
«Hat irgendwer von den Kids schon mal von Michael Morgan gehört?», fragte Vera nach einer kurzen Pause. «Wissen wir, ob Danny ihn schon gekannt hat, bevor er hier im Hotel angefangen hat?»
«Der Name hat ihnen nichts gesagt.» Holly stellte ihren Teller neben sich auf den Boden. «Aber das muss nichts heißen. Sie haben gesagt, dass Danny gern ein Geheimnis um seine Pläne gemacht hat. Das hat zu seinem Image gehört. Manchmal ist er tagelang von der Bildfläche verschwunden, und keiner wusste, was er da getrieben hat.» Sie blickte Vera an. «Tut mir leid, das ist nicht viel, oder? Wenn Sie es für wichtig halten, kann ich gern weiter rumfragen.»
«Machen Sie heute doch einfach mal früh Schluss», schlug Vera vor. «Mit dem ganzen Wasser auf den Straßen ist es bestimmt der pure Horror, unterwegs zu sein, und Sie haben morgen einen langen Tag vor sich.» Was ihr immerhin die Genugtuung verschaffte, Holly sprachlos zu erleben. Wenigstens einmal.
Vera hatte den ganzen Vormittag nichts von Charlie gehört, und nachdem Holly gegangen war, zitierte sie ihn zu sich ins Willows. Sie sah zu, wie er aus dem Auto stieg und die Treppe hochkam, vorgebeugt wie immer, so als würde er die ganze Zeit nach Hundescheiße auf dem Weg Ausschau halten. Die Sonne und der Regenbogen waren mittlerweile verschwunden, und der Himmel verdunkelte sich, obwohl es noch früher Nachmittag war. Doreen tappte durch die Lounge und knipste kleine Tischlampen an. Charlie stand am Eingang und spähte ins Halbdunkel, und Vera rief ihn zu sich herüber. Sie hatte schon immer eine kleine Schwäche für ihn gehabt. Vielleicht weil sein Privatleben ein noch größeres Desaster war als ihres. In seiner Gegenwart fühlte sie sich gut.
«Tee?», fragte sie. «Oder könnten Sie was Stärkeres gebrauchen?»
«Was trinken Sie?» Die Kunst der Liebenswürdigkeit hatte Charlie noch nie beherrscht, und die Worte kamen mit einem Grunzen heraus.
«Oh, für mich ist es noch etwas zu früh», sagte sie in tugendhaftem Ton, «und im Tee ertrinke ich mittlerweile, aber Ihnen bestelle ich gern was.»
«Dann Tee.» Er blickte sie misstrauisch an.
«Haben Sie Connie schon gefunden?»
«Ich habe ihren Wagen gefunden. Wenigstens habe ich ihn ein paar Mal auf der Überwachungskamera gesehen. In Effingham, dieser kleinen Stadt östlich von Barnard Bridge, steht so eine Kamera. Auf dem Zebrastreifen da ist mal ein kleines Mädchen ums Leben gekommen, und der Gemeinderat hat eine installieren lassen.» Doreen hatte ihm seinen Tee und einen Teller mit Keksen hingestellt, und er tauchte einen davon in die Tasse, bevor er ihn sich auf einmal in den Mund steckte.
«Und wo war die andere Kamera?» Manchmal, dachte Vera, war Charlie nicht anders beizukommen als mit Geduld.
«Es gibt nur die eine, aber der Wagen taucht zweimal auf dem Band auf.» Der zweite Keks zerbröselte und fiel in den Tee, bevor er ihn essen konnte. Er fluchte leise und fischte ihn mit dem Löffel wieder heraus.
«Können Sie mir das bitte erklären, Charlie? Aber im Telegrammstil. Ich habe fast den ganzen Tag hier drin verbracht und fühle mich ganz matschig im Kopf.»
«Gestern Morgen, neun Uhr, fährt der Wagen Richtung Norden.»
«Nach Newcastle also.»
«Aye, aber wenn sie nach Newcastle wollte, wäre sie dann nicht einfach auf die A69 gefahren und hätte die Autobahn genommen?»
«Keine Ahnung, Charlie, vielleicht wollte sie ja die landschaftlich schönere Strecke fahren?» Aber war das wahrscheinlich?, fragte sich Vera. Wenn Connie Angst hatte und sich irgendwo verstecken wollte, hätte sie dann nicht den schnellsten Weg genommen?
Charlie ging nicht weiter darauf ein und fuhr fort. «Eine Stunde zwanzig Minuten später ist sie dann wieder zurückgefahren, Richtung Westen, an derselben Kamera vorbei.»
«Wo wollte sie also hin?» Jetzt sprach Vera mit sich selbst. «Sicher nicht nach Newcastle. Die Zeit hätte ja kaum für die Hin- und Rückfahrt gereicht, egal was sie dort vorgehabt hätte. Außer sie wollte bloß ihre Tochter an einem sicheren Ort absetzen. Aber das könnte nur bei Alices Vater sein, und der sagt, dass er nichts von ihr gehört hat, und wieso sollte er lügen? Also nach Hexham? Wenn sie vorhatte unterzutauchen, hätte sie dort im Supermarkt ein paar Vorräte kaufen können. Ich hatte da ja so eine Idee, aber ich muss mich komplett geirrt haben.»
«Wenn sie auf der Straße weitergefahren ist, ist sie in Carlisle gelandet», sagte Charlie. «Und von da aus geht es weiter nach Schottland oder sonstwo in Nordwest-England.»
«Ich brauche keine Erdkundestunde, Mann!»
Und ich brauche auch niemanden, der mich daran erinnert, dass das hier ein Heuhaufen ist, in dem wir die Nadel suchen.
Einen Augenblick lang saßen sie schweigend da. Doreen warf ein Holzscheit ins Feuer, das feucht gewesen sein musste, denn es zischte und qualmte.
«Holly hat gesagt, wir könnten heute früh nach Hause.» Charlie warf ihr einen hoffnungsvollen, fast schon flehentlichen Blick zu. Er erinnerte sie an einen dieser großen, faltigen Hunde mit schlaff offen stehendem Maul, die Sorte Hund, die sie schon immer verabscheut hatte und denen sie unterm Tisch am liebsten einen Tritt versetzen würde, wenn das Herrchen gerade nicht hinschaute. Die Sorte Hund, die sabberte.
«Sie leider nicht, mein Hübscher.» Sie strahlte ihn an. «Sie müssen noch den Wagen finden. Ich weiß doch, dass Sie keiner sind, der so was halb erledigt liegen lässt.»
Draußen war es jetzt ganz dunkel. Sie konnte den Regen nicht rauschen hören, obwohl er wieder eingesetzt haben musste, denn die Laternen, die die Zufahrt säumten, waren nur noch verschwommen zu erkennen, von der Nässe verwaschen. Wenn noch Gäste im Hotel waren, hatten die sich wohl auf ihre Zimmer verkrochen. Kein Auto fuhr mehr zum Willows hoch, sie sah nur Charlies Wagen, der sich langsam entfernte. Sie nahm sich vor, freundlicher zu ihm zu sein. Über ihn herzufallen machte ihr eigentlich gar keinen Spaß. Aber für bestimmte Aufgaben war er nun mal der Beste im Team, und das hatte sie ihm auch gesagt, bevor er achselzuckend wieder in seinen fleckigen Regenmantel geschlüpft und dann aus der Lounge verschwunden war.
Sie rief Doreen zu, ihr eine Portion Pommes und vielleicht auch einen Burger zu bringen, sofern sie das in der Küche hinkriegten. Als das Essen kam, saß sie mit geschlossenen Augen in Gedanken versunken da – alles andere als entspannt, die Einfälle schlugen Purzelbäume in ihrem Kopf, Bilder kamen aus dem Nichts, stießen aneinander, verbanden sich und ergaben fast einen Sinn. Sie aß zu schnell, weil sie den Faden ihrer Überlegungen nicht verlieren wollte. Bestimmt würde sie wieder die ganze Nacht Magendrücken haben.
Später rief sie im Gefängnis von Durham an. «Ja, ich weiß, wie spät es ist. Aber es ist dringend. Ich muss Mattie Jones eine Nachricht zukommen lassen, oder noch besser, direkt mit ihr sprechen.»
Doch der Direktor ließ sich nicht erweichen. Er war an seinem freien Abend ins Gefängnis gerufen worden. Jemand hatte Selbstmord begangen, und dann waren Unruhen in einem der Flügel ausgebrochen. Sie hatten die Insassen früh eingeschlossen, weil sie hofften, auf diese Weise würde es wieder ruhig. Er ließ durchblicken, dass er nicht gewillt war, die Sicherheit seiner Wärter und Gefangenen aufs Spiel zu setzen, bloß um die Laune einer Kommissarin zu befriedigen. Vera blieb hartnäckig, aber ohne Erfolg. Es gebe doch wohl nichts, sagte er herablassend und ungerührt, was nicht auch bis morgen früh Zeit habe.
Kaum hatte sie aufgelegt, da rief Ashworth an. Hannah Lister sei wieder zu Hause, sagte er. Er wisse nicht, wo sie den Nachmittag über gewesen sei, habe sie aber ankommen gesehen. Simon sei jetzt auch da. Ob Vera wolle, dass er mit Hannah spreche?
«Nein», sagte Vera. «Für heute Abend lassen wir es mal gut sein.»
Sie stand ein letztes Mal auf und blieb vor dem Feuer stehen. Die Versuchung, zu bleiben, wo sie war, sich in dem riesigen Ohrensessel zusammenzurollen und dort einzuschlafen, war groß. Aber sie ging hinaus in die milde, dunkle Nacht, um nach Hause zu fahren.
Als sie schon halb zu Hause war, kam ihr plötzlich ein Einfall – wie eine Glühbirne, die in den Comics, die sie als Kind gelesen hatte, über dem Kopf einer Figur aufleuchtete. In den Comics, die Hector ihr gekauft hatte, weil er sie selbst gern gelesen hatte. Bei der nächsten Gelegenheit wendete sie und fuhr Richtung Südosten, an die Küste.
Tynemouth war ganz im Nebel und Nieselregen verschwunden, und sie erreichte das Städtchen mehr durch Zufall. Die Laternen auf der breiten Hauptstraße warfen kaum Licht. Es roch nach Salz und Seetang. Das Nebelhorn tutete, wie beim ersten Mal, als sie gekommen waren, um Morgan zu befragen.
In seiner Wohnung brannte kein Licht. Sie sah auf ihre Uhr. Neun Uhr abends. Das Pärchen war sicher noch nicht im Bett, dafür war es zu früh. Trotzdem klingelte sie und hämmerte gegen die Tür. Niemand machte auf. Weiter oben auf der Straße tauchte eine Gestalt im Nebel auf. Genauso groß wie Morgan, mit langem Mantel und weicher Mütze, die dem Kopf die Konturen eines kahlgeschorenen Schädels verlieh. Aber als er näher kam, sah sie, dass es nicht Morgan war. Der Mann war jünger, ein Student.
Sie wollte noch nicht aufgeben und lief durch den Ort, schaute auf der Suche nach Morgan oder seiner Freundin in alle Bars und Restaurants. Wobei sie, wie ihr mit zunehmender Verzweiflung klar wurde, wahrscheinlich wie eine Verrückte wirkte. Sie wollte doch nur eine Bestätigung, wollte, dass Morgan in seinem Gedächtnis stöberte und seine Gespräche mit Mattie Jones und Danny Shaw noch einmal durchging. Nur ein paar Worte, um dem ganzen Drama einen Sinn zu verleihen. Aber sie fand keine Spur von den beiden, und schließlich, nachdem sie es ein letztes Mal bei der Wohnung versucht hatte, ging sie zurück zu ihrem Wagen. Als sie zu Hause ankam, war es Mitternacht.