Kapitel Fünfunddreißig

Der Wärter an der Pforte gab Joe sein Handy wieder, und während er durch den Regen vom Gefängnis zurück zu seinem Wagen lief, schaltete er es ein. Es klingelte sofort. Allerdings war es nicht die Box mit einer Nachricht von Connie, sondern Vera. Er dachte: Entweder hat sie mich alle fünf Minuten angerufen, oder sie hat es einfach im Gefühl, wie lang solche Besuche im Gefängnis dauern. Ganz kurz schoss ihm der bizarre Einfall durch den Kopf, dass sie ja womöglich eine Art telepathischer Verbindung zu ihm besaß, aber die Vorstellung war so gruselig, dass er sie gleich wieder aus seinen Gedanken verbannte.

«Wie ist es gelaufen?» Ihre Stimme klang vergnügt, doch er ließ sich nicht täuschen. Aufgaben zu delegieren lag ihr einfach nicht. Im Büro herumzusitzen, während er die ganze Arbeit erledigte, das war der pure Horror für sie.

Er setzte sich in den Wagen, und sie ließ ihn die Befragung beinahe Wort für Wort noch einmal durchgehen, während der Regen aufs Autodach prasselte.

«Fein», sagte sie schließlich. «Wirklich, ganz ausgezeichnet. Ich hätte auch mit ihr reden können, aber ich weiß ja, worauf ich aus bin, und hätte ihr nur Suggestivfragen gestellt. Sie ist schon immer leicht beeinflussbar gewesen.»

Er hütete sich davor, zu fragen, was denn so bedeutsam war. Vera würde es ihm schon sagen, wenn sie wollte, dass er es erfuhr. «Irgendwas Neues von Connie?»

«Nicht dass ich wüsste.»

«Was soll das heißen?», fragte Ashworth. «Wo ist sie?»

«Oh, das weiß ich nicht.» Sie klang ungeduldig. «Aber ich kann mir vorstellen, wer sie versteckt hält.» Mit so was brachte Vera ihn immer zur Raserei.

«Was soll ich jetzt tun?»

«Fahren Sie zurück ins Tyne Valley», sagte sie. «Ich bin auch schon auf dem Weg dorthin.»

 

Sie saßen in der Lounge des Willows, deren Fenster zum Fluss hinausgingen. Er war über die Ufer getreten, und die aufgeschüttete Zufahrt zum Hotel sah aus wie eine Zugbrücke über einem Burggraben, die einzige Möglichkeit, ins Gebäude zu kommen. Auf dem Parkplatz stapelten sich Sandsäcke. Ryan Taylor holte Ashworth am Empfang ab und brachte ihn in die Lounge, wo Vera schon wartete. Er sagte, es werde vor Überschwemmungen gewarnt. Wenn es heute Nacht so weiterregne, werde bald das ganze Tal unter Wasser stehen. Außerdem sei eine Springflut angekündigt, und das verschlimmere die Lage immer, sogar so weit landeinwärts wie hier. Das Hotel selbst liege hoch genug, da könne nichts passieren, aber das Letzte, was sie wollten, seien hier gestrandete Gäste oder Mitglieder des Fitness-Clubs, die nicht hereinkämen, deshalb habe er vor, beiderseits der Zufahrt einen Wall aus Sandsäcken zu errichten.

Nach Veras Reaktion am Telefon hatte Ashworth erwartet, sie gutgelaunt anzutreffen. Sie hatte den Anschein erweckt, der Fall sei so gut wie gelöst und sie könnten noch vor Ende des Tages jemanden verhaften. Aber als er sie jetzt über ihrem Kaffee hocken sah, einen Teller mit Shortbread auf der Armlehne ihres Sessels, sah sie angespannt aus, fast schon unentschlossen. Wie ein Spieler, der nicht weiß, auf welches Pferd er setzen soll. Im Kamin brannte ein Feuer, doch es spendete mehr Rauch als Wärme, und im Raum war es kalt. Veras Handy lag vor ihr auf dem Tisch. Sie starrte es an.

«Verdammtes Sozialamt», sagte sie. «Ich habe mich mit Craig rumgeschlagen, dem Big Boss. Man sollte doch meinen, er könnte uns sagen, wo Mattie Jones geboren wurde. Anscheinend ist es der pure Horror, noch Informationen von damals aufzutreiben. Da ist noch nichts im Computer erfasst worden. Er hat gesagt, er ruft mich an, sobald er was weiß.»

«Was ist denn eigentlich los?»

«Wenn ich das wüsste, Herzchen, würde ich wie ein Ritter in meinem getreuen Land Rover losziehen und die liebreizende Prinzessin befreien.»

«Sprechen Sie von Connie?» Ashworth konnte es nicht leiden, wenn Vera solchen Quatsch redete. Auf die Art behielt sie für sich, was sie dachte – als ob sie ihm nicht genug vertraute.

«Nun ja, auch.» Sie blickte zu ihm hoch. «Hat Mattie sonst wirklich nichts darüber gesagt, wo sie aufgewachsen ist? Abgesehen davon, dass es auf dem Land war und dass es da ein Gewässer gab? Deswegen habe ich Sie zwar nicht zu ihr geschickt, aber es ist trotzdem wichtig, finden Sie nicht? Es hat mich zum Nachdenken gebracht …» Und sie verfiel in Schweigen. Sie erinnerte Joe an eine alte Frau im Pflegeheim, die wirres Zeug vor sich hin brabbelte und mitten im Satz den Faden verlor. Wenn Vera tatsächlich einmal so enden sollte, schoss es ihm durch den Kopf, wäre er wohl der Einzige, der zu Besuch käme.

Wieder schaute sie hoch zu ihm, und er sah, dass sie alles andere als senil war und schlicht auf eine Antwort wartete.

«Nein», sagte er. «Ich hätte vielleicht noch mehr erfahren können, aber im Gefängnistrakt ist eine Frau ausgeflippt, und Mattie konnte sich nicht mehr konzentrieren.» Er schwieg kurz und fügte dann spitz hinzu: «Es wäre hilfreich gewesen, wenn ich gewusst hätte, was genau Sie wissen wollen.»

«Nein», sagte Vera, «das wäre ganz und gar nicht hilfreich gewesen.»

«Was wollen wir jetzt also tun?» Langsam verlor er die Geduld. Wenn er wenigstens Connie und ihre Kleine in Sicherheit wüsste. Er hatte den Eindruck, dass es ihre Leben waren, um die Vera da spielte.

Sie antwortete nicht gleich, und wieder war da diese untypische Entschlusslosigkeit zu spüren.

«Dieses Haus am Wasser, von dem Mattie gesprochen hat …», sagte er. Der Gedanke war ihm ganz plötzlich gekommen, während er nach draußen in den sumpfigen Park schaute. Er wusste nicht warum, aber sein Gespür sagte ihm, dass der Mörder etwas mit Barnard Bridge zu tun haben müsse. «Könnte das nicht das Cottage von Connie Masters sein? Wir wissen, dass es heute ein Ferienhaus ist, aber früher muss da doch mal jemand gewohnt haben. Eine Familie? Matties Mutter?»

«Es bringt nichts rumzuraten, oder?», sagte sie und tat seine Idee ab, ohne auch nur darüber nachzudenken. «Das könnte überall sein. Ich muss noch ein paar Anrufe machen.»

Es kam ihm vor, als hätte sie ihre Entscheidung nun getroffen. Die Würfel waren gefallen. Er wartete darauf, dass sie weiterredete, doch sie lehnte sich nur mit halbgeschlossenen Augen tief in den Sessel zurück. «Was soll ich also tun?», fragte er nach einer Weile. Am liebsten hätte er sie geschüttelt. Er wollte, dass sie sich energisch gab, dass sie es auf ihre unbeugsame Art mit der ganzen Welt aufnahm. Es war schrecklich, sie so verzagt zu sehen.

«Fahren Sie nach Barnard Bridge», sagte sie, «und behalten Sie Hannah Lister im Auge.»

«Denken Sie denn, sie könnte in Gefahr sein?»

Vera gab keine direkte Antwort. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie die Frage überhaupt gehört hatte. «Jenny Lister und Danny Shaw», sagte sie. «Irgendwer verwischt hier seine Spuren.» Sie blickte zu ihm hoch und ließ ihr altes, schalkhaftes Grinsen wieder sehen. «Oder ihre Spuren. Ich dachte, ich wüsste, was da vor sich gegangen ist. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.»

 

Barnard Bridge sah aus, als würde es unter Belagerung stehen. Neben allen Hauseingängen auf der Hauptstraße waren Sandsäcke aufgestapelt. Das kleine Rinnsal neben Connies Cottage war jetzt über einen Fuß tief, und der Tyne war braun und wild, er brodelte unter der Brücke und war mit cremefarbenem Schaum bedeckt. Im Haus war niemand. Ashworth rief noch einmal auf Connies Handy an und hinterließ ihr eine Nachricht. «Wenn es heute Nacht weiterregnet, wird der Fluss über die Ufer treten. Sie sollten herkommen und Ihre Habseligkeiten wegschaffen, bevor das passiert.»

Allerdings, dachte er, waren in dem Cottage sowieso nur noch wenige ihrer Habseligkeiten. Als er und Vera ihren Schrank durchgesehen hatten, waren die meisten ihrer Kleider und auch die der Kleinen verschwunden gewesen. Und die Möbel gehörten dem Hausbesitzer, nicht Connie. Alles in allem gab es keinen Grund für sie, hierher zurückzukehren. Seine Nachricht würde zu nichts führen, selbst, wenn sie sie abhörte.

Im Haus der Listers traf er Hannah und Simon im Beisein eines Pfarrers an, der offenbar da war, um Jennys Beerdigung zu besprechen. Der Leichnam war in das Bestattungsinstitut überführt worden, und jetzt konnten alle Vorbereitungen getroffen werden. Der Pfarrer trug Jeans und eine Barbourjacke über seinem Priesterkragen. Hannah bat Ashworth herein und bot ihm Kaffee an, doch er spürte, dass er nicht bleiben konnte. In Gesellschaft dieser beiden Männer war Hannah fraglos in Sicherheit, und ihm selbst bereiteten religiöse Menschen immer ein gewisses Unbehagen. In der Methodistenkirche, in die seine Mutter ihn mitgenommen hatte, als er noch klein war, hatte ein strenger Sonntagsschullehrer geherrscht. Er ging lieber nach nebenan und klopfte an Hildas Haustür.

Sie war allein. Maurice hatte sie trotz des Wetters nach draußen geschickt.

«Machen Sie sich mal keine Sorgen um die Jungs», sagte Hilda, als Ashworth dazu eine Bemerkung fallenließ. Er lächelte, als er sich ihren Mann und dessen Freund als «die Jungs» vorstellte. «In dem Schrebergarten steht ein Gartenhäuschen von der Größe eines Palasts. Sie haben den ganzen Vormittag hier drinnen gesessen, aber jetzt hat es etwas aufgerissen, und die zwei können ein wenig frische Luft gebrauchen.»

Sie war gerade beim Backen, doch sie bat ihn trotzdem herein, und er setzte sich in der Küche auf einen hohen Hocker neben der Arbeitsplatte, während sie Butter und Mehl zu einem Mürbeteig verarbeitete.

«Das Cottage da unten an dem kleinen Bach, in dem Connie Masters wohnt», sagte er. «Wer hat da vorher drin gewohnt, bevor es ein Ferienhaus geworden ist?»

Seit er sich mit Vera im Hotel getroffen hatte, ging ihm diese Frage durch den Kopf. Er wollte Vera beweisen, dass er auch gute Einfälle hatte. Veronica Eliot musste in dem Cottage zu Besuch gewesen sein, als ihr Sohn Patrick ertrunken war, denn der einzige Zugang zu dem Bach führte durch den Garten des Cottage. Wenn sie dort also eine Bekannte, eine Freundin besucht hatte, musste damals eine Frau in Veronicas Alter im Cottage gewohnt haben. Vielleicht ja eine Frau mit kleinen Kindern. Das könnte Mattie Jones’ Mutter gewesen sein, die Mutter, die sie dann in Pflege gegeben hatte. Mattie wäre zwar schon älter gewesen als Veronicas Kinder, aber auch nicht so viel. Wenn sie nun gesehen hatte, wie Patrick ertrunken war, war ihr das Bild dann im Gedächtnis haften geblieben? Das erklärte vielleicht, wieso Mattie ihren eigenen Sohn auf diese Weise bestraft und ihn am Ende umgebracht hatte.

Womöglich, schoss es ihm durch den Kopf, ist es ja genau diese Verbindung gewesen, nach der Jenny Lister gesucht hat, als sie Mattie für ihr Buch befragt hat. Schließlich wäre das eine gute Geschichte, und Sozialarbeiter schätzten saubere, ordentliche Motive, wie manche Kommissare auch. Vera würde jetzt wahrscheinlich sagen, er sei wieder ins Märchenland geraten, und Märchen seien etwas für kleine Kinder, aber sie selbst feuerte ja auch immer ins Blaue, und bei ihr schien es zu funktionieren.

Er wartete auf Hildas Antwort. Sie hatte die Butter unter das Mehl geknetet, wusch sich die Hände in der Spüle und trocknete sie an einem Geschirrtuch ab.

«Mallow Cottage», sagte sie schließlich. «Das Haus hat nie unter einem guten Stern gestanden. Irgendwie scheint niemand lang da zu bleiben. Jeder, der eingezogen ist, hatte den Kopf voller Pläne, wie er es herrichten wollte, aber dann wurde es doch wieder verkauft, ehe die Arbeit fertig war.»

«Ich hätte nicht gedacht, dass Sie abergläubisch sind», sagte Ashworth.

«Das hat mit Aberglauben nichts zu tun!», schnauzte sie ihn an. «Feucht und dunkel und zu teuer zum Renovieren – damit hat es schon eher zu tun.»

«Aber dort hat sich doch eine Tragödie abgespielt», sagte Ashworth. «Ein kleiner Junge ist dort ums Leben gekommen.»

«Aye, Patrick Eliot. Das ist jetzt fast auf den Tag genau zwanzig Jahre her. Wir waren alle beim Begräbnis. Das ganze Dorf, obwohl wir die Familie damals noch gar nicht richtig kannten. Und danach hat Veronica sich geweigert, noch einmal über den Jungen zu sprechen.» Sie zuckte die Schultern. «Das fanden viele komisch, aber ich denke, dass jeder anders mit so was fertig wird.» Sie schwieg. «Jetzt gibt es wieder ein Begräbnis, zu dem wir alle gehen werden. Ich habe den Pfarrer nebenan gesehen.»

«Wer hat damals in dem Cottage gewohnt, als der Unfall passiert ist?» Ashworth merkte, dass er den Atem anhielt, während er auf ihre Antwort wartete.

Sie stand an der Spüle, ließ kaltes Wasser in die Schüssel laufen und mischte es mit einem Messer unter den Teig. Dann drehte sie sich um, um ihm zu antworten.

«Niemand», sagte sie. «Das Haus stand leer. Draußen war ein Schild: Zu verkaufen. Daran erinnere ich mich noch. Das Bild war in allen Zeitungen. Deswegen konnte Veronica ja mit ihren Jungen in den Garten gehen und sie im Bach herumstochern lassen. Ihr eigenes Haus hat damals noch keinen nennenswerten Garten gehabt. Es war eher eine Baustelle. Die Eliots waren doch gerade erst eingezogen.»

 

Als Ashworth wieder nach nebenan ging und bei den Listers klopfte, fand er auch das Haus verlassen vor. Vielleicht hatte der Pfarrer die beiden jungen Leute ja mit in die Aufbahrungshalle genommen oder ins Pfarrhaus, um die Beratungen über Kirchenlieder und Grabreden dort fortzuführen. Ashworth rief Vera an, um sie auf den neuesten Stand zu bringen, aber er merkte gleich, dass sie den Kopf mit ganz anderen Dingen voll hatte. Sie gab ihm eine lange Liste mit Anweisungen, ohne ihm etwas dazu zu erklären.

Am frühen Nachmittag hörte es auf zu regnen, und die Menschen, die einander auf der Straße begegneten, lachten über die Sandsäcke und sagten, der Wetterdienst habe diesmal wohl überreagiert. Doch als es dunkel wurde, fing es wieder an zu regnen, dieses Mal war es ein sanfter Nieselregen, den die Leute immer noch nicht ernst nahmen.