Kapitel Vierzig
Vera sagte sich, dass es keinen Grund zur Eile gebe. Die Sozialarbeiterin und ihre Tochter waren im Bootshaus. Das war bestimmt ein Abenteuer für sie, wie wenn man in der Wildnis zeltet. Die Kleine genoss wahrscheinlich jede Minute. Vera selbst hatten solche Abenteuer gut gefallen, als Hector angefangen hatte, sie auf seine Ausflüge mitzunehmen. Erst als sie älter wurde und begriff, was die nächtlichen Raubzüge durch die Berge bedeuteten, begann sie, sie abzulehnen und schließlich zu verabscheuen. Vielleicht fuhr sie ja deswegen so schnell: Sie wollte nicht, dass die Kleine eines Tages ähnliche Erinnerungen an ihre Kindheit hatte wie sie – die Angst in der Magengrube, und die Sehnsucht nach der vertrauten Umgebung zu Hause. Denn Hector wurde immer gejagt: von der Polizei, den Hütern des Nationalparks, dem Vogelschutzbund. Er ging ganz in seiner Leidenschaft auf und ergötzte sich an dem Katz-und-Maus-Spiel. Dass Vera vor Angst schier umkam, scherte ihn nicht.
Als Vera noch ein paar PS mehr aus dem alten Land Rover herauskitzelte, verspürte sie eine mulmige Erregung. Kurz vor dem Abzweig durch die Steinpfosten mit den gemeißelten Kormoranen stand die Straße unter Wasser. Auf einem Schild hieß es: Straße wegen Überflutung gesperrt. Ein älterer Herr versuchte, auf der schmalen Fahrbahn in drei Zügen zu wenden. Oder eher in vierzig Zügen. Vera legte den Allradantrieb ein, fuhr mit zwei Reifen auf die steile Böschung, bis der Wagen sich in einem 45-Grad-Winkel zur Straße neigte, dann drückte sie sich mit aufheulendem Motor an dem Volvo des Rentners vorbei. Das Wasser stand schon so tief, dass es durch die Türen sickerte. Sie war sich nicht sicher, ob der alte Herr sie überhaupt bemerkt hatte, bis die Gischt, die sie erzeugten, auf seine Windschutzscheibe spritzte. Joe Ashworth neben ihr stieß einen Fluch aus.
Der grasüberwachsene Pfad, der durch die Anlagen des alten Herrenhauses führte, war jetzt viel sumpfiger als noch vor wenigen Tagen, als sie zu Fuß dort entlanggegangen war. Selbst mit dem Allradantrieb merkte sie, wie der Wagen schlingerte. Sie fuhr ganz langsam, Hauptsache, sie blieben nicht stecken. Erst wollte sie Mutter und Tochter in Sicherheit bringen, und dann musste sie jemanden verhaften, bevor noch ein weiterer Mensch zu Schaden kam.
Sie wusste, dass Ashworth jede Menge Fragen hatte, aber sie konnte sich nicht darauf konzentrieren, sie heil zum Bootshaus zu bringen, und sich gleichzeitig mit ihm unterhalten. In dieser Hinsicht war sie wie ein Mann. Sie widmete ihre Aufmerksamkeit besser nur einer einzigen Sache.
«Was ist denn das?» Ashworths Frage regte sie auf, denn sie versuchte gerade, den Wagen durch eine vertrackte Stelle zu steuern, trotzdem schaute sie auf. Da steckte ein kleines Auto im Schlamm, das Wasser reichte bis zur Stoßstange, die Fahrertür stand weit offen. Ashworth legte die wohlfeile Entrüstung des umsichtigen Fahrers an den Tag, mal wieder wirkte er so viel älter, als er war. «Die müssen ja verrückt sein, hier ohne Allradantrieb reinzufahren.»
Da wusste Vera, dass das kleine Mädchen in Gefahr schwebte. Ihm drohten keine bösen Träume und verpfuschten Kindheitserinnerungen. Es war in Gefahr, gar nicht erst alt genug zu werden, um überhaupt Erinnerungen aufzubauen.
«Los, raus!», rief sie. «Schnell! Wir haben keine Zeit mehr.» Sie hatte Gummistiefel an, aber Ashworth trug immer noch seine Büroschuhe, die er jeden Morgen wienerte. Er schaute auf den Schlamm und Matsch rings um den Wagen und zögerte. Sie war schon ein paar Schritte den Pfad hinuntergelaufen, und bei jedem Schritt rutschte und fluchte sie. Nun warf sie ihm, der immer noch im Land Rover saß, einen wütenden Blick zu. «Wollen Sie, dass noch ein Kind ertrinkt? Steigen Sie aus, Mann. Das ist ein Befehl!» Noch während sie sprach, wusste sie, dass sie ungerecht war. Hätte sie ihre Sorgen mit ihm geteilt, wäre er noch vor ihr beim Bootshaus gewesen.
Sie liefen an dem Garten mit den seltsamen Statuen und der efeubewachsenen Mauer vorbei, und als sie an den Rand des kleinen Sees kamen, dachte sie, sie wären zu spät. Sie sah das Boot, den Mann darin, der sich über die Ruder beugte und so entschlossen seinen Weg übers Wasser zog, dass er sie gar nicht bemerkte. Und sie sah die Mutter mit ihrem Kind auf der Veranda, die beobachteten, wie er näher kam.
«Ihnen passiert nichts», sagte Joe. Er war sauer und hatte auch allen Grund dazu. «Er wird sie retten.» Womit er andeuten wollte, dass die ganze Aufregung unnötig war und er seine Schuhe völlig grundlos ruiniert hatte.
«Nein, Herzchen, das ist das Letzte, was er vorhat. Er hasst glückliche Familien.»
Vera stand da und sah zu. Sie war vollkommen machtlos. Das Bootshaus lag zu weit weg, sie konnte Connie nicht mehr warnen. Davon ganz abgesehen, was konnte Connie schon tun, selbst wenn sie Vera hörte? Sie war da drüben gefangen. Und den Kerl im Boot, dachte Vera, kann jetzt nichts mehr schrecken. Mit dem zweiten Mord hatte er jegliche Vernunft über Bord geworfen.
Es war wie in einem Albtraum, wo man schreit, und keiner kommt, und man versucht wegzurennen, aber die Füße rühren sich nicht von der Stelle.
«Er war das?», fragte Ashworth. «Die ganze Zeit? Aber natürlich. Ich hätte das Auto wiedererkennen müssen!»
Vera gab keine Antwort. Sie beobachteten, wie der Mann auf die Veranda des Bootshauses kletterte. Connie und die Kleine konnten sie nicht sehen, die waren wieder im Haus. Ashworth ließ Vera stehen und schlich durchs Dickicht, er folgte dem Ufer bis zu der Stelle, wo das Bootshaus dem Land am nächsten war. Jetzt verschwendete er keinen Gedanken mehr an seine Schuhe oder den Anzug von Marks & Spencer.
Ich muss ihn um Verzeihung bitten. Er wird bestimmt nie wieder mit mir zusammenarbeiten wollen.
Man hörte über die Entfernung hinweg einen schrillen Schrei. Auf der Veranda tauchte der Mann auf, er hielt Alice in den Armen. Connie lief ihm hinterher. Sie war es, die schrie. Vera hatte den Eindruck, dass die Kleine ganz still war, vielleicht vor Angst erstarrt. So erstarrt, wie Vera es gewesen war. Aber der Schrei hatte sie aufgeweckt. Plötzlich merkte sie, dass sie telefonierte und Verstärkung anforderte, einen Krankenwagen, ein Schlauchboot und einen Hubschrauber. Jetzt schrie sie selbst in ihr Handy: «Na los! Schafft alle sofort her!»
Der Mann auf der Veranda hielt Alice in die Höhe. Vera schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er einen ziemlich muskulösen Oberkörper haben musste, wenn er die Kleine so ohne weiteres hochheben konnte. Ob er wohl Fitness machte? Dann dachte sie, dass er ein bisschen wie ein Priester aussah. Einer dieser aufgeputzten Geistlichen in den prächtigen Roben, die während des Abendmahls den Kelch segneten und emporhielten, damit die Gemeinde ihn sah. Oder war das bei der Messe? Sie brachte die verschiedenen kirchlichen Rituale immer durcheinander.
Der Mann öffnete die Hände und ließ das Mädchen in den See fallen. Es verschwand ohne jeden Spritzer.
Ashworth hatte die Stelle erreicht, die dem Bootshaus am nächsten lag, und watete bereits ins Wasser. Jetzt schwamm er los, sein Haar war nass und glänzend wie bei einem Otter. Auf der Veranda versuchte Connie verzweifelt, an dem Mann vorbeizukommen, sie schrie und zerkratzte ihm das Gesicht. Doch Vera hielt den Blick fest auf Ashworth gerichtet. Er tauchte und kam wieder hoch, schüttelte sich das Wasser aus dem Haar, in den Armen hielt er die Kleine. Auf dem Rücken schwamm er zurück, den Körper des Mädchens hielt er dicht an seine Brust gepresst, bis das Wasser seicht genug war, dass er stehen konnte. Dann legte er sich die Kleine an die Schulter und schlang die Arme um sie. Vera dachte, dass sie nie wieder grob oder herablassend zu ihm sein wollte. Halb watend und halb schwimmend brachte er das Mädchen ans Ufer.