Kapitel Drei

Connie wartete im Schein der Frühlingssonne vor dem Gemeindesaal. Am Flussufer auf der anderen Straßenseite blühten büschelweise Schlüsselblumen. Es gab eine Zeit, da hätte sie das idyllisch gefunden: die Sonne, die Kinderstimmen, die durch die offenen Fenster des Saals drangen, das Vogelgezwitscher in den Büschen am Bach und den Bäumen am Kirchhof. Nach einem schneereichen, regnerischen Winter tat es gut, blauen Himmel zu sehen. Aber heute fühlte sie nur wieder die Anspannung, die jedes Mal in ihr aufstieg, wenn sie Alice von der Spielgruppe abholte.

Nun kamen auch die anderen Mütter angeschlendert. Connie achtete stets darauf, als Erste an der Halle zu sein. Sie war den abgewandten Gesichtern nicht gewachsen, dem falschen, mitleidigen Lächeln und der darauf folgenden anklagenden Stille, die genau so lange anhielt, wie sie brauchte, um an den wartenden Frauen vorbeizugehen und sich in der Schlange einzureihen.

Die Leiterin der Spielgruppe öffnete die Tür, und Connie ging vor allen anderen hinein. Am besten holte sie nur rasch ihre Tochter und verschwand wieder.

Alice saß auf der Matte, im Schneidersitz und mit durchgedrücktem Rücken. Sie erblickte ihre Mutter und strahlte sie an, behielt ihre Haltung aber bei. Streng dich nicht so an, meine Süße, hätte Connie am liebsten gesagt. Es kann dir doch egal sein, was die anderen von dir denken. Aber Alice wollte, dass die anderen Kinder sie mochten, und sie wollte den Frauen gefallen, die die Gruppe leiteten. Nur nachts ließ ihre Selbstbeherrschung nach. Dann machte sie ins Bett, wurde von Albträumen heimgesucht und kletterte zitternd zu Connie, um bei ihr zu schlafen. Am Morgen weigerte sie sich, über die Schrecknisse der Nacht zu reden. Die genauen Gründe für die schlimmen Träume kannte Connie nicht, aber sie konnte sie sich vorstellen. Sie wurde ja selbst von Erinnerungen geplagt, in denen eine Horde Reporter sie die Straße hinunter verfolgte.

«Alice, deine Mummy ist da.» Das war Tante Elizabeth. Die Leiterinnen der Spielgruppe wurden alle nur «Tante» genannt. Elizabeth war mollig und liebenswürdig. Die Frau des Pfarrers. Connie hatte das Gefühl, dass Elisabeth ganz wild darauf war, in ihr Haus und ihren Kopf einzudringen. Vielleicht meinte sie ja, ihr Glaube gebe ihr das Recht, im Leben anderer Leute herumzuschnüffeln. Connie verstand diesen Impuls: Auch sie hatte ihr Arbeitsleben damit verbracht, neugierig zu sein. Aber solange die Frau vernünftig auf Alice aufpasste, war sie ihr dankbar.

Die Kleine sprang auf die Füße und kam zu ihrer Mutter gelaufen. Die Kinder mussten draußen in der Sonne gespielt haben, denn Alices Sommersprossen schienen zu leuchten, und auf dem Knie ihrer Jeans prangte ein Matschfleck. Einen Augenblick lang fragte Connie sich, ob sie wohl geschubst worden war, sie stellte sich vor, wie Alice schikaniert wurde, wie die Kinder die Ablehnung und die kleinen Grausamkeiten ihrer Mütter einfach übernahmen. Aber so durfte sie nicht denken. Dann würde sie nur paranoid und drehte durch.

Sie nahm Alice bei der Hand und ging mit ihr an den Tisch, auf dem die Bilder der Kinder, ihre Handabdrücke und Collagen aus Nudeln zum Trocknen ausgelegt waren. Die anderen Mütter hatten sich um Elizabeth geschart, und während Alice ihre Werke heraussuchte, sickerte das Gespräch der Erwachsenen in Connies Bewusstsein.

«Ist Veronica heute nicht da?»

Veronica gehörte nicht zu den Tanten, aber sie war die Vorsitzende des Ausschusses der Spielgruppe. Sie geisterte durch Connies Träume. Eine geschmeidige Raubkatze mit einer Strickjacke von Marks & Spencer und leuchtend rot geschminkten Lippen. Sie war oft im Gemeindesaal, wenn die Mütter kamen, trieb ausstehende Beiträge ein oder forderte sie auf, für den nächsten Wohltätigkeitsbasar einen Kuchen zu backen.

«Nein.» Elizabeth klang ruhig und unbekümmert. Connie war sich nie so ganz sicher, was die Frau des Pfarrers von Veronica hielt. «Ich müsste selbst mal mit ihr reden. Auf dem Heimweg schaue ich bei ihr vorbei. Bei diesem herrlichen Wetter hat sie vielleicht beschlossen, den Tag im Garten zu verbringen. Ich glaube, Christopher ist gerade auf Dienstreise.»

Connie griff ganz automatisch nach den Bildern, die Alice ihr reichte. «Sehr hübsch», sagte sie. «Die hängen wir in der Küche auf, ja?» Sie klang zerstreut; sie horchte, ob es noch mehr Neuigkeiten von Veronica gab, und blieb ausnahmsweise gern etwas länger im Gemeindesaal. Aber das Gespräch drehte sich jetzt um die Zuteilung der Schulplätze und irgendeine Veranstaltung im Pub. Veronica war bereits vergessen, und Connie ging, Alice noch immer an der Hand, ohne ein Wort mit jemandem zu wechseln.

 

Das Cottage am Fluss hatte Connie gemietet, als sie aus der Stadt weggezogen war. Sie hatte einfach nur fortgewollt, es war ihr egal, wohin. Mallow Cottage gehörte Freunden von Franks Eltern, die keine Lust mehr hätten, es als Ferienhaus zu vermieten, so hatte Frank ihr erklärt. Und selbst nutzten sie es nicht; sie arbeiteten noch beide und hätten es als Geldanlage gekauft, um sich fürs Alter abzusichern, damals, ehe die Preise am Immobilienmarkt ins Bodenlose fielen. Als die Dinge eskalierten, hatte Frank Connie sogar ein Plätzchen in seinem Haus angeboten. Um Alices willen, hatte er rasch hinzugefügt, damit Connie nicht auf falsche Gedanken kam. Er hatte nach der Scheidung nach vorn geschaut, in seinem Leben gab es eine neue Frau. Aber sie seien in seinem Gästezimmer willkommen, bis die Reporter es aufgäben, vor ihrer Haustür zu zelten. Zu der Zeit war sie so verzweifelt, dass sie das Angebot beinahe angenommen hätte. Vielleicht wurde Frank dann klar, dass er sich bloß unerwünschte Untermieter aufgehalst hätte, denn bald danach bot er ihr das Cottage im Tyne Valley an. Connie stellte sich vor, wie er alle seine Freunde angerufen hatte: Hilf mir da raus. Du musst doch was wissen, wo sie hin kann. Mag schon sein, dass sie sich das alles selbst eingebrockt hat, aber deshalb muss Alice ja nicht darunter leiden. Wenn mir nichts anderes einfällt, muss ich sie hier bei mir pennen lassen. Er benutzte immer noch solche Ausdrücke wie «pennen». Er war künstlerischer Leiter eines Theaters in Newcastle, und seine Neue war eine junge Designerin.

Von außen war Mallow Cottage sehr hübsch. Ein traditionelles Steinhaus mit einem Ziegeldach und einem winzigen Garten, der zu einem kleinen Bach hinunterführte, welcher gleich hinter einer schmalen Brücke in den Fluss mündete. Drinnen war es dunkel und feucht, aber damit kam Connie zurecht. Die ersten paar Wochen waren herrlich gewesen. Sie hatte Alice bei der Spielgruppe angemeldet und langsam erste Freundschaften geschlossen. Die Frauen, zumindest die, die sie auf einen Kaffee zu sich einlud, brachten ihre Kinder ins Cottage, die mit Alice spielen konnten. Connie hatte beschlossen, ihren Mädchennamen zu tragen. Sie war schon eine ganze Weile geschieden, und Franks Name bedeutete ihr nichts. Vielleicht könnte sie ja in die Anonymität abgleiten, vielleicht sogar wieder Arbeit finden, jetzt, wo der Rummel endlich verebbt war. Schließlich brauchte sie das Geld. Von ihren Ersparnissen und Franks Barmherzigkeit konnte sie nicht ewig leben. Und wenn sie wieder arbeitete, würden vielleicht auch die Albträume verschwinden.

Dann erschien in einer überregionalen Zeitung der Artikel zum Gedenken an Elias’ ersten Todestag. Mit einem Bild von Connie, wie sie verängstigt und verweint aus dem Gerichtssaal trat. Und auf einmal kam sie niemand mehr auf einen Kaffee im Cottage besuchen. Außer Elizabeth – aber das war nun mal ihre Aufgabe als Pfarrersfrau. Und Alice wurde nicht mehr von den anderen Kindern eingeladen. Das Geraune fing an, die schiefen Blicke. Ein paar Frauen versuchten noch, sich ihr mit einer gewissen atemlosen Neugier zu nähern, doch Connie merkte, dass da eine Kampagne gegen sie im Gang war, deren Initiatorin, wie ihr bald klar wurde, Veronica Eliot war. Wenn du dich mit ihr anfreundest, ist das, als würdest du sie freisprechen von dem, was sie getan hat. Willst du das wirklich? Willst du, dass die Leute dich auf eine Stufe mit ihr stellen? Ich verstehe einfach nicht, dass sie ihre Tochter behalten durfte. Das waren kindische, berechnende Worte, wie sie auch ein Achtjähriger zu seiner Bande auf dem Spielplatz hätte sagen können, aber sie wirkten. Es war die Gesetzmäßigkeit der Horde. Gegen Veronica begehrte man nicht auf. Und bald stieß Connie auf das Schweigen in der Schlange vor der Tür zur Spielgruppe, auf die eisigen Blicke, wenn sie zur Post ging, um das Kindergeld abzuholen.

Die alte Connie hätte sich gegen Veronica gewehrt. Du dämliche Kuh, gib mir wenigstens die Gelegenheit, es zu erklären. Doch nach einem Jahr der Polizeiverhöre und Gutachten und Auftritte vor Gericht besaß sie keinerlei Kampfgeist mehr. Außerdem wollte sie sich nicht selbst bemitleiden. Das Recht dazu hatte sie mit Elias’ Tod verwirkt. Und so schlich sie gebeugt durchs Dorf und erwartete keine Freundlichkeiten mehr. Sie magerte ab. Manchmal wäre sie gern ganz verschwunden, sodass nur Alice sie noch hätte sehen können. Ihr einziger Trost war die halbe Flasche Wein, die sie sich abends, wenn ihre Tochter schlief, erlaubte. Sie war fast schon dankbar für die Nächte, in denen Alice ins Bett machte und zu ihr krabbelte; dann hatte sie jemanden zum Festhalten.

Sie waren gerade in den Garten gegangen, als der Besucher kam. Vielleicht war er auch die ganze Zeit schon da gewesen und hatte, verborgen durch den Baum, von der Brücke geschaut. Bei einem seiner Besuche im Cottage hatte Frank ein dickes Seil um einen Ast des Apfelbaums geschlungen, der in einer Ecke des kleinen Gartens an der Uferböschung stand. Alice benutzte es als Schaukel. Im September würde sie in die Schule kommen, für ihr Alter war sie groß und kräftig. Und sie war nicht ängstlich. Sie packte das Seil und rannte los, stieß sich vom Boden ab und flog durch die Luft, fast bis über den Fluss. Connie hütete sich davor, etwas zu sagen. Sie durfte ihre Tochter nicht mit ihren Ängsten belasten. Aber sie wandte sich immer kurz ab, um nicht mit ansehen zu müssen, wie Alice abhob, biss sich auf die Lippen, um nicht laut zu schreien. Sei vorsichtig, mein Schatz. Bitte sei vorsichtig.

Alice spielte gerade auf der Schaukel. Der Apfelbaum stand in voller Blüte, und durch die jungen Blätter mit ihrem verblüffend grellen Grün sah man die Straße nicht. Connie trank einen Kaffee, den sie sich nach dem Mittagessen aufgebrüht hatte. Dann rief Alice «Hallo!» – offenbar war da jemand, den Connie nicht sehen konnte –, und der Fremde tauchte vor dem Gartentor auf. Er blieb stehen und schaute zu ihnen hinein. Im ersten Moment dachte Connie, dass dies ein Reporter sein musste, der sie aufgespürt hatte. Seit sie in das Tal gezogen waren, hatte die Angst davor sie verfolgt. Der Mann war jung und besaß das unbeschwerte Lächeln eines Menschen, der es gewohnt ist, andere für sich einzunehmen. Ganz sicher ein Reporter. Über der Schulter trug er einen Rucksack, in dem ein Fotoapparat sein konnte – obwohl seine Strickmütze ihn wie einen Wanderer aussehen ließ. Vielleicht ging er ja auch nur hier am Flussufer spazieren.

«Kann ich Ihnen helfen?» Ihr Ton war so scharf, dass Alice von der Schaukel überrascht zu ihr herüberblickte.

Der Mann wirkte ebenfalls ein wenig erschrocken. Sein Lächeln verblasste. «Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht stören.»

Der war nicht von der Zeitung, dachte Connie. Die von der Zeitung entschuldigten sich nicht. Nicht mal die Netten. Sie winkte kurz ab, entschuldigte sich ihrerseits. «Sie haben mich überrascht. Wir bekommen hier nicht viel Besuch.»

«Ich suche jemanden», sagte er. Er klang gebildet.

«Ja?» Schon war sie wieder auf der Hut. Ihr Körper war angespannt, bereit, ihn abzuwehren, wenn er nach ihrem Namen fragen oder Anstalten machen sollte, durchs Tor zu kommen.

«Mrs Eliot. Veronica Eliot.»

«Ach so.» Sie war erleichtert und neugierig zugleich. Was konnte dieser Mann von Veronica wollen?

«Kennen Sie sie?»

«Ja», sagte Connie. «Natürlich. Sie wohnt in dem weißen Haus am Ende der Straße. Gleich da vorn, an der Kreuzung. Sie können es nicht verfehlen.» Er zögerte kurz, wandte sich noch nicht ab, und sie fügte hinzu: «Falls Sie mit dem Auto da sind, gleich hier den Weg runter gibt es einen Parkplatz, auf dem Sie wenden können.» Schließlich gab es jetzt keinen Grund mehr, ihm nicht behilflich zu sein, und sie war neugierig. Sie hatte kein Auto gesehen.

«Nein», sagte er. «Ich bin nicht mit dem Auto da. Ich bin mit dem Bus gekommen.»

«Du meine Güte, Sie trauen sich ja was! Wollen Sie heute Abend etwa auch noch zurückfahren?»

Er lächelte. Sie dachte jetzt, dass es schwer war, sein Alter einzuschätzen. Gewiss war er jünger als sie, aber zwischen achtzehn und dreißig konnte er alles sein. Sie wusste, dass Veronica einen erwachsenen Sohn hatte, einen Musterknaben selbstverständlich, der in Durham Geschichte studierte. Aber dessen Freunde wussten doch bestimmt, wo Veronica wohnte.

«In ein paar Stunden müsste ein Bus zurück nach Hexham fahren», sagte er unentschlossen. «Und wenn alle Stricke reißen, kann ich mir ja ein Taxi rufen.»

«Sind Sie mit Veronica verwandt?» Ihr wurde klar, dass dies die erste normale Unterhaltung war, die sie seit Monaten führte, und sie hoffte, noch ein bisschen weiterplaudern zu können. Wie jämmerlich, dachte sie. Dass es so weit gekommen ist!

Er zögerte. Die einfache Frage schien ihn zu verwirren. «Nein», sagte er schließlich. «Eigentlich nicht.»

«Ich glaube nicht, dass sie zu Hause ist», sagte Connie. «Als ich vorhin aus dem Dorf kam, stand ihr Wagen nicht in der Auffahrt. Und ich habe gehört, dass Christopher, ihr Mann, gerade auf Dienstreise ist. Möchten Sie vielleicht auf eine Tasse Tee hereinkommen und hier warten? Wenn Veronica zum Essen verabredet war, ist sie bestimmt bald zurück, und von hier aus sehen wir ihr Auto, wenn sie wiederkommt.»

«Nun ja, wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe bereitet …» Und er machte das Tor auf und trat in den Garten. Plötzlich schien er nicht mehr so nervös zu sein, eher schon arrogant. Panik durchzuckte Connie. Was hatte sie getan? Hatte sie das Unheil über ihre Schwelle gebeten?

Der junge Mann setzte sich neben sie auf die Holzbank mit dem abblätternden weißen Anstrich und wartete höflich ab. Sie hatte ihm Tee angeboten, also würde er davon ausgehen, dass sie auch welchen brachte. Aber die Küche lag auf der Rückseite des Hauses, und von dort aus könnte sie kein Auge auf Alice haben. Für Connie kam es nicht in Frage, ihre Tochter hier mit einem Fremden allein zu lassen.

«Komm mit, Alice. Du kannst auftragen. Die Kekse holen.» Sie hoffte, dass sie Kekse dahatte, denn das Zauberwort wirkte, und Alice trabte brav hinter ihr her ins Haus.

Sie richteten ein Tablett her. Teekanne und Tassen, Milchkännchen und Zuckerdose. Für Alice einen Becher Saft. Ich wohne schon zu lange auf dem Land. Als Nächstes trete ich noch dem Women’s Institute bei. Aber das war nicht witzig. Veronica Eliot saß im Vorsitz des Women’s Institute, und natürlich wäre Connie dort alles andere als willkommen.

Sie gingen im Gänsemarsch hinaus in den Garten. Connie trug das Tablett, und Alice folgte ihr mit ein paar Keksen auf einem Teller mit Blumenmuster. Aber als sie um die Hausecke bogen, war die weiße Bank leer. Der junge Mann war verschwunden.