Kapitel Zweiundzwanzig
Vera streifte durchs Hotel, ging durch Türen, auf denen Nur für Angestellte stand, schaute in Schränke und sah in die Wäscherei und stieß schließlich auf den Pausenraum für die Angestellten. Ein kleiner, quadratischer Raum, in den kaum Tageslicht fiel, mit einer grellen Glühbirne an der Decke und Möbeln, die man im Hotel offenbar aussortiert hatte. An einer Wand eine Reihe Schließfächer.
Lisa vom Schwimmbad machte dort gerade Mittagspause, sie aß kleingeschnittenes Obst aus einer Tupperdose und las ein Taschenbuch. Vera deutete mit dem Kinn auf das Buch. «Gute Geschichte?»
In einer Ecke saßen ein paar Frauen mittleren Alters und tratschten. Sie blickten kurz auf und wandten sich dann wieder ihrem Gespräch zu. Mit gespitzten Ohren.
Lisa ließ das Buch sinken und aß das letzte Stück Melone. «Ganz okay. Heile Welt, Sie wissen schon.»
«Ach, das brauchen wir doch alle von Zeit zu Zeit. Haben Sie ein paar Minuten für mich? Ich habe mich gefragt, ob Sie mich wohl mal hinter die Kulissen hier führen könnten.» Mittlerweile glaubte Vera zwar, dass sie die Räumlichkeiten gut genug kannte, aber sie wollte nicht, dass die alten Schreckschrauben in der Ecke sie belauschten.
«Na klar.» Lisa drückte den Deckel auf die Dose und schob sie in ihre Tasche. Sie war schon beim letzten Mal blass gewesen, aber heute kam es Vera so vor, als sei alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen.
«Haben die Angestellten Ausweise?» Sie hatten den Pausenraum verlassen, befanden sich aber immer noch im Angestelltenbereich. Alles war grau und staubig, hin und wieder kamen sie an Stapeln mit nicht identifizierbarer Ausrüstung vorbei.
«Ja. So Chipkarten, mit denen man aus dem Gästebereich hier reinkommt. Alles Hightech.»
«Großer Gott», sagte Vera, «der reinste Albtraum! Ich hätte meine innerhalb von einer Woche verloren.»
Lisa lächelte nachsichtig. Sie gehörte zu den Menschen, die nie etwas verloren.
«Und wenn man einmal im Angestelltenbereich ist, kommt man überall hin?»
«So ist es.»
«Auch in die Schwimmhalle?» In Vera keimte eine Idee. Sie hatten immer angenommen, dass der Mörder aus den Umkleiden zum Pool gelangt war, aber wenn es einen Zugang für die Angestellten gab, musste das nicht notwendigerweise so gewesen sein. Wieder dachte sie, dass sie Mist gebaut, sich nicht auf die grundlegenden Dinge konzentriert hatte. Gleich als Erstes hätte sie einen Grundriss verlangen sollen. Nein, dachte sie. Charlie hätte sich um einen Grundriss kümmern müssen. Ihr kam der Gedanke, dass der ganze Wirbel um Elias Jones womöglich auf eine falsche Fährte geführt hatte.
«Ja, hier lang geht’s zum Pool.» Lisa führte sie einen schmalen Flur hinab und in einen Raum, der halb Abstellkammer, halb Büro war. In einer Ecke stand ein kleiner Schreibtisch mit einem Computer und einem Telefon. Ansonsten war alles voll mit Schwimmhilfen und diesen biegsamen Schaumstoffrollen, die in den Aqua-Aerobic-Kursen zum Einsatz kamen. Lisa machte eine weitere Tür auf, und nun sahen sie in den Schwimmbereich und waren nur wenige Yards von der Sauna und dem Dampfbad entfernt.
Lisa nahm ein Päckchen mit Überschuhen aus blauer Folie aus einer Schublade. «Wenn Sie rausgehen wollen, müssen Sie die da anziehen.»
Vera zog sie über und trat hinaus auf die Kacheln. Die Überschuhe waren die gleichen wie jene, die sie am Schauplatz eines Verbrechens trug. Im Schwimmbad war alles ruhig. Man hörte nur das merkwürdige Hallen, das sie an schmerzende Glieder und ein hämmerndes Herz denken ließ. Vereinzelt pflügten wild entschlossene Schwimmer durch das Becken, und auf den Liegestühlen hatten sich ein paar Frauen ausgestreckt. Wenn sie geschlossen war, sah die Tür zu dem kleinen Büro von außen aus wie ein ganz normaler Wandabschnitt. Kein Wunder, dass sie das übersehen hatten. Lisa musste ihre Gedanken erraten haben. «Der Architekt wollte klare Linien», sagte sie. «Es gibt noch ein paar weitere Abstellräume, aber die sind auch verdeckt. Der hier ist der einzige, den man von beiden Seiten betreten kann.»
Vera ging zu ihr zurück in das kleine Büro. Sie lehnte sich mit dem Hintern gegen den Schreibtisch. «Kennen Sie einen Kerl namens Michael Morgan?»
«Der diese alternativen Heilmethoden anbietet?» Die Frage klang höchst unschuldig, aber Vera ließ sich nicht täuschen. Und ob Lisa ihn kannte. Auf einmal war sie auf der Hut.
«Der einmal die Woche hier arbeitet. Der eine von den jungen Kellnerinnen geschwängert hat. Den meine ich.» Vera sah Lisa direkt in die Augen. «Hat er sich jemals auch an Sie rangemacht?»
«Nein! So was doch nicht. Das würde er nie tun.» Der Gedanke schien Lisa zu entsetzen.
«Warum nicht? Er ist bekannt dafür.»
«Ich habe mich von ihm behandeln lassen», sagte Lisa. «Wir hatten nur durch seinen Beruf miteinander zu tun.» Das Blut schoss ihr vom Hals in die Wangen.
Vielleicht war es ja tatsächlich nur durch seinen Beruf, aber du hättest gern mehr gewollt. Was ist das bloß mit Michael Morgan und all den Frauen, die es doch besser wissen sollten?
«Erzählen Sie mir davon.»
«Hier zu arbeiten war nicht leicht. Ich meine, ich mache meinen Job gut und furchtbar gern, aber ich passe nicht so richtig hierher.»
«Sie sind gemobbt worden», sagte Vera.
«Das klingt ziemlich hart, aber genau so hat es sich angefühlt. Ich gehe nicht mit den anderen Mädchen in die Disco in der Stadt, und der Kram, den die toll finden, interessiert mich auch nicht. Die waren wirklich hundsgemein zu mir. Schließlich hatte ich richtig Angst davor, zur Arbeit zu gehen, und habe Panikattacken bekommen. Mein Hausarzt konnte mir nicht helfen, deshalb habe ich es mit Michael versucht.»
«Und der konnte Ihnen helfen?»
Lisa nickte. «Ich habe keine Ahnung, wie es funktioniert, aber danach habe ich mich ganz ruhig gefühlt. Als würde es mir nichts mehr ausmachen, was die anderen von mir denken. Ich habe mich wieder darauf gefreut, zur Arbeit zu gehen.»
«Haben Sie sich jemals außerhalb des Hotels mit ihm getroffen?», fragte Vera.
«Nein.» Lisa spielte mit einer der Schaumstoffrollen herum, zerknautschte sie in den Händen. «Schauen Sie, von den anderen Angestellten weiß keiner, dass er mich behandelt hat. Die haben schon immer tierisch über ihn getratscht, erst, als der kleine Junge umgebracht wurde, und dann, als er was mit Freya angefangen hat. Als ob er ein Monster wäre oder so. Wenn die wüssten, dass Michael mich behandelt hat, wäre das ein gefundenes Fressen für sie. Aber er ist nett und freundlich zu mir gewesen, und ich bin ihm sehr dankbar.»
«Haben Sie ihn jemals an einem Ort erwischt, zu dem Nicht-Angestellte keinen Zutritt haben?»
Lisa runzelte die Stirn. «Nein. Nur in dem Büro, das er für seine Sprechstunden nutzt.»
«Aber er hat doch sicher eine von diesen magischen Karten, mit denen man hier hinter die Kulissen kommt?»
«Das nehme ich an.» Lisa schaute auf ihre Uhr. «Hören Sie, ich muss gehen. Meine Schicht hat schon vor zehn Minuten angefangen.»
«Hat sich sonst noch jemand von den Angestellten von ihm behandeln lassen?» Lisa war schon halb aus der Tür, drehte sich aber noch einmal um, um die Frage zu beantworten.
«Das würde ich ja wohl kaum wissen, oder?», sagte sie. «Die anderen würden das ebenso wenig zugeben wie ich.»
Vera fuhr auf den schmalen Nebenstraßen vom Willows nach Barnard Bridge und stoppte die Zeit, die sie für die Strecke brauchte. Es gab keinen besonderen Grund dafür, außer dass sie es für vernünftig hielt, und davon abgesehen war sie noch nicht bereit, aufs Polizeirevier in Kimmerston zurückzukehren. Sie hielt eigentlich keinen von den Dorfbewohnern für den Mörder. Connie Masters hätte ihre Tochter niemals allein im Cottage gelassen, um zehn Meilen mit dem Auto zu fahren und ihre ehemalige Kollegin umzubringen, und so sehr Vera der Gedanke an Veronica Eliot auf der Anklagebank nach wie vor zusagen mochte, sah sie doch nichts, was für ein solches Szenario sprach. Angesichts ihrer neuen Kenntnisse über die Räumlichkeiten des Fitness-Clubs sollten sie viel eher nach einem Mitglied der Belegschaft suchen. Sie sollte diesen Studenten festnageln, dessen Aushilfsjob im Willows zufällig zur gleichen Zeit angefangen hatte wie die Diebstähle. Vielleicht würde sie heute Nachmittag mal bei ihm zu Hause vorbeischneien und ihn überraschen. Sobald sie was gegessen hatte.
Der Nebel vom Vortag hatte sich verzogen, und es war sonnig, ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Als sie um eine Ecke bog, sah sie ein Pärchen mitten auf der Straße. Hannah Lister und Simon Eliot, die Hand in Hand spazieren gingen. Hannah hatte Jeans an und ein Oberteil aus weißem Musselin; im Vergleich zu ihr wirkte Simon riesig und plump. Die Schöne und das Biest, dachte Vera. Selbst von hinten und aus dieser Entfernung konnte sie die Verbundenheit zwischen den beiden spüren, wie eine elektrische Ladung, und sogleich traf sie der vertraute neidische Stich. War sie eine miesepetrige alte Kuh, dass sie immer so empfand, wenn sie ein Liebespärchen sah? Wollte sie, dass alle Menschen so einsam waren wie sie?
Die jungen Leute traten auf den Grünstreifen, um sie vorbeifahren zu lassen, doch sie bremste. «Soll ich Sie mitnehmen?» Sie sah sofort, dass sie besser einfach vorbeigefahren wäre. Hannah war für einen kurzen Augenblick wieder glücklich gewesen, der Wirklichkeit entronnen. Als sie das Autofenster herunterließ, fiel Vera das Vogelgezwitscher in den Bäumen neben der Straße auf und sie ertappte sich dabei, wie sie versuchte, einzelne Vogelarten herauszuhören. Ihr Vater hatte sie immer abgefragt, wenn sie zusammen draußen gewesen waren. «Na los, Vee, stell dich nicht so blöd an, das musst du doch erkennen!»
Sie hatte erwartet, dass die jungen Leute ihr Angebot rundweg ablehnen würden, und war überrascht, als sie nach kurzem Zögern einstiegen, Simon auf den Rücksitz, obwohl er so groß war, dass ihm die Knie beinahe ans Kinn stießen, und Hannah vorne.
«Wo möchten Sie denn hin?», fragte Vera. «Sind Sie auf dem Weg nach Hause?»
«Wo sollen wir hinfahren, Simon?» Hannah drehte sich zu ihm um. Ihre Stimme klang schrill, fast schon hysterisch. «Nach Rom? Sansibar? Auf den Mond?»
Er streckte eine Hand aus und nahm die ihre. «Wir fahren im Sommer nach Rom», sagte er leichthin. «Oder nach Sansibar, wenn du lieber möchtest. Aber ja, Inspector, jetzt fahren wir besser nach Hause. Zu mir bitte. Es ist so ein schöner Tag, dass wir früh aufgestanden und den ganzen Vormittag spazieren gegangen sind, aber jetzt ist Hannah sehr müde, glaube ich. Nur gut, dass Sie zu unserer Rettung aufgetaucht sind. Meine Mutter hat angeboten, uns was zu Mittag zu kochen.»
«Sie müssen sich schon besser fühlen, wenn Sie bereit sind, Ihrer Schwiegermutter gegenüberzutreten», sagte Vera mit einem Lächeln.
«Der Arzt hat mir ein paar Tabletten gegeben, und jetzt fühle ich eigentlich gar nichts mehr.» Nach ihrem kurzen Austausch mit Simon war Hannah in sich zusammengesackt. Sie hing mit halb geschlossenen Augen zurückgelehnt im Sitz.
«Aber du musst was essen, und keiner von uns beiden erträgt es jetzt, einkaufen zu gehen.» Er saß noch immer nach vorn gebeugt da, hatte den Gurt aufs äußerste gespannt und streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken.
«Ich habe Sie nie gefragt», sagte Vera, wobei sie mit Simons Bild im Rückspiegel sprach, «wo Sie eigentlich an dem Morgen waren, an dem Jenny ums Leben gekommen ist?» Ihr war plötzlich der schreckliche Gedanke gekommen, dass er womöglich mit der Sache zu tun haben könnte. Immerhin hatte sie noch nicht überprüft, ob er ein Alibi hatte. Aber die Vorstellung, Hannahs Erretter könnte ein Mörder sein, war ihr zuwider.
«Zu Hause», sagte er. «Hannah hat vorgehabt, zu lernen, deshalb wollten wir uns erst am Abend treffen.» Ihm musste klar sein, weshalb sie das fragte, doch er schien es ihr nicht im Mindesten übel zu nehmen.
«War Ihre Mutter auch da?»
«Keine Ahnung», sagte er. «Am Abend vorher war ich auf Sauftour, habe mich mit ein paar Jungs von meiner alten Schule getroffen. Hab mich erst so gegen Mittag aus dem Bett geschält. Da ist Mum nicht da gewesen, aber sie ist bald danach gekommen.»
Sie näherten sich nun der Kreuzung, dem Abzweig ins Dorf. Vera bog ab und fuhr bis vor das große weiße Haus. Schräg gegenüber sah man Connie Masters Cottage. «Kennen Sie die Frau, die da drüben wohnt?» Vera deutete mit dem Kinn über die Straße.
«Nein, aber ich habe da manchmal Leute gesehen. Eine Mutter mit ihrem Kind. Bleiben sie länger da wohnen? Eigentlich ist es immer ein Ferienhaus gewesen.»
«Sie heißt Masters», sagte Vera. «Connie Masters.»
Das riss Hannah aus ihrer Lethargie. «War das nicht die Sozialarbeiterin, die Mattie Jones betreut hat?»
«Ganz genau. Hat Ihre Mutter mal über sie gesprochen?»
«Ich wusste gar nicht, dass sie da wohnt. Sie hat Mum leidgetan. Wegen der Art, wie die Zeitungen mit ihr umgegangen sind. Weil sie bei der Sache mit Elias Jones einen so furchtbaren Fehler gemacht hat.»
Während sie den beiden jungen Leuten nachsah, fragte Vera sich, was sie wohl von Hannahs Mutter gehalten hätte, wenn sie ihr je begegnet wäre. Vera konnte gutaussehende Frauen verständlicherweise nicht ausstehen, und Jennys Fähigkeiten, ihre Überzeugung, immer und überall recht zu haben, wären ihr wohl auch aufgestoßen. Vera hatte den Eindruck, dass Jenny, die doch anscheinend alle bewundert und respektiert hatten, eine Menge heimlicher Feinde gehabt haben könnte. Ein Buch, in dem sie die Unzulänglichkeiten ihrer Schützlinge und Kollegen bloßgestellt hätte, hätte ihr sicher noch mehr Gegner eingebracht. Connie beispielsweise wäre ganz bestimmt darin aufgetaucht. Sie hatte ohne jeden Zweifel ein Interesse daran, dafür zu sorgen, dass Jennys Werk niemals veröffentlicht wurde.