Kapitel Zwölf

Als die Teambesprechung vorüber war, setzte Vera sich für einen Moment in ihr Büro. Sie wollte ihre Gedanken ordnen. Ashworth hatte sie nach Barnard Bridge geschickt, damit er mit Connie Masters sprach. Holly und Charlie waren zurück ins Willows gefahren und befragten die Hotelangestellten, die am Vortag nicht da gewesen waren. Während Vera auf die Straße hinunterschaute, wo der Wochenmarkt bereits in vollem Gange war, dachte sie, dass die Wahl des Fitness-Clubs als Schauplatz für einen Mord doch etwas bedeuten müsse. Warum sollte der Täter die Frau dort umbringen, wo er jede Sekunde entdeckt werden konnte? Es musste doch andere, weniger gefährliche Tatorte geben. Jennys Mörder musste gewusst haben, dass sie Club-Mitglied war, oder er war ihr dorthin gefolgt. Das würde auf einen Stalker hindeuten, auf ein vorsätzliches, über lange Zeit geplantes Verbrechen. Oder aber, dachte Vera, das Motiv war viel einfacher und banaler, und Jenny war umgebracht worden, weil sie im Willows irgendetwas gesehen hatte, und es hatte überhaupt keinen Vorsatz gegeben. Morde wurden oft aus den nichtigsten Anlässen heraus begangen, und dann waren sie ganz besonders tragisch.

Sie rief die Festnetznummer im Haus der Listers in Barnard Bridge an. Simon Eliot hob ab.

«Wie geht’s Hannah?»

«Wir haben nicht viel geschlafen», sagte er. «Ich dachte, vielleicht sollte ich einen Arzt rufen und es ihm erklären. Sie hat die ganze Nacht geredet und braucht Ruhe. Vielleicht kann er ihr ja was geben, was sie heute Nacht schlafen lässt.» Er hielt inne. «Sie möchte ihre Mutter sehen.»

Nicht ihre Mutter, die Leiche ihrer Mutter. Das ist was ganz anderes.

«Das müsste gehen. Ich selbst habe zu tun, aber ich sorge dafür, dass Sie von jemandem abgeholt werden.» Vera hatte schon beschlossen, dass sie Holly schicken würde. Vielleicht würde Hannah mit jemand Jüngerem ja offener reden.

«Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich dabeihaben will», sagte Simon. «Ich glaube, sie möchte sich ganz allein verabschieden.» Vera merkte an seiner Stimme, wie weh ihm das tat.

«Das ist bestimmt richtig so», sagte sie. «So haben Sie ein wenig Zeit für sich. Es bringt nichts, wenn Sie auch noch zusammenbrechen.» Sie schwieg kurz. «Ich würde gern mit ein paar von Jennys Freundinnen reden. Bei der Arbeit gibt es anscheinend niemanden, der sie gut gekannt hat, deshalb denke ich, sie muss Freundinnen im Dorf gehabt haben. Ihre Mutter wusste niemanden. Können Sie mir weiterhelfen?»

«Anne Mason», sagte er. «Sie ist Lehrerin an der Grundschule weiter oben im Tal und wohnt in einer umgebauten Scheune ein Stück außerhalb des Dorfs. Die beiden sind zusammen ins Theater gegangen und zum Essen. Haben einen Flamenco-Kurs zusammen gemacht. Ich glaube aber, dass sie gerade nicht da ist. Osterferien. Sie und ihr Mann haben ein Ferienhaus in Bordeaux, wo sie hinfahren, sooft sie können. Manchmal ist Jenny auch mitgefahren.»

«Ich nehme mal nicht an, dass Sie ihre Handynummer haben?»

«Ich nicht, aber Hannah vielleicht. Ich frage sie mal.» Dann war es am anderen Ende der Leitung still. «Ich kann überhaupt nichts für Hannah tun», sagte er schließlich, ein Aufschrei aus tiefster Seele.

«Im Moment kann keiner was für sie tun, Herzchen.» Und dann nannte Vera ihm Hollys Namen und sagte, dass diese sich mit ihnen in Verbindung setzen werde, sobald sie wüssten, wann Hannah ins Leichenschauhaus fahren könne.

 

Vera hatte sich mit Craig, Jennys Gebietsleiter, zum Mittagessen in Kimmerston verabredet. Er musste sowieso in die Stadt, und dies war sein einziges freies Zeitfenster. So redete er: Ein Schlagwort reihte sich ans nächste. Es sei ein Meeting der Geschäftspartner angesetzt, sagte er am Telefon. Irgendwas zwischen den verschiedenen Geschäftsstellen. So sehe sein Arbeitstag heutzutage aus, nur Strategie und Politik. Die Hilfsbedürftigen bekomme er überhaupt nicht mehr zu Gesicht. In Veras Ohren klang er allerdings verdammt froh darüber. Genau das soll ich auch machen, nur Strategie und Politik. Genau das wollen die Chefs von mir. Aber, großer Gott, stell dir nur vor, wie langweilig das wäre.

Er hatte vorgeschlagen, sich in einem Weinlokal auf der Front Street zu treffen. Sie war schon ein paar Mal daran vorbeigekommen, hatte sich aber noch nie versucht gefühlt hineinzugehen. Sie wusste genau, wie es drinnen war: viel zu teuer und affig. Und voll von schönen Menschen, die sie anstarren würden, als wollte sie die Obdachlosenzeitung verkaufen. Sie war absichtlich etwas zu spät dran, damit sie nicht allein da sitzen und auf ihn warten musste, und sah ihn auch gleich: ein Kerl in den Vierzigern, der einen Anzug trug und den Independent las. Neben ihm auf dem Boden stand eine Aktentasche. Vera hatte in ihrem ganzen Leben noch keine Aktentasche mit sich herumgetragen. Das Lokal war fast leer, es war noch zu früh für den Ansturm der Mittagsgäste, sodass niemand sie belauschen konnte.

Sie bemerkte die Überraschung und Enttäuschung auf seinem Gesicht, als er sie näher kommen sah. Vermutlich hatte er auf eine zweite Helen Mirren gehofft. Heutzutage erwarteten die Leute, dass eine Kommissarin aussah, als käme sie direkt aus Prime Suspect gesprungen. Er erhob sich, um ihr die Hand zu geben, und ihr fiel auf, wie groß er war. Es gab nicht viele Männer, die sie überragten.

«Es ist entsetzlich», sagte er. «Jenny Lister war die beste Sozialarbeiterin, der ich je begegnet bin. Ich habe keine Ahnung, was wir ohne sie anfangen sollen. Ihr Team ist am Boden zerstört.» Er sah trübsinnig zu ihr herunter. «Ich habe keine Ahnung, was ich ohne sie anfangen soll. Sie hat den ganzen Laden am Laufen gehalten. Offiziell war sie meine Stellvertreterin, aber in Wahrheit hat sie wohl eher dafür gesorgt, dass ich das Richtige tue.»

Das nahm Vera für ihn ein. Hinter all den Phrasen und dem Ehrgeiz steckte schließlich doch ein Mensch. Und als er zu seinem Räucherlachsbaguette noch einen Teller Pommes frites bestellte, schloss Vera ihn beinahe schon ins Herz.

«Sie war also gut in ihrem Job?»

«Das ist die Untertreibung des Jahres.» Er tunkte ein Pommes frites in eine Schale mit Mayonnaise. «Wenn sie gewollt hätte, hätte sie Abteilungsleiterin im Sozialamt werden können. Sie war blendend organisiert, eine hervorragende Ausbilderin und beängstigend klug.»

«Warum ist sie dann nicht befördert worden?» Vera hatte noch nie so recht an Heilige geglaubt. Warum war Jenny Lister an der Front geblieben, anstatt die Gelegenheit zu ergreifen und Leiterin einer Abteilung zu werden?

«Sie wollte nicht», antwortete er. «Sie hat gesagt, sie bräuchte weder das Geld noch den ganzen Ärger. Und sie würde die Arbeit mit ihren Schützlingen und den Pflegefamilien vermissen. Sie würde die Kinder vermissen.»

«Haben Sie ihr geglaubt?»

Entsetzt blickte der Mann auf. «Aber natürlich! Jenny Lister hat nicht gelogen.»

Stimmt nicht, dachte Vera. Wir lügen alle. Sonst könnten wir gar nicht überleben. Nur dass einige von uns es besser können als andere. Jenny Lister muss eine umwerfende Lügnerin gewesen sein.

Der Mann fuhr fort. «Sie hat es genossen, die begabteste Sozialarbeiterin der ganzen Gegend zu sein. Vielleicht hat sie gewusst, dass sie als Abteilungsleiterin nicht so gut wäre. Und die Zweitbeste hätte sie nicht sein wollen.»

«Was wissen Sie über ihre Familie?», fragte Vera. «Kam sie hier aus der Gegend?»

Er schaute von seinem Teller hoch. «Jawohl, waschecht aus Northumberland. Zum Studieren ist sie in den Süden gegangen, aber den Rest ihres Lebens hat sie hier verbracht.»

«Leben ihre Eltern noch?» Wenn sie von hier sind, hat Jenny sich ihnen vielleicht anvertraut. Und vielleicht können sie Hannah ja für eine Weile zu sich nehmen.

«Nein», sagte er. «Sie hat nie darüber gesprochen, aber meine Frau schwärmt für die Geschichte dieser Gegend hier und ist in einer alten Ausgabe des Hexham Courant auf die Sache gestoßen. Jennys Vater war Anwalt und hat anscheinend seine Klienten betrogen. Er hat sich das Leben genommen, bevor das Ganze vor Gericht kam. Die Mutter hat danach noch ein paar Jahre gelebt, aber sie war wohl nicht mehr die Alte. Sie konnte die Schande nicht ertragen. Ich glaube, sie war irgendwo an der Küste in einem Heim. Vor etwa zehn Jahren ist sie gestorben. Ich weiß noch, dass Jenny zur Beerdigung gegangen ist.»

Noch eine Frau mit einem Halunken zum Vater, dachte Vera. Vielleicht hätten sie und Jenny ja doch etwas gemein gehabt.

 

Als sie sich auf dem Weg zurück ins Revier auf dem breiten Bürgersteig durch die Menge der Marktbesucher kämpfte, piepste Veras Handy, um anzuzeigen, dass sie eine SMS bekommen hatte. Das mit den SMS verstand sie immer noch nicht so recht. Warum rief man nicht einfach an und hinterließ eine Nachricht? Sie brauchte wirklich eine Brille, war aber zu eitel und zu chaotisch, um einen Sehtest machen zu lassen, und hier, mitten auf der überfüllten Straße, konnten keine zehn Pferde sie dazu bringen, die SMS zu entziffern. Die alten Bauern und die Damen vom Lande würden sie nur umrennen.

In ihrem Büro machte sie sich erst mal Kaffee, bevor sie auf dem Handy nachschaute. Die Nachricht war von Simon Eliot. Natürlich, die jungen Leute kommunizierten ja auf diese Weise. Jennys Freundin Anne ist aus dem Urlaub zurück. Würde gern mit Ihnen reden. Und eine Telefonnummer.

Sie wollte Anne Mason gerade anrufen, als es auf ihrem Festnetzanschluss klingelte. Das war Holly, die eben aus dem Leichenschauhaus zurückgekommen war, wohin sie Hannah begleitet hatte. Sie sprach in einer Art Bühnenflüstern. «Ist es in Ordnung, wenn ich noch bei ihr bleibe, Chefin? Sie ist echt mit den Nerven am Ende. Sie ist doch noch ein Kind.» Lag da etwa der Hauch eines Vorwurfs in ihrer Stimme? Weil Vera ein herzloses Biest war und sich nicht besser um das Mädchen kümmerte?

«Natürlich, wenn sie Sie bei sich haben möchte.»

«Sie ist so fertig, dass ich mir nicht ganz sicher bin, was sie möchte, aber sie hat gefragt, ob ich bleiben kann.»

«Dann ist ja alles in Butter. Versuchen Sie, sie zum Reden zu bringen. Nach dem, was wir bislang über Jenny Lister wissen, muss sie eine Kreuzung aus Mutter Teresa und Gandhi gewesen sein. Und ähnlich viel Liebesleben gehabt haben wie die.»

«Ja klar.» Holly war Feuer und Flamme, froh, etwas zu haben, worauf sie sich stürzen konnte. «Ihr Mann hat sie verlassen, als Hannah noch ein Baby war. Es muss doch andere Männer in ihrem Leben gegeben haben. Ich meine, das ist Jahre her.»

Offenbar war ihr nicht klar, dass ihre Bemerkung etwas Grausames hatte, und Vera beließ es dabei. Vera hatte noch nie einen Mann in ihrem Leben gehabt. Was hätte Holly wohl dazu gesagt?

 

Anne Mason wohnte auf halber Höhe eines Hügels, von dem aus man das Tal überblicken konnte, und Barnard Bridge, das sich am Bach entlangzog. Vera hatte für solche umgebauten Scheunen nicht viel übrig – riesige Bauwerke, in denen man sich zwischen Räumen mit zu viel Hall und dem offenen Dach verlor. Der Bau erinnerte sie an eine Kirche, und wo ließ man eigentlich seinen ganzen Krempel, wenn man keinen Speicher hatte? Sie sah Annes Wohnsitz schon, als sie in die schmale Straße einbog, die ein paar Meilen hinter dem Dorf von der Hauptstraße abzweigte. Das Sträßchen verlief eine Weile am Tyne entlang, wo ihr der Wald die Sicht versperrte. Dann ging es über freies Feld, und sie konnte die Scheune wieder sehen; die milchige Sonne spiegelte sich in den Fenstern, die die großen Scheunentore ersetzten.

Anne Mason sah nicht aus wie jemand, der viel Krempel ansammelte. Sie war klein und zierlich, mit winzigen Händen und einem praktischen Kurzhaarschnitt. Sie trug noch immer die Baumwollhose und die Wanderstiefel von der Reise.

Sie saßen auf schicken Stühlen in skandinavischem Stil und blickten aufs Tal hinunter.

«Wir haben Simons Anruf bekommen, als wir gerade auf der A1 waren. Ich kann es einfach nicht glauben. Ausgerechnet Jenny.» In der Nähe der Eingangstür stand ein Rucksack auf dem gebohnerten Holzfußboden. Hin und wieder warf sie einen Blick darauf, und Vera merkte genau, dass es sie, trotz des Todes ihrer Freundin, ganz verrückt machte, nicht sofort auspacken zu können. Sie war eine Frau, die es hasste, wenn irgendetwas nicht erledigt war. Unwillkürlich schoss Vera ein Satz aus dem Bericht über Elias Jones durch den Kopf: Michael kann’s nicht leiden, wenn überall was rumliegt. Die beiden Frauen waren mithin keine Seelenverwandten gewesen. In Jennys Haus herrschte eine anheimelnde Unordnung; ihr hatte es nichts ausgemacht, zur Arbeit zu gehen, auch wenn noch ein paar schmutzige Teller in der Küche standen.

«Wo ist denn Ihr Mann?», fragte Vera. Wenn Jenny in der Vergangenheit mit den beiden in Urlaub gefahren war, hatte der Mann vielleicht etwas Nützliches zum Gespräch beizutragen.

«Er holt unseren Hund aus der Tierpension.» Anne lächelte entschuldigend. «Wir haben keine Kinder. Der Hund ist unser Baby.»

Das Erdgeschoss der Scheune war offen angelegt, an einem Ende stand ein großer Holzofen, und am anderen lag die Küche, ganz in glänzendem schwarzem Granit und Edelstahl gehalten.

«Was arbeitet er?» Das hier ist nicht von einem Lehrerinnengehalt bezahlt worden.

«Er ist Architekt. Das hier ist sein Werk.» Wieder lächelte sie und wartete auf das gebührende Kompliment.

«Wunderschön», sagte Vera, ohne auch nur zu versuchen, so zu klingen, als meinte sie das ehrlich. «Also dann, was können Sie mir über Jenny Lister erzählen? Ich habe gehört, dass Sie eng miteinander befreundet waren.»

«Sehr eng. Wir haben uns vor etwa zehn Jahren kennengelernt. Ich habe in Hannahs Grundschule unterrichtet – da bin ich immer noch, leider. Jenny ist dem Elternbeirat beigetreten. Nach den Besprechungen haben wir uns abwechselnd mit zurück ins Dorf genommen, sind dann öfter mal auf ein Bier in den Pub und haben entdeckt, dass wir eine Menge gemeinsamer Interessen haben: Kino, Theater, Bücher. Von da an wurden wir Freundinnen.»

«Wie oft haben Sie sich getroffen?»

«Mindestens einmal die Woche. Unser Abend war der Mittwoch. Wir hatten beide so viel zu tun, dass es einfacher war, einen bestimmten Abend freizuhalten. Manchmal haben wir was unternommen – wenn zum Beispiel die Royal Shakespeare Company in Newcastle war, sind wir da immer hin, und ab und zu gab es was im Sage, worauf wir Lust hatten. Vor kurzem erst haben wir einen sechswöchigen Flamenco-Kurs zusammen gemacht, das war ein Riesenspaß, obwohl Jenny viel besser darin war als ich. Aber normalerweise sind wir einfach zu Hause geblieben. Haben hier oder bei ihr zu Abend gegessen. Im Sommer sind wir spazieren gegangen, wenn schönes Wetter war.» Anne sah plötzlich unglücklich aus, und Vera wurde klar, dass ihr in dem Moment aufging, dass es nun keine fröhlichen Mittwochabende mehr geben würde. Nichts, worauf sie sich freuen konnte, nichts, was die Woche unterbrach. Im nächsten Augenblick fühlte sie sich offensichtlich schuldig, dass sie etwas so Selbstsüchtiges gedacht hatte. Doch Vera hatte Schuldgefühle schon immer für stark überbewertet gehalten.

«Hat sie mit Ihnen über den Mord an Elias Jones gesprochen?»

«Mit keinem Sterbenswörtchen. Sie war sehr professionell, was ihre Arbeit betraf. Aber als es durch die Medien ging – die ganzen üblen Artikel über Sozialarbeiter in den Zeitungen –, war das natürlich schlimm für sie. Einmal habe ich sie gefragt, warum sie sich das antut. Ich meine, Lehrerin ist nicht unbedingt ein leichter Beruf, aber um Sozialarbeiterin zu werden, muss man doch verrückt sein, finden Sie nicht? Man wird immer für alles verantwortlich gemacht und bekommt nie eine Anerkennung.» Anne hielt inne und sah durch das große Glasfenster in Richtung des Dorfes. «Jenny hat bloß gesagt, dass sie den Beruf liebt. Das sei das Einzige, worin sie wirklich gut sei. Das hat natürlich nicht gestimmt, sie war in vielem wirklich gut. Sie war eine großartige Mutter.» Wieder schwieg sie. «Und eine wunderbare Freundin.»

«Worüber haben Sie sich denn dann unterhalten?» Vera versuchte vergeblich, sich das vorzustellen. Diese beiden Mittelklassefrauen in den Vierzigern und all die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten. Waren ihnen die Gesprächsthemen nicht irgendwann ausgegangen? Eine solche Freundschaft hatte sie noch nie gepflegt. Mit der Zeit hatte sie sich mit ihren abgedrehten Hippie-Nachbarn angefreundet, die den kleinen Hof neben ihrem Haus in den Bergen besaßen. An manchen Abenden betranken sie sich zusammen mit ihrem Whisky oder deren grauenvollem selbst gekeltertem Wein. Wenn die Schafe geschoren werden mussten oder die Hühner ausgebüxt waren, half sie ihnen. Aber Stunden miteinander zu verbringen und nur zu reden …

«In der letzten Zeit, glaube ich, habe vor allem ich geredet, und sie hat zugehört.» Auf einmal gab sich Anne sehr bemüht, und Vera dachte jetzt, dass sie eigentlich schon die ganze Zeit über angespannt gewirkt hatte. Das lag nicht nur daran, dass ihre beste Freundin ermordet worden war. Sie war wohl einfach der Typ Frau – nervös, schreckhaft. Vielleicht hatte sie sich ja deshalb dafür entschieden, wohlerzogene Kinder in einer hübschen Schule auf dem Land zu unterrichten. Mit Stress, welcher Art auch immer, konnte sie sicher nicht umgehen.

Anne holte tief Luft und fuhr fort. «Meine Ehe musste vor kurzem eine ziemliche Zerreißprobe bestehen. Eine Art Midlife-Crisis, nehme ich an. Ich habe mich von einem neuen Mitglied des Lehrerkollegiums angezogen gefühlt. Es ist nichts passiert, nichts Ernstes, aber es hat mich völlig aus der Bahn geworfen, mich wieder wie ein verliebter Teenager zu fühlen. Jenny hat mir die Augen dafür geöffnet, wie töricht ich mich benommen habe. Sie hat gesagt, John und ich hätten gerade erst dieses Haus gebaut und Jahre damit verbracht, damit es wirklich perfekt wird, und jetzt, wo es fertig sei, sei halt ein bisschen die Luft raus. Und ich sei nur auf der Suche nach etwas Aufregung. Ich bin mir sicher, dass sie recht hatte.»

Du lieber Himmel, dachte Vera, was für ein zügelloses Geschwafel. Da gebe ich mich doch lieber mit einem handfesten Kriminellen ab als mit so einer Frau, die nur um sich selbst kreist.

«Sie wollte diese Ostern mit uns nach Frankreich fahren, hat sich dann aber dagegen entschieden. Sie hat gesagt, John und ich bräuchten etwas Zeit nur für uns. Eine solche Freundin war sie.»

«Was war eigentlich mit ihr?», fragte Vera schroff. «Hatte sie irgendwelche Liebhaber?»

«Ich bin mir nicht sicher.»

Die Vertraulichkeiten waren also offenbar nur in eine Richtung geströmt. Jenny hatte ihrer Freundin mit Vergnügen zugehört, wenn die von ihren pubertären Gefühlsverirrungen erzählte, im Gegenzug aber nichts von sich preisgegeben. Die Verschwiegenheit gehörte ganz offensichtlich ebenso zu ihrem Privatleben wie zu ihrem Beruf. Was für Geheimnisse hatte sie gehabt?

«In letzter Zeit hatte ich den Eindruck, dass es da jemanden gibt», sagte Anne plötzlich. «Sie hat einen unserer Mittwochabende in letzter Minute abgesagt, ohne richtigen Grund. Und sie hat sehr glücklich gewirkt. Hat förmlich gestrahlt.»

«Haben Sie sie denn nicht gefragt, was los ist?» Jetzt verlor Vera wirklich langsam die Geduld. Diese Frau klang ja wie eine Figur aus einem Herz-Schmerz-Roman in Heftchenform.

«Sie hat gesagt, sie habe eine Beziehung, könne aber nicht darüber reden», sagte Anne.

«Wo ist sie ihrem geheimnisvollen Liebhaber denn begegnet?» Vera konnte sich nicht zurückhalten. «Im Flamenco-Kurs?»

«Nein!» Allein der Gedanke schien Anne zu schockieren. «Nein, im Ernst, das glaube ich nicht. Und wenn doch, wieso hätte sie es mir dann nicht erzählen sollen?»

«Aber warum die ganze Geheimniskrämerei?»

«Ich dachte, sie trifft sich vielleicht mit einem ihrer Kollegen.» Anne sah peinlich berührt drein. «Oder mit einem verheirateten Mann.»

Also doch keine Heilige.

 

Als Vera das schmale Sträßchen ins Dorf hinunterfuhr, fühlte sie sich bestens gelaunt. Es war, als hätte sie die Jenny Lister mit dem einladenden kleinen Haus und der bezaubernden Tochter ganz neu entdeckt. Vera war schon immer wohler gewesen, wenn sie es mit Sündern zu tun hatte.

Plötzlich musste sie bremsen, um einen Traktor vorbeizulassen. Sie kam von der Straße ab, und da sah sie die Torpfosten mit den gemeißelten Kormoranköpfen, die ihr auf dem Aquarell in Veronicas Haus aufgefallen waren. Mittlerweile waren sie von Unkraut überwuchert, und von der Straße aus wären sie wohl nicht mehr zu erkennen gewesen. Aus einem Impuls heraus machte Vera den Motor aus und stieg aus dem Wagen. Sie ging auf dem grasüberwachsenen Pfad zwischen den Pfosten entlang, in ein Dickicht aus Erlen und Birken. Da wuchsen Anemonen und Veilchen, deren Farben in den Strahlen der durch die Bäume brechenden Sonne aufleuchteten. Dann hörte der Wald auf, und sie sah, wo einst das Haus gestanden haben musste.

Man konnte noch die Überreste eines sorgfältig angelegten Gartens erkennen, breite Rasenterrassen, ein ummauertes Gemüsebeet und das Gerippe eines Gewächshauses, das sich gegen die Mauer lehnte, doch das Herrenhaus war bis auf die letzten Ziegel und Steine verschwunden. Solche alten, behauenen Steine waren hier im Tyne Valley bestimmt ein Vermögen wert. Doch warum war der Grund nie verkauft worden? Gehörte er Veronica oder einem anderen Zweig der Familie? Das hier wäre der Traum eines jeden Bauherrn. Vielleicht lag das Grundstück ja in einem Naturschutzgebiet, und es war verboten, hier neu zu bauen.

In der Mitte der Rasenterrassen führten riesige Steinstufen hinab. Im Hinuntergehen fühlte sie sich, als würde sie über ein Filmset wandeln. Zu beiden Seiten der Stufen standen Statuen aufgereiht. Angeschlagen und mit Flechten überzogen, stellten die meisten von ihnen seltsame sagenumwobene Gestalten dar. Manche waren unter dem Efeu kaum erkennbar, und ein paar waren unter einem Gestrüpp aus Brombeersträuchern verschwunden. Auf einer der Terrassen stand die gewaltige leere Schale eines Brunnens.

Als sie zum Fluss hinunterblickte, sah sie einen kleinen Teich. Vera versuchte, sich an den lang zurückliegenden Erdkundeunterricht zu erinnern, und dachte, dass sich der Verlauf des Flusses ja vielleicht mit der Zeit verändert hatte und dieser Tümpel übrig geblieben war. Daneben stand das Bootshaus, von dem Veronica gesprochen hatte, ziemlich gut in Schuss. Es war aus Holz, das erst kürzlich lackiert worden war; ins Wasser hatte man eine Veranda auf Pfählen gebaut. Jetzt lagen keine Boote mehr im Haus; das Fenster war verglast, und dahinter hingen rot-weiße Vorhänge. Neben dem Haus waren ein paar kleine Boote hochkant aufgestellt. Dies war der perfekte Ort für ein herrliches Picknick mit der Familie, und Vera stellte sich Veronica vor, die über den gefüllten Weidenkorb herrschte und partout den Glanz des Hauses ihres Großvaters wiederbeleben wollte.

Als sie zu ihrem Wagen zurückging, tat ihr die Frau beinahe leid.