Kapitel Dreiunddreißig
In der Nacht regnete es, ein Wolkenbruch aus heiterem Himmel, wie ein tropischer Sturm. Es fing an, als Vera von ihrem Wagen zum Haus hochlief, und bis sie die Tür aufgesperrt hatte, war sie völlig durchnässt. Sie blieb im Flur stehen und schüttelte sich wie ein nasser Hund, wobei sie im Stillen Ashworth die Schuld gab, der sie auf dem Parkplatz des Willows festgehalten hatte, bis sie sich ein ums andere Mal die Nachricht anhörte, die Connie auf seinem Handy hinterlassen hatte. Vielleicht klang die Frau ja wirklich ein bisschen verkrampft, aber Vera war auch immer nervös, wenn sie auf Band sprechen sollte. Sie fand, dass ihr Sergeant überreagierte und aus einer Mücke einen Elefanten machte. Er hatte darauf bestanden, dass sie nach Barnard Bridge fuhren und noch einmal durch die Fenster ins Cottage spähten, aber natürlich war niemand da. Connie hatte in ihrer Nachricht gesagt, dass sie eine Weile wegbleiben würde. Ohne dieses ganze Rumgetrödel wäre Vera noch im Trockenen nach Hause gekommen.
Auf der Fahrt gen Norden hatte sie überlegt, noch auf ein Stündchen bei ihren Hippie-Nachbarn vorbeizuschauen, um abzuschalten. Die freuten sich immer, wenn sie kam. Bestimmt hatten sie einen Topf Suppe auf dem Herd stehen und noch was von dem Selbstgebrauten auf Vorrat, das entspannender wirkte als alles, was einem der Arzt so verschrieb. Aber jetzt war ihr schon der bloße Gedanke, sich in eine Regenjacke zu packen und durch den Schlamm zu waten, zu viel. Stattdessen legte sie sich in die Wanne und hörte sich ein trübsinniges Hörspiel im Radio an, dann zog sie den verwaschenen Trainingsanzug an, den sie im Winter anstelle eines Pyjamas trug.
Weil sich der Gedanke an Suppe in ihrem Kopf festgesetzt hatte, machte sie sich auf die Suche und fand ganz hinten in der Speisekammer eine Dosensuppe, die noch aus Hectors Zeiten stammen musste. Ochsenschwanz. Seine Lieblingssuppe. Sie wärmte die Suppe in einem kleinen Topf auf, und auf einmal stand er ihr wieder leibhaftig vor Augen. Hector in seiner ganzen, gewaltigen Größe, der ihr noch das letzte bisschen Selbstvertrauen raubte. Der ihr – wie sie heute glaubte – vorwarf, dass sie lebte, während ihre Mutter gestorben war. Aber wie hätte Vera sich wohl geschlagen, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, Kinder zu bekommen? Lausig, dachte sie. Sie wäre auch lausig gewesen, schlimmer als Hector. Viel schlimmer als Connie oder Jenny Lister oder selbst als Veronica Eliot.
Im rückwärtigen Teil des Hauses gab es ein kleines Zimmer, das sie als Büro benutzte. Überall Papierberge, über die sie klettern musste, um überhaupt in den Raum zu gelangen, und ein Computer, der bald museumsreif wäre. Sie schaltete ihn ein, und während er röchelnd zum Leben erwachte, ging sie sich eine Tasse Tee kochen. Als sie mit dem Teebecher und einer Packung Vollkornkekse mit Schokolade zurückkam, war er noch immer nicht ganz hochgefahren. Die kleinmädchenhafte Ärztin kam ihr wieder in den Sinn, die sie in den Fitness-Club geschickt hatte, damit sie in Form käme, und sie stellte sich vor, wie sehr die das missbilligen würde, dann schlug sie sich den Gedanken aus dem Kopf. Immerhin waren es Vollkornkekse. Das war ja wohl gesund genug.
Bis ihr E-Mail-Account auf dem Bildschirm angezeigt wurde, hatte sie genug Zeit, um drei Kekse zu essen. Dann öffnete sie die Nachricht von der Expertin, die die Papierfetzen untersucht hatte, die sie in der Feuerstelle im Garten der Shaws gefunden hatten. Vera hatte Karen gleich im ersten Gespräch nach dem Feuer gefragt. «Haben Sie oder Derek das angezündet, bevor Sie zur Arbeit gegangen sind?» Schon da war Vera das Ganze komisch vorgekommen. Solche Feuer machte man am Wochenende, wenn man Zeit hatte, darauf aufzupassen. Und Karen hatte sie angeschaut, als wäre sie verrückt geworden; sie hatte ganz offensichtlich keine Ahnung, wovon Vera sprach. Sie oder Derek hätten nichts mit einem Feuer zu tun gehabt.
Vera hatte nachgebohrt. «Dann war’s also Danny? Hat er Ihnen manchmal im Garten geholfen?»
Da hatte Karen traurig den Kopf geschüttelt. «Danny hat eigentlich nie mitgeholfen. Weder im Garten noch sonst irgendwo.»
Also hatte der Mörder das Feuer angezündet. So sah Vera das. Ein Fehler. Er hätte besser jedes belastende Stück Papier mitnehmen und später sorgfältig vernichten sollen. Warum also dieses hastig gemachte Feuer? Wieso die Eile?
Es waren wirklich nur ein paar Fetzen Text übrig geblieben. Mit der Hand geschrieben. Von Jenny Lister. Da war sich die Handschriftenexpertin sicher. In der E-Mail hieß es: Ich bin gern bereit, vor Gericht auszusagen. Ich verbürge mich mit meinem guten Ruf dafür … Bla bla bla. Sehr dramatisch. Doch für Veras Zwecke reichte es.
Offenbar waren drei Seiten mit Text geborgen worden, und alle drei waren stellenweise verkohlt, eine davon so stark, dass kaum noch etwas entziffert werden konnte. Die erste Seite war noch am besten erhalten, und was darauf stand, sah aus wie eine Zusammenfassung. Zumindest war das Blatt nur zu einem Drittel beschrieben. Dem Labor zufolge war eine Ecke verbrannt, sodass das Ende mancher Zeilen fehlte. Den erhaltenen Text hatten sie, so gut sie es auf dem Bildschirm konnten, so gesetzt wie im Original. Vera fand es nicht allzu schwer, den Sinn des Textes zu verstehen.
und wie wichtig es ist, schon früh im Leben Verbindungen aufzubau
Verhaltensmuster, die in der Kindheit erlernt wurden, können of
keinen Grund, weshalb nicht ein anderer Erwachsener diese Rolle übernehmen sollte. Das Kind kann dann
eine normale, gedeihliche Beziehung zu seinen oder ihren leiblichen Kindern aufrechtzuerhalten. In der geschilderten Fallstudie allerdings erkennen wir schwerwiegende Probleme, auf die nie richtig reagiert wurde und die an dieser Stelle auch nicht zu lösen sind.
Sozialarbeitergefasel, dachte Vera. Wenn Jenny wirklich vorgehabt hatte, einen Bestseller zu schreiben, der ihren Job auch dem Laien verständlich machte, wäre ihr das mit solchem Geschwätz wohl kaum gelungen. Sprach sie in dem Abschnitt über Mattie? Das nahm Vera an. Aus den Notizen auf dieser Seite erfuhr sie darüber aber nichts Neues. Doch es war immer gefährlich, voreilige Schlüsse zu ziehen. Es gab keinen Hinweis auf das Geschlecht desjenigen, um den es in der Fallstudie ging, es konnte hier genauso gut auch jemand ganz anders gemeint sein. Davon abgesehen, hatte Jenny Mattie schon seit deren Kindertagen betreut. Hätte die Vorzeigesozialarbeiterin wirklich zugegeben, dass sie auf Matties Probleme in all den Jahren, in denen sie mit dem Fall befasst gewesen war, «nie richtig reagiert» hatte?
Vera drehte sich vom Computer weg und streckte sich. Sie konnte hören, wie der Regen in den Anbau hinter dem Haus tröpfelte. Wenn der Wind von Westen kam, sickerte Wasser durch das flache Dach des Schuppens, und normalerweise kam der Wind von Westen. Vera holte einen Eimer und eine Schüssel, stellte sie unter die Leckstellen und ging dann zurück in ihr Büro. Draußen regnete es heftiger denn je.
Auf dem zweiten Blatt war ganz sicher von Mattie die Rede, teilweise jedenfalls, denn ihr Name wurde genannt. Vera vermutete, dass Jenny, wenn sie das Ganze tatsächlich veröffentlicht hätte, Matties Namen durch ein Pseudonym ersetzt hätte, doch in diesem frühen Stadium des Schreibens hatte sie dazu ganz offensichtlich keinen Anlass gesehen. Ein vollständiger Satz war erhalten geblieben, daneben gab es zahlreiche Lücken. Offenbar hatten die Funken vereinzelte Löcher in das Papier gebrannt, ohne die ganze Seite in Brand zu setzen. So zumindest sah es auf dem eingescannten Bild aus, das das Labor an die E-Mail angehängt hatte.
Der vollständige Satz klang wie einem offiziellen Bericht oder dem Lehrbuch entnommen: Zuweilen, wenn auch andere Ursachen denkbar sind, ist es ein Fehler, einem Außenstehenden die Schuld daran zu geben, wenn eine Familie aus dem Gleichgewicht gerät. Wollte Jenny damit Michael Morgan in Schutz nehmen? Wollte sie andeuten, dass Mattie für den Tod ihres Sohnes ganz allein verantwortlich war? Der übrige Text war offenbar nach dem Zufallsprinzip in kurzen Sätzen aufs Papier geworfen worden und wurde immer wieder von Brandlöchern unterbrochen.
Tod durch Ertrinken ist niemals f System chtigkeit
Ersatzmutter kann manchm
das Glück st dann der Auslöser e Alternative zu Manchmal ist es
besser, nicht einzugreifen. Krankheit
tie Jone
Vera starrte auf den Bildschirm. Sie fror plötzlich und merkte, dass die Heizung ausgegangen war. Es war schon spät. Sie holte ihren Mantel und setzte sich wieder vor den Computer. Dann hätte sie gern einen Whisky getrunken, aber jetzt brachten sie keine zehn Pferde mehr dazu, abermals aufzustehen. Im Hintergrund hörte sie noch immer den Regen, wie Kies, der gegen Glas geschleudert wird. Diese Textfetzen bereiteten ihr Höllenqualen. Tod durch Ertrinken, damit war sicher Elias gemeint. Aber Veronicas Sohn war auch ertrunken. Was sollte das heißen, was Jenny nach «niemals» geschrieben hatte, im ersten Satz? Vera druckte das eingescannte Bild der verkohlten Seite aus und legte ein Lineal darüber, um besser zu erkennen, welche Wörter in einer Zeile standen, aber es ergab immer noch keinen Sinn.
Frustriert wandte sie sich dem dritten Blatt zu, das von allen am meisten beschädigt war. Die Spezialistin hatte in der E-Mail geschrieben, sie glaube, dass es vor dem Verbrennen entzweigerissen worden sei: Der eine Rand der Seite sei ausgefranst. Selbst aus den kurzen Textbrocken meinte Vera, erkennen zu können, dass der Ton hier anders war, nicht so formell. Das hier war keine Notiz aus einem offiziellen Bericht, sondern eher ein Tagebucheintrag.
Was zum Teufel
ll Freundschaft hei
«Freundschaft», schon wieder dieses Wort. Erst heute Abend hatte Morgan es verwendet, als er verzweifelt versuchte, aus der Grube herauszukommen, die er sich selbst gegraben hatte, weil er ihnen nicht erzählt hatte, dass er im Willows praktizierte. Vera meinte nach wie vor, dass Jenny kaum echte Freunde gehabt hatte. Da war diese Lehrerin, Anne, aber das war mehr eine zweckmäßige Übereinkunft gewesen. Zwei Frauen im gleichen Alter, die gern etwas zusammen unternahmen. Die Verbindung gab Anne die Möglichkeit, jemanden zu bewundern, und befriedigte Jennys Bedürfnis, bewundert zu werden. Doch zu einer echten Freundschaft gehörte weit mehr als das. Freundschaft war das, was Vera mit Joe Ashworth verband, aber noch nicht mit ihren Hippie-Nachbarn. Und waren Michael Morgan und Danny Shaw echte Freunde gewesen? Der Gedanke kam ihr kaum überzeugend vor. Sie hatten einander in ihren Egos bestärkt, weiter nichts, was sollte also das sentimentale Geschwätz von Danny bei seinem letzten Gespräch mit Morgan?
Vera sah auf die Uhr. Schon nach Mitternacht. Diese Fragen waren zu schwierig für solch nachtschlafende Zeit, und morgen würde ein wichtiger Tag sein. Sie spürte, dass eine Lösung des Falls zum Greifen nah war. Ashworth hatte recht; sie mussten Connie finden. Vera schaltete den Computer aus und blieb einen Moment sitzen, um zuzuhören, wie er mühsam keuchend herunterfuhr. Wenn dieser Fall hier gelöst war, würde sie sich einen neuen gönnen. Vielleicht würde Joe ja mitkommen, wenn sie einen kaufen ging.
Als sie dann im Bett lag, in dem sie schon als Kind geschlafen hatte, zwischen Laken, die vom vielen Waschen grau und wahrscheinlich auch schon seit ihrer Kindheit in Gebrauch waren, zogen ihr Bilder und Gedanken durch den Kopf und flatterten wieder davon, wie verkohlte Fetzen Papier, die im Feuer aufwehen. Draußen regnete es noch immer.