Kapitel Fünf

Das Haus sah bescheidener aus, als Vera erwartet hatte, es gehörte zu einer Reihenhaussiedlung an der Hauptstraße des Dorfes. Vera parkte direkt am Straßenrand. Es war fünf Uhr nachmittags, alles war ruhig. Der Coop an der Ecke hatte noch offen, aber da war kein Mensch drin. Die Kinder aßen jetzt ihr Abendbrot, und die Pendler aus der Stadt waren wahrscheinlich noch bei der Arbeit oder auf dem Heimweg. Sie klopfte an die Tür, obwohl sie nicht glaubte, dass ihr jemand aufmachen würde, doch sogleich hörte sie drinnen Schritte und das Klicken eines Sicherheitsschlosses, das aufgesperrt wurde.

«Na, wieder mal den Schlüssel vergessen?» Die Worte kamen schon heraus, ehe die Tür ganz offen war. Ein Lachen folgte. «Also wirklich, Mum, du bist echt unschlagbar.» Dann sah das Mädchen Vera, hielt inne und lächelte.

«Entschuldigen Sie bitte, ich habe jemand anders erwartet … Kann ich Ihnen helfen?»

«Heißt Ihre Mutter Jenny Lister?»

«Ja, aber sie ist leider nicht da.»

«Ich bin von der Polizei Northumbria, Herzchen. Ich sollte wohl besser reinkommen.» Sie spürte die Panik, die die Menschen unweigerlich befiel, wenn die Polizei unerwartet vor der Tür auftauchte. Das Mädchen trat einen Schritt zurück, um sie hereinzulassen, und seine Fragen folgten Vera durch den schmalen Flur.

«Was ist los? Hat sie einen Unfall gehabt? Sind Sie gekommen, um mich zum Krankenhaus zu bringen? Sollten wir nicht sofort los?»

Vera setzte sich an einen Tisch in der Küche im rückwärtigen Teil des Hauses. Die Wände waren gelb gestrichen und leuchteten in der niedrigstehenden Sonne. Auch das hatte Vera nicht erwartet. Sie hatte sich Jenny als Hausfrau vorgestellt, der ein hart arbeitender Geschäftsmann Müßiggang und Luxus ermöglichte, aber hier sah es eher wie in einer Studenten-WG aus. Die Küche ging auf einen kleinen Garten hinaus, auf dem Tisch lag noch die Sonntagszeitung, und auf der Küchenplatte stand eine halb geleerte Flasche Rotwein, in die jemand einen Korken gestopft hatte.

«Das da, sind das Sie und Ihre Mutter?», fragte Vera. An der Wand hing eine große Korkplatte, an die Fotos gepinnt waren. Das Opfer mit dem Mädchen, beide lächelten in die Kamera. An der Identität der Toten gab es keinen Zweifel, und das machte Vera plötzlich sehr traurig. Jenny sah aus wie eine nette Frau. Wieso sollten denn nicht auch nette Frauen Mitglied in einem Fitness-Club werden?

«Ja, mein Dad hat uns verlassen, als ich noch klein war.» Das Mädchen hatte rotes Haar und den milchigen, cremefarbenen Hautton, der so oft damit einhergeht. Sie trug Jeans und ein langes, geblümtes Baumwolltop. Die Füße waren bloß. Sie war so dünn, dass man ihr Alter nur schwer einschätzen konnte. Oberstufenschülerin vielleicht. Aber höflich und freundlich. Keine Spur von der Pampigkeit der Heranwachsenden, von der man immer las. Sie stand immer noch, lehnte an der Fensterbank und schaute hinaus.

«Setzen Sie sich doch», sagte Vera. «Wie heißen Sie, Herzchen?»

«Hannah.» Das Mädchen setzte sich auf einen Stuhl gegenüber von Vera. «Können Sie mir bitte sagen, was das alles soll?»

«Ich fürchte, ich kann es Ihnen nicht schonend beibringen, Liebes. Ihre Mutter ist tot.» Vera lehnte sich über den Tisch und nahm Hannahs Hände. Es war sinnlos, zu sagen, wie leid ihr das tat. Was würde das nützen? Als ihre eigene Mutter starb, war sie jünger gewesen als die Kleine hier. Aber sie hatte wenigstens noch Hector gehabt. Mochte der auch ein selbstsüchtiger Bastard gewesen sein, er war doch besser als niemand.

«Aber nein!» Das Mädchen sah sie an, es schien Vera fast schon zu bedauern dafür, dass ihr ein so lächerlicher Fehler unterlaufen war. «Meine Mutter ist nicht krank. Für ihr Alter ist sie ganz schön fit. Sie geht schwimmen, macht Pilates, geht tanzen. Gerade erst hat sie einen Flamenco-Kurs gemacht.» Sie hielt inne. «Oder ein Unfall? Aber sie ist eine total vorsichtige Fahrerin. Krankhaft vorsichtig. Sie haben sie bestimmt verwechselt.»

«Ist sie Mitglied im Willows-Fitness-Club?»

«Ja, die Mitgliedschaft habe ich ihr geschenkt. Vorletztes Jahr ist sie vierzig geworden. Ich wollte ihr was Besonderes schenken und habe meinem Vater ein paar Schuldgefühle eingeredet, um das Geld aus ihm rauszuquetschen.» Das Mädchen schien schließlich doch zu glauben, was man ihm sagte, und starrte Vera entsetzt an.

«Sie ist keines natürlichen Todes gestorben.» Vera blickte Hannah an, um sicherzugehen, dass diese verstand, was sie sagte, und sah, wie Tränen die makellosen Wangen hinabkullerten. Das Mädchen blieb stumm, und Vera fuhr fort: «Sie ist umgebracht worden, Hannah. Jemand hat sie ermordet. Das ist furchtbar. Mehr als irgendjemand ertragen kann, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Mein Job ist es, herauszufinden, wer sie umgebracht hat. Und je mehr ich über sie weiß, desto eher finde ich das heraus.»

«Kann ich sie sehen?»

«Natürlich. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie persönlich zum Leichenschauhaus. Aber das wird erst spät heute Abend möglich sein, vielleicht auch erst morgen.»

Hannah saß Vera gegenüber, mit dem Rücken zum Fenster. Die Sonne ließ ihr Haar aufleuchten wie einen Heiligenschein.

«Wollen Sie, dass ich Ihren Vater bitte herzukommen?» Am besten, sie hielt sich an die Vorschriften.

«Nein. Er ist in London. Da wohnt er jetzt.»

«Wie alt sind Sie, Hannah?»

«Achtzehn.» Sie antwortete automatisch, stand zu sehr unter Schock, um Veras Recht, ihr Fragen zu stellen, in Zweifel zu ziehen.

Erwachsen also, für sich selbst verantwortlich. Sie brauchte keinen Aufpasser mehr. Zumindest nicht nach dem Gesetz. Trotzdem sah sie wie ein kleines Mädchen aus. «Gibt es sonst jemanden, den Sie gerne um sich hätten? Einen Verwandten?»

Sie blickte auf. «Simon. Bitte lassen Sie Simon kommen.»

«Und das ist wer?»

«Simon Eliot. Mein Freund.» Sie schwieg kurz. Dann verbesserte sie sich trotz ihres Kummers und der Verwirrung, und der Gedanke schien sie zu trösten: «Mein Verlobter.»

Vera hätte am liebsten gelächelt. Spielten sie hier Vater, Mutter, Kind? Wer heiratete heutzutage denn noch so jung? Aber sie blieb ernst. «Wohnt er auch hier?»

«Seinen Eltern gehört das große weiße Haus am anderen Ende des Dorfs. Sie sind auf dem Weg hierher bestimmt daran vorbeigekommen. Er geht auf die Uni, in Durham. Ist über die Osterferien zu Hause.»

«Warum rufen Sie ihn nicht an? Bitten Sie ihn herzukommen. Oder wollen Sie, dass ich mit ihm rede?» Vera dachte, wenn es sonst niemanden gab, könnten ja die Eltern des Jungen nach Hannah sehen. Zumindest so lange, bis sie den Vater erreicht hatte. Hannah hielt ihr Handy schon in der Hand und tippte die Nummer ein. In letzter Sekunde, als es zu läuten anfing, gab sie es Vera. «Würde es Ihnen was ausmachen? Ich kann das nicht. Was soll ich denn sagen?»

«Hallo, du.» Die Stimme war tiefer, als Vera erwartet hatte, warm und sexy. Plötzlich dachte sie, dass zu ihr noch nie jemand so gesprochen hatte.

«Hier spricht Inspector Vera Stanhope von der Polizei Northumbria. Es hat einen unerwarteten Todesfall gegeben. Hannahs Mutter. Hannah hat mich gebeten, Sie anzurufen. Könnten Sie vielleicht herkommen? Sie braucht jemanden in ihrer Nähe.»

«Ich bin schon da.» Das Telefon wurde eingehängt. Kein Versuch, sich herauszureden. Vera war froh, dass Hannah sich offenbar nicht mit einem Idioten eingelassen hatte.

«Er ist unterwegs», sagte sie.

Während sie auf ihn warteten, machte Vera Tee. Sie lechzte nach einer Tasse Tee, und die Pastete hatte ihren Hunger nicht so recht gestillt. In diesem Haus gab es bestimmt auch Kekse, vielleicht sogar selbstgebackenen Kuchen …

«Womit hat Ihre Mutter sich den Lebensunterhalt verdient?» Sie hatte den Wasserkessel aufgesetzt und drehte sich wieder zu Hannah um, die immer noch ins Leere starrte. Im Haus gab es keine Hinweise, nichts, woraus Vera etwas hätte schließen können, doch sie tippte auf irgendwas mit Kunst. Die Einrichtung – die Möbel, das Geschirr, die Bilder – hatte bestimmt nicht viel gekostet, zeugte aber von Geschmack.

Hannah blickte langsam auf. Es war, als hätte die Frage Stunden gebraucht, um bis zu ihrem Verstand vorzudringen. «Sie war beim Sozialamt. Hat sich um Pflegekinder und Adoptionen gekümmert.»

Vera musste ihr Weltbild zurechtrücken. Sie hatte noch nie viel von Sozialarbeitern gehalten. Das waren entweder Wichtigtuer, die sich in alles einmischten, oder aber nutzlose Jammerlappen. Als ihre eigene Mutter gestorben war, war auch eine Sozialarbeiterin zu ihnen gekommen, die sich damals aber anders genannt hatte. Beamtin von der Jugendfürsorge, das war es. Hector hatte sie umgarnt, ihr erzählt, dass er sich natürlich bestens selbst um seine Tochter kümmern könne, und das war das Letzte gewesen, was sie von dieser Frau gesehen hatten. Und auch wenn Hector alles andere als ein Vorzeigevater gewesen war, war Vera sich nicht sicher, ob es mit einem Sozialarbeiter irgendwie besser gewesen wäre. Sie brauchte Hannah nichts zu erwidern, denn an der Eingangstür klopfte es kurz, dann kam Simon herein. Er muss einen eigenen Schlüssel haben. Das schoss ihr durch den Kopf, während sie zusah, wie der junge Mann Hannah in die Arme schloss. Es konnte wohl kaum etwas zu bedeuten haben, schließlich war Jenny ja nicht zu Hause umgebracht worden, aber er wirkte doch wie ein Teil der Familie, und der Gedanke, dass das Paar verlobt war, kam ihr jetzt nicht mehr so lächerlich vor.

Simon war groß und dunkelhaarig und überragte Hannah. So richtig gut sieht er ja nicht aus, dachte Vera. Leicht übergewichtig, eine Streberbrille, unglaublich große Füße. Doch zwischen den beiden herrschte eine so spannungsvolle Anziehung, selbst in diesem Moment, in dem das Mädchen solchen Kummer hatte, dass es Vera schier den Atem raubte. Sie verspürte einen düsteren, eifersüchtigen Stich. So etwas habe ich in meinem ganzen Leben nicht erlebt, und das werde ich jetzt wohl auch nicht mehr.

Er setzte sich auf einen der Küchenstühle, nahm Hannah auf den Schoß und fing an, ihr das Haar aus der Stirn zu streichen, als wäre sie ein kleines Kind. Es wirkte so vertraulich, dass Vera einen Augenblick lang wegschauen musste.

Nur mit Mühe wandte der Student die Aufmerksamkeit von seiner Freundin ab und nickte Vera kurz zu. «Ich bin Simon Eliot, Hannahs Verlobter.»

«Was hat Jenny denn von Ihrer Verlobung gehalten?» Sie musste ein Gespräch in Gang bringen, und es war unmöglich, dabei nicht auf ihre Verbindung zu kommen. Auch Jenny konnte die ja nicht ignoriert haben.

«Sie hat gemeint, wir sind zu jung.» Hannah rutschte von Simons Schoß herunter und setzte sich auf den Stuhl neben ihm, ließ aber eine Hand auf seinem Schenkel liegen. «Wir wollten eigentlich diesen Sommer schon heiraten, aber sie hat uns gebeten, noch zu warten.»

«Und waren Sie damit einverstanden?»

«Am Ende ja. Wenigstens, bis Simon seinen Magister hat. In einem Jahr. Das kommt einem vor wie eine Ewigkeit, aber wenn’s ihr so lieber war …»

«Warum überhaupt heiraten?», fragte Vera. «Warum ziehen Sie nicht einfach zusammen, wie alle anderen?»

«Das ist es ja gerade!» Einen Augenblick lang schien Hannah den Tod ihrer Mutter vergessen zu haben. Ihre Augen glänzten. «Wir sind nicht wie alle anderen. Das, was wir haben, ist etwas ganz Besonderes. Da wollten wir auch eine besondere Geste, um das auszudrücken. Wir wollten, dass jeder weiß, dass wir den Rest unseres Lebens zusammen verbringen werden.»

Vera dachte, dass Hannahs Eltern einander bei der Hochzeit vermutlich ähnliche Versprechungen gemacht hatten und dass diese Verbindung gerade mal die Geburt ihrer Tochter überdauert hatte. Auch sie waren am Anfang wahrscheinlich voller Ideale gewesen. Aber Hannah war jung und romantisch, und es wäre grausam gewesen, ihr die Illusionen zu zerstören. Dieser Student war jetzt ihr einziger Halt.

«Also hatte Jenny nichts gegen Simon?»

«Natürlich nicht! Wir haben uns alle ganz wunderbar verstanden. Mum hatte halt einen ziemlichen Beschützerinstinkt. Seit Dad uns verlassen hat, gab es immer nur uns beide. Ich glaube, es war schwer für sie zu akzeptieren, dass es jetzt noch jemand anderen in meinem Leben gibt.»

Vera wandte sich an den jungen Mann. «Und Ihre Eltern? Was hielten die davon, dass Sie so bald heiraten wollten?»

Er zuckte leicht die Achseln. «Überglücklich waren sie nicht gerade. Aber sie hätten sich schon wieder beruhigt.»

«Simons Mutter ist ein Snob», sagte Hannah. «Die Tochter einer Sozialarbeiterin ist nicht so ganz das, was sie sich für ihren Sohn vorgestellt hat.» Sie lächelte, um zu zeigen, dass sie nicht nachtragend war.

Sie schwiegen. Es kam Vera so vor, als hätten sie sich alle abgesprochen, Jenny Listers Ermordung um keinen Preis zu erwähnen. Einen Moment nur wollten sie so tun, als wäre nicht etwas Schreckliches geschehen, und das Schlimmste, womit sie sich auseinanderzusetzen hätten, wäre das vage Unbehagen ihrer Eltern hinsichtlich ihrer frühen Heirat.

«Wann haben Sie Ihre Mutter das letzte Mal gesehen?», fragte Vera im gleichen Tonfall – ganz die neugierige Nachbarin.

«Heute Morgen», sagte Hannah. «Beim Frühstück. Ich bin früh aufgestanden, um mit ihr zu frühstücken. Ich habe zwar Osterferien, aber ich wollte für die Abschlussprüfungen lernen. Simons Eltern beweisen, dass ich sehr wohl Grips habe, auch wenn ich auf eine Kunsthochschule gehen will und nicht auf irgendeine Elite-Uni.»

«Hat sie Ihnen gesagt, was sie heute vorhatte?»

«Ja, auf dem Weg zur Arbeit wollte sie noch schwimmen gehen. Sie arbeitet oft abends und muss deshalb nicht um Punkt neun anfangen.»

«Wissen Sie, ob sie bei der Arbeit irgendeinen besonderen Termin hatte?» Vera glaubte, wenn sie herausfand, wann Jenny im Fitness-Club gewesen war, würde sie eine bessere Vorstellung vom Todeszeitpunkt bekommen als durch alles, was der Gerichtsmediziner ihr sagen würde.

«Ein Meeting um halb elf, glaube ich. Sie hat einen Referendar betreut und ein Gespräch mit ihm angesetzt.»

«Wo war Jennys Büro?»

«Im regionalen Sozialamt in Blyth.»

Vera sah auf, etwas überrascht. «Das ist aber eine lange Fahrt jeden Tag!»

«Das hat ihr nichts ausgemacht. Sie hat immer gesagt, es wäre gut, einen gewissen Abstand zwischen sich und die Arbeit zu bringen, und sie war ja sowieso für die gesamte Grafschaft zuständig. An manchen Tagen hat sie ihre Besuche auf dem Weg erledigt.» Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann sah Hannah Vera direkt in die Augen. «Wie ist sie ums Leben gekommen?»

«Ich bin mir nicht sicher, Herzchen. Wir müssen abwarten, was die Obduktion ergibt.»

«Aber Sie müssen es doch wissen.»

«Ich glaube, sie wurde erdrosselt.»

«Niemand würde meine Mutter umbringen wollen!» Das Mädchen sprach im Brustton der Überzeugung, derselben Überzeugung, mit der sie ihre Liebe zu dem jungen Mann neben sich verkündet hatte. «Da muss sich jemand geirrt haben. Oder es war irgendwie ein Psychopath. Meine Mutter war ein guter Mensch.»

Als sie das Haus verließ, überlegte Vera, dass sie noch nie so recht verstanden hatte, was es mit den guten Menschen auf sich hatte.