Kapitel Achtundzwanzig

Es war immer noch kalt, als sie sich in Barnard Bridge trafen. Auf den Wiesen lag Raureif, und über dem Fluss hing tiefer Nebel. Im Mallow Cottage waren die Vorhänge noch zugezogen, und man konnte kein Lebenszeichen erkennen, deshalb fuhr sie zuerst zu den Eliots. Ob sie Veronica störte, war Vera egal, doch Connie hatte womöglich eine anstrengende Nacht mit der Kleinen gehabt und konnte bestimmt noch eine Runde Schlaf gebrauchen.

Ashworth war schon da, als Vera kam. Er stand neben seinem Wagen und sah in seinem Dufflecoat aus wie ein Student aus der Zeit, als Vera noch ein junges Mädchen gewesen war. Er blickte zum Bach hinunter, wo Jenny Listers Tasche gefunden worden war. «Von hier aus könnte man sie da rüberwerfen», sagte er. «Es wäre ein Leichtes.»

«Für Sie vielleicht. Ich würde sie bloß ein paar Yards weit werfen können. Ins Softball-Team an der Schule bin ich nie gewählt worden.» Sie drehte sich um und ging ihm voran die gekieste Auffahrt zu dem weißen Haus hoch.

Drinnen frühstückten die Eliots gerade, und zu Veras und Joes Überraschung war auch Hannah da. Sie saßen alle um den Tisch in der schicken Küche, in die Vera bei ihrem ersten Besuch geführt worden war: Veronica, ein elegant gekleideter grauhaariger Mann, von dem Vera annahm, dass es Veronicas Ehemann Christopher war, Simon und Hannah. Hannah trug einen Morgenmantel, ihre Haare waren verfilzt, und sie sah noch nicht richtig wach aus. Simon hatte ihnen die Tür aufgemacht. Die anderen rührten sich nicht. Keiner ließ ein Erschrecken oder auch nur eine Verärgerung erkennen. Es sah aus, als wären sie alle in einer Fotografie gefangen. Auf dem Tisch stand ein Krug mit Blumen aus dem Garten. Es roch nach Bohnenkaffee und warmen Croissants. Das Bild hätte der Hochglanzbeilage einer Sonntagszeitung entsprungen sein können.

Dass die beiden jungen Leute da waren, brachte Vera aus dem Konzept. Das hatte sie nicht erwartet. Aber sie wollte sich nichts anmerken lassen, zog sich einen Stuhl neben Christopher heran und ließ Ashworth dahinter stehen.

Simon schien seinen Spaß an der Unterbrechung der familiären Routine und der Verblüffung seiner Eltern zu haben. «Kaffee, Inspector? Oder hätten Sie lieber Tee? Hannah hat gestern Abend beschlossen, dass es in Ordnung für sie wäre, hier zu übernachten, also haben wir gedacht, versuchen wir’s mal.» Er streckte den Arm aus und berührte die Hand des Mädchens.

In Veras Augen sah Hannah nicht so aus, als hätte sie irgendeine eigene Entscheidung getroffen. «Tee bitte, Herzchen. Schön stark, wenn’s recht ist. Mein Sergeant hier trinkt Kaffee.» Sie wandte sich an Simons Vater. «Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden. Ich bin Vera Stanhope, Inspector beim Dezernat für Schwerverbrechen bei der Polizei Northumbria.» Als der Mann nicht antwortete, fügte sie hinzu: «Ich weiß, Sie waren unterwegs, aber Sie haben doch bestimmt gehört, dass hier im Tal jemand ermordet worden ist?»

«Selbstverständlich.» Die Entrüstung löste ihm schließlich die Zunge. «Hannahs Mutter. Eine entsetzliche Tragödie.» Seine Stimme war sehr angenehm, tief und tragend. Die Stimme eines Sängers.

«Haben Sie sie gut gekannt?»

«Gut nicht, nein. Wir sind uns natürlich hin und wieder begegnet, der Kinder wegen.» Er stand auf, wischte sich einen Krümel von der grauen Anzughose und nahm sein Jackett von der Rückenlehne des Stuhls. «Ich fürchte, ich muss los. Ein Meeting um neun.» Sein Körper wirkte jünger als sein Gesicht. Vera fragte sich, ob er wohl zur Fitness ging. Sie hatte sich nicht erkundigt, ob er Mitglied im Willows war, doch wenn sein Name auf der Liste gestanden hätte, wäre er sicher markiert worden. Keine voreiligen Schlüsse, ermahnte sie sich und machte sich eine Notiz im Geiste, das noch nachzuprüfen. Anscheinend hatten alle, die in den Fall verwickelt waren, eine Verbindung zum Willows. Das Hotel war wie das Zentrum einer Spinnwebe.

«Sagt Ihnen der Name Danny Shaw etwas?»

Er blieb stehen, die Hand noch auf dem Tisch. Sie konnte sein Rasierwasser riechen. Seine Fingernägel waren penibel gesäubert. «Nein», sagte er. «Ich glaube nicht.»

Dann ging er hinaus, ohne auf eine Erklärung zu warten, wieso sie das gefragt hatte. Überrascht sah sie ihm durch die offene Küchentür hinterher. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er nach oben ging, um sich die Zähne zu putzen und vielleicht noch ein paar Unterlagen für die Arbeit zu holen. Sie hatte noch Fragen an ihn. Doch stattdessen bückte er sich nach seiner Aktentasche, die in der Halle stand, und trat aus dem Haus. Sie hatte den Eindruck, dass er regelrecht davonlief, und war versucht, ihn zurückzurufen, aber das hätte lächerlich ausgesehen, und schließlich wussten sie ja, wo sie ihn finden konnten. Es war viel besser, ihn im Büro aufzusuchen und dort allein mit ihm zu reden. Dass er am Tag von Jenny Listers Tod außer Landes gewesen war, hatte sie schon überprüft. Nun hörte sie den Motor seines Wagens, das Knirschen der Reifen auf dem Kies.

Als er weggefahren war, erwachte Veronica zum Leben. «Was ist denn so dringend, Inspector, dass Sie uns zu dieser frühen Stunde stören?»

«Mord», sagte Vera und genoss den melodramatischen Augenblick. «Mord ist so dringend.»

«Wir haben Ihnen alles gesagt, was wir über die arme Jenny wissen.» Das «arm» fügte sie wohl nur ein, weil Hannah mit am Tisch saß. Dabei kam es Vera so vor, als hätte das Mädchen noch gar nicht richtig mitbekommen, dass sie überhaupt da waren.

«Es hat noch einen Todesfall gegeben.» Schließlich erntete Vera die Reaktion, die sie erhofft hatte. Sogar Hannah sah auf, mit verschwommenem Blick. Ashworths Handy klingelte und verdarb den Moment. Vera funkelte ihn an, als er aus der Küche ging, um den Anruf entgegenzunehmen.

«Wer ist denn noch umgebracht worden?» Veronica hatte die Hände flach auf den Tisch gelegt und sich halb erhoben.

«Ein Student namens Danny Shaw.»

Schweigen. Wieder ließ niemand erkennen, ob ihm der Name etwas sagte.

Vera beugte sich über den Tisch zu Hannah. «Sie sind mit ihm zur Schule gegangen, Herzchen.» Sie sprach so leise, dass die anderen sich anstrengen mussten, um sie zu verstehen. «Können Sie uns etwas über ihn erzählen?»

Hannah strich sich das Haar aus dem Gesicht und versuchte, sich zu konzentrieren. «Er war älter als ich.»

«Das stimmt.»

«Als ich den Abschluss der Sekundarstufe gemacht habe, war er schon in der Oberstufe. Manchmal sind wir zusammen Schulbus gefahren.» Plötzlich überzog ein strahlendes Lächeln ihr Gesicht. «Er wollte mit mir ausgehen.»

«Und, sind Sie mit ihm ausgegangen?»

«Ein paar Mal.»

Vera wünschte, Ashworth wäre noch in der Küche. Sie musste die Augen jetzt überall haben. Gerade schaute sie zu Simon Eliot hinüber. Hatte er von dieser Verbindung gewusst? Gehörte das zu den Dingen, über die junge Verliebte redeten, wenn sie im Frühling Hand in Hand Landstraßen entlangspazierten? War er eifersüchtig gewesen, oder hatten die Einzelheiten über verflossene Freunde das eigene Liebesleben nur gewürzt?

Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder Hannah zuwandte und erneut das Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens sah, dachte Vera, dass sie und Danny wohl zusammen gewesen waren. Aber sie konnte einfach nicht erkennen, was Simon davon hielt. Er hatte den Arm um Hannah gelegt, und seine ganze Sorge schien nur ihr zu gelten.

Die nächste Frage richtete Vera an den jungen Mann. «Haben Sie Danny gekannt? Sie sind zwar auf verschiedene Schulen gegangen, waren aber etwa im gleichen Alter.»

«Ja, ich habe ihn gekannt. Ich bin etwas älter, aber wir haben gemeinsame Freunde gehabt und sind auf die gleichen Feten gegangen. Gut befreundet waren wir aber nicht.»

«Haben Sie ihn während dieser Ferien gesehen?»

Simon zögerte. Weil er versuchte, sich zu erinnern, oder weil er etwas zu verbergen hatte?

«Einmal vielleicht. Vor ein paar Wochen, in einem Pub in Hexham.» Er drehte sich zu Hannah um. «Erinnerst du dich, mein Schatz? Du bist doch dabei gewesen.»

«Ja», sagte sie sofort. «Ja, natürlich.» Aber Hannah hätte wohl alles gesagt, um ihm eine Freude zu machen, dachte Vera.

«Warum sind Sie bloß ein paar Mal mit Danny ausgegangen?», fragte Vera sie. Hannah sah so zerbrechlich aus, dass Vera nicht sicher war, ob sie es schaffen würde, selbst eine so einfache Frage wie diese zu beantworten.

«Außen hui, innen pfui», sagte Hannah. Es schien nicht das erste Mal zu sein, dass sie diese Phrase benutzte. Vielleicht hatte sie Danny Simon gegenüber so beschrieben. «Erst fand ich ihn toll, aber dann habe ich erkannt, dass er ein arroganter kleiner Scheißer ist.»

«Und dann haben Sie ihm den Laufpass gegeben?»

«Ja.» Wieder blitzte ihr Lächeln auf. «Ich glaube, das war eine ganz neue Erfahrung für ihn.»

«Ist er jemals Ihrer Mutter begegnet?»

Vera stellte die Frage in so sanftem Ton, wie sie nur konnte, spürte aber dennoch, wie die Erinnerung dem Mädchen einen schmerzhaften Stich versetzte.

«Einmal. Mindestens einmal. Mum hat ihn einmal sonntags zum Essen eingeladen.»

«Und, wie lief’s?»

«Es war ziemlich grauenvoll.» Hannah schnitt eine Grimasse. «Kennen Sie das, wenn man jemanden auf einmal durch die Augen von wem anders betrachtet? Ich war auf Danny hereingefallen. Er hat mir imponiert mit seinem Gerede, seinen Träumen und Zukunftsplänen. Das Gleiche hat er dann bei Mum versucht, aber sie konnte er nicht beeindrucken. Sie war total nett und taktvoll zu ihm, doch ich habe genau gesehen, dass sie ihn nicht ausstehen kann.»

«Und deshalb haben Sie ihn in die Wüste geschickt?»

«Ich glaube schon. Nicht, weil Mum ihn nicht mochte. Sondern weil ich durch sie erkannt habe, dass ich ihn selbst auch nicht so toll finde.»

«Wie hat er das aufgenommen?» Vera sah Ashworth zurück in die Küche schlüpfen und fühlte sich wieder sicherer.

«Na ja, niemand wird gern abgewiesen, oder?»

«Hat er Ihnen Schwierigkeiten gemacht?» Die Frage hatte Joe gestellt.

«Gerade so viel, dass ich mir gut dabei vorkam. Ein paar Liebesbriefe. Ein paar weinerliche E-Mails. Ich glaube, es ging ihm bloß darum, das zu kriegen, was er nicht haben konnte.»

«Hat er sich in letzter Zeit mit Ihnen in Verbindung gesetzt?»

«Schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Ich habe ihn natürlich ab und zu mal hier in der Gegend gesehen. Irgendwer hat mir erzählt, dass er eine Freundin in Bristol hat.»

Nach und nach gewann ihre Stimme an Festigkeit. Für ein paar Augenblicke hatte sie vergessen, was mit ihrer Mutter passiert war, und bedauerte stattdessen das fremde Mädchen in Bristol, das seinen Freund verloren hatte.

«Haben Sie Danny Shaw jemals kennengelernt, Mrs Eliot?» Das war Joe Ashworth, in angemessen respektvollem Ton.

«Nein, wieso sollte ich?» Schroff, fast schon unhöflich.

«Er ist nie hier gewesen, hat nie einen von Ihnen besucht?» Joe stellte die Frage jetzt offener, um auch Simon mit einzubeziehen.

«Natürlich nicht!» Veronica antwortete für beide.

«An dem Tag, an dem Jenny Lister ums Leben gekommen ist, hat nämlich jemand, auf den seine Beschreibung passt, nach dem Weg zu Ihrem Haus gefragt.»

Vera musste lächeln. Sie besaßen noch gar keine genaue Beschreibung von dem Kerl, der bei Connies Cottage gewesen war. Aber wenn Ashworth die Wahrheit ein wenig dehnen wollte, hatte sie bestimmt als Letzte etwas dagegen.

«Ich weiß ja nicht, von wem Sie diese Information haben, Sergeant, aber hier ist niemand gewesen.» Veronica, die Lippen fest aufeinandergepresst, war entschlossen, nicht klein beizugeben. Danny hätte an jenem Tag nackt bei ihr im Garten herumtanzen können, jetzt würde Veronica ihnen das nicht mehr sagen. Sie zählte zu den Menschen, die niemals zugaben, sich geirrt zu haben.

«Vielleicht kennen Sie ja Dannys Vater?» Vera hielt es für an der Zeit, eine neue Richtung einzuschlagen. «Derek Shaw. Er ist Bauunternehmer.»

«Von dem habe ich gehört.» Veronicas Antwort kam prompt und klang feindselig. «Ein schrecklicher Mensch. Er hat diese abscheuliche Siedlung am Rand von Effingham gebaut. Eine Freundin von mir besitzt dort ein Haus. Sie sagt, es ist jetzt nur noch die Hälfte wert.»

«Haben Sie je daran gedacht, den Grund neu zu erschließen, auf dem das Haus von Ihrem Großvater stand?», fragte Vera. «Das ist doch in der Nähe von Effingham. Greenhough – haben Sie nicht gesagt, dass das Anwesen so heißt? Das Land muss doch sogar in diesen schlechten Zeiten ein Vermögen wert sein.» Die Frage hatte sie beschäftigt, seit sie durch die Torpfosten mit den Kormoranköpfen geschritten war.

«Wir würden nie eine Baugenehmigung bekommen», schnauzte Veronica sie an. «Und so, wie es ist, gefällt es uns auch. Überhaupt, selbst wenn es möglich wäre, dort zu bauen, würde ich niemals Shaw damit beauftragen.»

«Er hat seinen Sohn verloren.» Simon sprach ganz leise, aber alle drehten die Köpfe zu ihm. «Was immer du auch von ihm halten magst, er hat ein Kind verloren.» Ging ihm der Verlust des Mannes wirklich nahe? Oder warnte er seine Mutter einfach nur, etwas taktvoller zu sein?

«Aber natürlich!» Und jetzt sahen Veronicas Züge wirklich gequält aus. «Es tut mir leid, Inspector, das war unverzeihlich herzlos von mir.»

 

Ashworth und Vera liefen langsam die Auffahrt hinunter. Vera bestand darauf, ins Café zu gehen und etwas zu frühstücken, bevor sie beim Cottage vorbeischauten. Die Essensgerüche in der Küche der Eliots hatten sie schier verrückt gemacht. Ehe sie nicht ein Brötchen mit Bacon intus hatte, würde sie sich nicht konzentrieren können. Das Café hatte noch nicht geöffnet, aber die Frau aus Yorkshire war schon da, hatte ein Einsehen mit ihnen und ließ sie herein.

«Das war Holly vorhin am Telefon», sagte Ashworth. Das hatte er eben schon erzählen wollen, aber Vera war nur noch auf etwas zu essen ausgewesen. «Es gibt was Wissenswertes über Veronica. Das könnte erklären, warum sie Connie Masters das Leben so schwer gemacht hat, als die hier ins Dorf gezogen ist.»

«Reden Sie.»

«Sie hat ein Kind verloren. Einen kleinen Jungen namens Patrick. Er ist im Fluss ertrunken. Hat unten im Sand in der Nähe von Connies Haus gespielt, ist unter die Brücke gelaufen und in den Fluss gefallen. Veronica war zwar da, aber Simon, der etwas älter war, auch. Er war auf die Straße gelaufen, und sie ist ihm hinterher, weil sie Angst hatte, er könnte in ein Auto rennen. Als sie wieder zurückkam, lag der Kleine mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Sie hat versucht, ihn wiederzubeleben, aber vergebens.»

«Die arme Frau.» Das ließ Vera erschüttert innehalten. «Die arme, arme Frau.» Vera versuchte, sich vorzustellen, was eine solche Schuld in einem anzurichten vermochte. Wie konnten die Eliots immer noch in dem Haus da wohnen, von dem aus sie jeden Tag den Ort sahen, an dem ihr Sohn ertrunken war? Die Erinnerung musste sich in Veronicas Seele gefressen und ihr für alle Ewigkeiten einen unsäglichen Schock versetzt haben. Ihre Erziehung hatte sie bestimmt davon abgehalten, sich Hilfe zu suchen. Psychologische Betreuung war für sie sicherlich keine Option. Und mit ihren Freundinnen besaufen konnte sie sich auch nicht. Es galt, Haltung zu bewahren; das Leben musste weitergehen. Oder hatte sich das am Ende als unmöglich herausgestellt?

Und dann war Connie Masters ins Dorf gezogen: noch eine Frau, die zugelassen hatte, dass ein Kind ertrinkt.

Und was hatte der Unfall in Simon angerichtet? In dem Sohn, der seine Mutter abgelenkt und damit indirekt den Tod seines Bruders verursacht hatte? Hatte man ihm je erzählt, welche Rolle er in der Tragödie gespielt hatte?

Vera merkte, dass sie den Tränen nahe war. Aber sie verspürte auch Erregung. Vielleicht war dies ja der ersehnte Durchbruch in dem Fall. Auch wenn Veronica Connie für Elias Jones’ Tod verantwortlich machte, gab sie vielleicht am Ende doch Jenny Lister die Schuld. Hatte sie, indem sie die Sozialarbeiterin umbrachte, eine Erlösung vom Trauma des Ertrinkungstods ihres eigenen Kindes gefunden?

Nein, dachte Vera. Das wirkliche Leben ist anders. Sie hatte noch nie viel von dem ganzen Psychogequatsche gehalten, und der Tod eines fremden Kindes machte eine Frau nicht zur Mörderin. Veronica hatte sicher immer nur daran gedacht, dass ihr eigener Sohn ertrunken war.

Dennoch spürte Vera, dass sie sich schrittchenweise auf eine Lösung zubewegte. Die Eliots verbargen etwas. Wenn Connie Masters Danny Shaw als den Mann identifizieren konnte, der beim Cottage gewesen war, hätten sie eine konkrete Verbindung zwischen Shaw und den Eliots hergestellt. Sie schluckte den letzten Bissen ihres Brötchens hinunter, nahm noch einen Schluck aus der Tasse, ließ einen Zehn-Pfund-Schein auf dem Tisch liegen und rannte fast aus dem Café. An der Tür blieb sie nur kurz stehen, um sicherzugehen, dass Ashworth ihr auch folgte.

Aber als sie bei Connie ankamen, lag das Cottage verlassen da, und Connies Wagen war auch weg. Sie klopften an die Tür, obwohl sie wussten, dass niemand aufmachen würde. Vera suchte unter dem Blumentopf neben dem Eingang. Kein zweiter Schlüssel. Sie ging ums Haus herum und rollte die Mülltonne beiseite, die gleich vor der Küche stand. Auf dem Boden lag ein Schlüssel, und sie schlossen auf und gingen hinein.

«Ist das legal, was wir hier tun?» Ashworth wusste, dass Vera sich nicht darum scherte, aber er wollte doch wenigstens darauf hingewiesen haben.

«Wir machen uns Sorgen, dass Connie etwas zugestoßen ist», sagte Vera im Brustton vorgeblicher Besorgnis. «Es ist unsere Pflicht, hier nach dem Rechten zu sehen.»

Im Haus sah es aus, als wäre Connie überstürzt aufgebrochen. In der Spüle standen schmutzige Schüsseln, und der Wasserkessel war noch warm. Die Betten im ersten Stock waren beide nicht gemacht.

«Vielleicht bringt sie die Kleine nur zur Spielgruppe?»

Ashworth schüttelte den Kopf. «Heute ist keine Gruppe.»

«Einkaufen?»

«Sie hat gewusst, dass wir mit den Fotos von Shaw und Morgan vorbeikommen wollen. Und sie hätte doch gesehen, dass unsere Autos draußen stehen.»

«Also ist sie weggelaufen», sagte Vera. «Aber wieso?»

Sie hob den Telefonhörer im Wohnzimmer ab und wählte die 1474, um zurückzuverfolgen, wer zuletzt hier angerufen hatte. Eine weibliche Stimme teilte ihr wie von weit entfernt mit, dass der Anrufer seine Nummer unterdrückt hatte.

«Vielleicht», sagte Vera und starrte auf den Fluss hinaus, in dem Patrick Eliot ertrunken war, «vielleicht hat jemand ihr ja solche Angst eingejagt, dass sie abgehauen ist.»