Kapitel Achtunddreißig
Auf der kurzen Fahrt vom Gewerbegebiet nach Barnard Bridge machte Vera den Mund nicht auf, außer um ein Telefongespräch entgegenzunehmen. Joe Ashworth glaubte, dass es der Kerl vom Sozialamt war, weil Vera ihn mit Craig anredete, doch er konnte nicht verstehen, worum es ging. Craig sprach, und Vera hörte zu, und das Gespräch dauerte die restliche Fahrt über. Sie hatten wieder Veras Land Rover genommen, was gegen sämtliche Vorschriften verstieß, weil der Wagen ungefähr hundert Jahre alt war und jeden Augenblick auseinanderbrechen konnte, aber falls die Straße überschwemmt wäre, kämen sie damit wenigstens durch. Die Fenster gingen nicht richtig zu, und der Motor war so laut, dass man das Gefühl hatte, in einem Panzer zu sitzen. Es stank nach Diesel und Abgasen.
Als sie die Kiesauffahrt der Eliots hochrollten, sagte sie schließlich etwas. «Sie halten hübsch den Mund da drin, ja? Und machen Sie sich Notizen. Ausführliche Notizen. Die werden wir vor Gericht noch brauchen.»
Sie hatten kaum an die Tür geklopft, da öffnete Veronica ihnen schon. Sie sah blass und angespannt aus, und Ashworth musste an das Foto denken, das Christopher Eliot ihnen in seinem Büro gezeigt hatte. Die Strenge war ganz aus ihrem Gesicht verschwunden, und sie war wieder eine verletzliche junge Frau. Sie trug eine Regenjacke und Gummistiefel.
«Bitte entschuldigen Sie, Inspector, aber ich wollte gerade los.»
«Wir müssen mit Ihnen reden.» Vera ging an ihr vorbei und in die Küche, als wäre es ihr Zuhause und nicht Veronicas. Ashworth ging hinterher. Als Veronica zögerte, blaffte Vera sie an: «Na los! Ich hab’s eilig.»
Dann saßen sie am Küchentisch, Vera und Veronica einander gegenüber, Ashworth am Kopfende, das Notizbuch diskret auf dem Schoß. Veronica ließ die Jacke von den Schultern gleiten, behielt die Gummistiefel aber an.
«Wo halten Sie Connie Masters versteckt?»
«Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.»
«Erzählen Sie mir keinen Scheiß, Lady. Man hat Connies Wagen auf dem Parkplatz vor der Firma Ihres Mannes gefunden. Ich will wissen, wo die beiden sind. Die Kleine muss doch schon total verängstigt sein.»
Veronica schwieg. Sie starrte mit überheblicher, unbeteiligter Miene in den Garten.
«Ich weiß, dass Sie den Nissan da abgestellt haben, und das kann ich auch beweisen, wenn’s sein muss. Wir rufen bei jedem Taxiunternehmen im Tyne Valley an, dann finden wir denjenigen schon, der Sie dort abgeholt und zurück nach Barnard Bridge gefahren hat. Ihren Mann konnten Sie ja schließlich nicht bitten, Sie mitzunehmen, oder? Der hätte am Ende noch Fragen gestellt.»
Die Frau schwieg immer noch beharrlich. Aber Ashworth sah, dass die weiße Hand, die auf dem Tisch lag, zitterte. Bald bricht sie zusammen, dachte er.
Vera beugte sich vor, und als sie wieder sprach, klang ihre Stimme völlig verändert. So leise, dass Ashworth am anderen Tischende sie kaum verstehen konnte. «Erzählen Sie mir von Ihrem Kind, Veronica. Von Ihrem ersten Kind. Erzählen Sie mir von Matilda.»
Veronica sagte keinen Ton, doch ihre Augen standen voller Tränen. Sie blinzelte, und die Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Ashworth fiel auf, dass sie nicht geschminkt war; vielleicht sah sie ja deshalb so verändert aus.
«Wie alt waren Sie, als Sie Matilda bekommen haben, Veronica? Das steht in den Akten. Den Akten vom Sozialamt. Ich kann es herauskriegen.»
Oh, das hat sie schon herausbekommen, dachte Ashworth. Darum ging’s also in dem Anruf eben.
«Fünfzehn», sagte Veronica. «Ich war fünfzehn.»
«Damals war es noch etwas anderes, wenn man als Teenager schwanger wurde, nicht wahr? Ein Makel. Vor allem für eine Familie wie Ihre. Erzählen Sie mir davon.»
«Der Vater des Kindes war älter als ich», sagte sie. «Mechaniker. Hatte ein großes Motorrad und Lederklamotten, und ich habe ihn für den tollsten Mann auf Erden gehalten. Ich habe ihm gesagt, ich wäre siebzehn, und als er dann herausfand, wie alt ich wirklich war, ist er ganz schön erschrocken.» Sie lachte so dünn und unsicher auf, dass Ashworth am liebsten geweint hätte. «Er wollte mich heiraten, sobald ich alt genug dazu war. Aber das kam für meine Familie natürlich nicht in Frage. Denken Sie nur, was das für eine Schande gewesen wäre.»
«Schlimm genug, dass sie ihr Vermögen verloren hatten», murmelte Vera. «Den guten Namen konnten sie jetzt nicht auch noch verlieren.»
«Wie auch immer», sagte Veronica, «es hätte sowieso nicht gehalten. Was das betrifft, hatten sie recht.» Einen Moment lang saßen sie schweigend da, und Ashworth konnte den angeschwollenen Fluss hören, der sich über die Felsblöcke wälzte und unter der Brücke schäumte.
Veronica sprach weiter, ihre Stimme war jetzt ganz ruhig. «Bis ich merkte, was los war, und den Mut fand, mit meinen Eltern zu sprechen, war es für eine Abtreibung schon zu spät. Ich musste das Kind bekommen. Alle waren furchtbar nett zu mir. Meine Eltern haben ihm die Schuld gegeben und hätten auch Anzeige bei der Polizei erstattet, aber dann hätten es alle erfahren, und den Gedanken konnten sie nicht ertragen. Sie haben mich behandelt wie eine Kranke. Als könnte ich keine eigenen Entscheidungen mehr treffen.»
«Und dann haben sie Sie zu Freunden oben an der Grenze zu Schottland geschickt.»
Veronica blickte hoch. «Das wissen Sie?»
«Christopher hat uns gesagt, dass Sie eine Zeitlang dort oben als Au-pair gearbeitet haben.»
Veronica schrak zusammen. «Christopher weiß nichts davon!»
«Vielleicht hätten Sie es ihm erzählen sollen», sagte Vera. «Vielleicht hätte es ihm ja nichts ausgemacht.»
Veronica schüttelte den Kopf.
«Nun denn», sagte Vera. «Geplant war jedenfalls, dass das Kind zur Adoption freigegeben werden sollte. Stimmt das?»
«Wenigstens haben mir alle gesagt, dass das das Beste wäre.»
«Aber Sie fanden das nicht.»
«Nach der Geburt habe ich nicht zugelassen, dass sie sie mir wegnehmen.» Über Veronicas Gesicht huschte ein Lächeln. «Damals war ich auch schon furchtbar stur. Ich habe sie bei mir behalten und gestillt. Ich habe mich ziemlich gut um sie gekümmert.»
«Aber am Ende haben Ihre Eltern Sie doch noch überredet?»
«Sie haben gesagt, es wäre das Beste für die Kleine. Es würde so viele Paare geben, die sich ein eigenes Kind wünschten. Vater und Mutter, die sich richtig um sie kümmern könnten. Und ich würde mein altes Leben zurückbekommen.»
«Aber sie ist nie adoptiert worden, oder? Man hat sie in Pflege gegeben, aber offiziell adoptiert worden ist sie nicht. Wieso nicht?»
«Es gibt da so ein Verfahren», sagte Veronica. «Das läuft übers Gericht. Da wird dann eine Betreuerin bestellt, die dafür sorgen soll, dass die Interessen des Kindes gewahrt werden. Eine Formalität. Im Normalfall.»
«In Ihrem Fall aber nicht?»
«Die Betreuerin ist zu uns nach Hause gekommen. Da war Matilda schon fast anderthalb. Weil ich mein Kind nicht sofort freigegeben hatte, war alles viel komplizierter geworden, und das Verfahren dauerte länger. Es war alles sehr unerfreulich. Matilda war bei einer Pflegefamilie untergebracht, die sie gern adoptiert hätte. Sie war ganz und gar nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte – die Betreuerin, meine ich. Ich hatte eine alte Gouvernante erwartet. ‹Betreuerin›, dabei musste ich ans Armenhaus denken. Aber es war eine ganz junge Frau. Eher in meinem Alter als in dem meiner Eltern. Sie hat die gleichen Klamotten angehabt wie ich. Sie war die Erste, mit der ich wirklich über meine Kleine reden konnte.»
Ashworth bemerkte, wie Vera verstohlen auf die Küchenuhr sah. Sie dachte an Connie Masters und deren Kleine, daran, wie die Zeit verstrich. Aber wenn man hörte, wie seine Chefin mit Veronica sprach, könnte man meinen, sie hätten alle Zeit der Welt.
«Und diese Betreuerin hat Sie dann auf den Gedanken gebracht, dass Sie selbst für Ihr Kind sorgen könnten?»
«Gar nicht mal. Sie hat mich gefragt, ob ich bereit wäre, das Formular zu unterzeichnen. Das Formular, mit dem ich einer Adoption zustimme. Als ich gezögert habe, hat sie mir erklärt, welche Möglichkeiten es sonst noch gibt. Wenn Matilda nur in Pflege gegeben wird und nicht adoptiert, hat sie gesagt, könnte ich mit ihr in Verbindung bleiben. Und vielleicht könnte ich sie dann sogar eines Tages zurückbekommen.»
«Also haben Sie sich geweigert, das Formular zu unterzeichnen. Ich wette, Ihre Eltern waren entzückt darüber …»
«Sie waren hellauf entsetzt und haben gesagt, das wäre das Selbstsüchtigste, was ich je in meinem Leben getan hätte.» Veronica sah Vera fest in die Augen. «Und natürlich hatten sie recht. Die Familie, bei der Matilda untergebracht war, hat die Unsicherheit, ob sie sie nun adoptieren können oder nicht, nicht ausgehalten. Sie haben sie woanders hingegeben. Als sie dreieinhalb war, habe ich die Einverständniserklärung unterzeichnet, aber da war es zu spät. Sie ist nie adoptiert worden. In ihrer ganzen Kindheit hat sie nie ein beständiges Zuhause gehabt. Und das war alles meine Schuld.»
«Wohl eher die Schuld dieser verdammt barmherzigen Sozialbetreuerin, die Ihnen ausgeredet hat, die Erklärung zu unterzeichnen!»
Ashworth dachte, dass seine Chefin nun ihre übliche Tirade gegen Sozialarbeiter vom Stapel lassen würde, doch es gelang ihr, sich zurückzuhalten.
«Matilda hat Sie doch besucht», sagte Vera stattdessen. «In der Zeit, als Sie mit der Entscheidung gekämpft haben. Sie erinnert sich daran.»
«Wirklich?», fragte Veronica, und Ashworth hätte nicht sagen können, ob diese Neuigkeit sie erschreckte oder erfreute. «Sie war noch so klein. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich erinnern würde. Ich weiß natürlich noch jede Einzelheit. Was sie anhatte, was sie gesagt hat. Sie war so klein. So niedlich. Und brav. Ein folgsames kleines Mädchen.»
So folgsam, dass sie später alles getan hat, was ihr die Männer befohlen haben, dachte Ashworth.
«Sie hat Jenny Lister von den Besuchen bei Ihnen erzählt», fuhr Vera fort. «Aber Jenny hatte ja sowieso Zugang zu den Akten. Sie muss gewusst haben, dass Sie Matties leibliche Mutter sind.»
«Der Gedanke daran war furchtbar für mich», sagte Veronica. «Ich habe immer erwartet, dass Jenny irgendwann was sagt. Ich dachte, sie würde es vielleicht Simon erzählen. Er weiß nicht, dass er eine Schwester hat.»
«Aber warum hätte sie was sagen sollen? Sie hat immer viel Wert auf Diskretion gelegt.» Vera machte eine kleine Pause und blickte die Frau an. Der Frage, die dann kam, schien sie sehr viel Bedeutung beizumessen. «Hat sie Ihnen erzählt, dass sie vorhatte, ein Buch zu schreiben?»
Es herrschte Stille. «Simon hat es irgendwann mal erwähnt», sagte Veronica schließlich. «Hannah hat ihm erzählt, dass ihre Mutter davon träumt, die Geschichten ihrer Schützlinge niederzuschreiben. Als ob das eine edle Tat wäre.»
«Wenn sie das Buch je geschrieben hätte, hätte sie natürlich andere Namen verwendet, aber die Menschen, die Ihnen nahestehen, hätten Sie vielleicht erkannt.» Vera sah der Frau direkt ins Gesicht. «Waren Sie deswegen so gegen die Verbindung zwischen Hannah und Simon? Weil Sie gedacht haben, Jenny könnte Ihr Geheimnis ausplaudern, wenn sie ihn zu oft sieht?»
«Elias Jones war mein Enkel», sagte Veronica. «Diese Frauen haben zugelassen, dass er ums Leben gekommen ist.»
«Sie haben zugelassen, dass Patrick ums Leben gekommen ist», sagte Vera mit ruhiger, sachlicher Stimme.
Veronica schwieg bestürzt; wieder drangen die Geräusche des ansteigenden Flusses ins Haus. Ashworth dachte an ein kleines Kind, das von den Fluten mitgerissen und von der Strömung gedreht wurde, bis es mit dem Gesicht unter Wasser war, und das dann den langen Weg bis ins Meer gespült wurde.
«Das war ein Unfall!» Nun weinte Veronica doch. «Das war etwas vollkommen anderes!»
«Ein Kind weggegeben», murmelte Vera, als hätte Veronica gar nichts gesagt, «und ein Kind verloren. Und das Kind, das Ihnen geblieben ist, hat sich in die Tochter Ihrer Feindin verliebt. Haben Sie das so gesehen?»
«Simon hätte was Besseres kriegen können», sagte Veronica. Aber die Antwort kam automatisch und hatte nichts zu bedeuten.
«Wo haben Sie Connie Masters hingebracht?», fragte Vera.
Veronica ignorierte die Frage. Es war, als würden beide Frauen kaum mitbekommen, was die jeweils andere sagte. Jede folgte ihrem eigenen Gedankengang, einem Monolog, der nur dann und wann unterbrochen wurde. Ashworth kam sich vor wie in einem dieser unverständlichen modernen Stücke im Live Theatre, in das seine Frau ihn manchmal zerrte. Zwei Gestalten, die redeten und redeten, ohne aufeinander einzugehen.
«Erinnert sich Matilda wirklich noch an ihre Besuche?» Veronicas Frage kam plötzlich, aus dem Nichts.
Diesmal antwortete Vera. «Aye, sie hat Jenny und Michael Morgan davon erzählt. Ich habe Morgan heute früh aufgesucht, um auszuschließen, dass ich mich irre. Die Besuche haben ihr viel bedeutet.»
«Woran kann sie sich denn noch erinnern?»
«An die Sozialarbeiterin, die sie zu Ihnen gefahren hat. Sie hat über ein Haus mit Beinen im Wasser gesprochen. Das ist das Bootshaus am See, oder? Auf dem Grundstück von dem Bild in Ihrer Eingangshalle. Greenhough.»
«Da haben wir uns immer getroffen», sagte Veronica. «Meine Eltern wollten sie nicht bei sich im Haus haben. Es war immer noch ein schmachvolles Geheimnis.» Sie blickte auf und stellte dann die allerwichtigste Frage. «Erinnert Matilda sich noch an mich?»
Aber Vera war schon aufgesprungen, in der Eile stolperte sie fast. «Und da haben Sie Connie und die Kleine hingebracht. Gott, ich bin ja so dämlich gewesen! Aber wieso? Haben Sie es nicht ertragen, die beiden glücklich zusammen zu sehen?» Dann schwieg sie plötzlich und blieb stehen, den Oberkörper noch der Frau zugedreht, wie eine wuchtige Statue aus Granit, und als sie dann wieder sprach, tat sie es ganz leise und wie zu sich selbst. «Aber nein, das ist es natürlich nicht gewesen.»
Auch Ashworth war aufgestanden. Er war sich nicht sicher, was Vera nun von ihm erwartete. Sollte er ihr folgen? Veronica Eliot verhaften? Die Kommissarin war jetzt schon in der Eingangshalle, an der Tür, und hielt den Schlüssel des Land Rovers in der Hand.
«Ich würde ihnen nie etwas antun», rief Veronica ihr hinterher. «Ich würde nie einem Kind etwas antun.» Doch ihre Stimme klang dünn und kaum überzeugend.
Ashworth ließ sie dort sitzen, wo sie war.