Niemand hört zu
Die Kommunikationsschwierigkeiten, unter denen unsere Konsumgesellschaft leidet und ohne die es keine zeitgenössische Dramatik gäbe, rühren angeblich daher, daß ein im Unterbewußtsein klaffender Abgrund die Menschen verhindert, sich miteinander zu verständigen, manchmal pausenlos, manchmal in drei Akten. Ich erlaube mir, eine wesentlich einfachere, auf persönliche Erfahrung gestützte Theorie vorzubringen, nämlich daß einer dem anderen nicht zuhört.
Was ich da entdeckt habe, geht - wie so manche bedeutende Entdeckung - auf einen Zufall zurück. Ich saß an einem Tisch des vor kurzem neu eröffneten Restaurants Martin & Maiglock und versuchte ein Steak zu bewältigen, das es an Zähigkeit getrost mit Golda Meir aufnehmen könnte. Von den beiden Inhabern beaufsichtigte Herr Martin den Küchenbetrieb, während Herr Maiglock gemessenen Schrittes im Lokal umherwandelte und jeden Gast mit ein paar höflichen Worten bedachte. So auch mich. Als er meinen Tisch passierte, beugte er sich vor und fragte:
»Alles in Ordnung, mein Herr? Wie ist das Steak?«
»Grauenhaft«, antwortete ich.
»Vielen Dank. Wir tun unser Bestes.« Maiglock setzte ein strahlendes Lächeln auf, verbeugte sich und trat an den nächsten Tisch.
Zuerst vermutete ich einen Fall von gestörtem Sensorium oder von Schwerhörigkeit, wurde jedoch alsbald eines anderen belehrt, und zwar in der Redaktion meiner Zeitung. Dort war gerade eine stürmische Debatte über das Wiederengagement eines kurz zuvor entlassenen Redakteurs namens Schapira im Gang. Sigi, der stellvertretende Chefredakteur, eilte mir entgegen und packte mich bei den Rockaufschlägen:
»Hab ich dir nicht gesagt, daß Schapira in spätestens drei Wochen zurückkommen wird? Hab ich dir das gesagt oder nicht?«
»Nein, du hast mir nichts dergleichen gesagt.«
»Also bitte!« Triumphierend wandte sich Sigi in die Runde. »Ihr hört es ja!«
Sie hören eben nicht, unsere lieben Mitmenschen. Das heißt: Sie hören zwar, aber nur das, was sie hören wollen. Der folgende Dialog ist längst nichts Außergewöhnliches mehr:
»Wie geht's?«
»Miserabel.«
»Freut mich, freut mich. Und die werte Familie?«
»Ich habe mit ihr gebrochen.«
»Das ist die Hauptsache. Hoffentlich sehen wir uns bald.«
Niemand hört zu. Ich erinnere nur an das letzte Fernsehinterview unseres Finanzministers.
»Herr Minister«, sagte der Reporter, »wie erklären Sie sich, daß trotz der gespannten Lage die israelischen Bürger ehrlich und ohne zu klagen ihre enormen Steuern bezahlen?«
»Mir ist dieses Problem sehr wohl bewußt«, antwortete der Minister. »Aber solange wir zu unseren Rüstungsausgaben gezwungen sind, ist an eine Steuersenkung leider nicht zu denken.«
Tatsächlich: Die Menschen können sich kaum noch miteinander verständigen. Sie reden aneinander vorbei, drücken auf einen Knopf und lassen den vorbereiteten Text abschnurren. Ein durchschnittlich gebildeter Papagei oder ein Magnetophonband täten die gleichen Dienste.
Vorige Woche suchte ich den kaufmännischen Direktor unserer Zeitung auf und verlangte, wie jeder andere auch, eine Erhöhung des monatlichen Betrages für meinen Wagen. Der Herr Direktor blätterte in den Papieren auf seinem Schreibtisch und fragte:
»Wie begründen Sie das?«
»Die Versicherung ist gestiegen«, erklärte ich. »Und außerdem ist nicht alles Gold, was glänzt. Nur Morgenstunde hat Gold im Munde. Eile mit Weile und mit den Wölfen heule.«
»Damit wird die Verlagsleitung nicht einverstanden sein«, lautete die Antwort. »Aber ich will sehen, was sich machen läßt. Fragen Sie Ende Oktober wieder nach.«
Niemand hört zu. Man könnte daraus ein anregendes Gesellschaftsspiel machen. Ich würde es den »Magnetophontest« nennen. Zum Beispiel trifft man einen unserer führenden Theaterkritiker und beginnt erregt auf ihn einzusprechen:
»Es gibt im Theaterbetrieb keine festen Regeln, Herr. Sie können ein Vermögen in ein neues Stück hineinstecken, können die teuersten Stars engagieren und für eine pompöse Ausstattung sorgen - trotzdem wird es ein entsetzlicher Durchfall. Umgekehrt kratzt eine Gruppe von talentierten jungen Leuten ein paar hundert Pfund zusammen, holt sich die Schauspieler aus einem Seminar, verzichtet auf Bühnenbilder, auf Kostüme, auf jedes sonstige Zubehör - und was ist das Resultat? Eine Katastrophe.«
»Ganz richtig«, stimmt der Kritiker begeistert zu. »Die jungen Leute haben eben Talent.«
Niemand hört zu. Wollen Sie sich selbst eine Bestätigung holen? Dann wenden Sie sich, wenn Sie nächstens beim Abendessen sitzen, mit schmeichelnder Stimme an Ihre Frau:
»Als ich nach Hause kam, Liebling, hatte ich keinen Appetit. Aber beim ersten Bissen deiner rumänischen Tschorba ist er mir restlos vergangen.«
Die also Angeredete wird hold erröten: »Wenn du willst, mein Schatz, mache ich dir jeden Tag eine Tschorba.«
Offenbar kommt es nicht auf den Inhalt des Gesagten an, sondern auf den Tonfall:
»Wie war die gestrige Premiere?«
»Zuerst habe ich mich ein wenig gelangweilt. Später wurde es unerträglich.«
»Fein. Ich werde mir Karten besorgen.«
Als ich unlängst auf dem Postamt zu tun hatte, trat ich dem Herrn, der in der Schlange hinter mir stand, aufs Hühnerauge. Ich drehte mich um und sah ihm fest in die Augen:
»Es war Absicht«, sagte ich.
»Macht nichts«, lautet die Antwort. »Das kann passieren.«
Niemand hört zu. Wirklich niemand. Erst gestern gab ich der Kindergärtnerin, die gegen das Temperament meines Töchterchens Renana etwas einzuwenden hatte, unzweideutig zu verstehen, was ich von ihr hielt:
»Liebes Fräulein«, schloß ich, »ein Lächeln meiner kleinen Tochter ist mir mehr wert als alle Übel der Welt.«
»Sie sind ein Affenvater«, sagte die Kindergärtnerin. Und da hatte sie zufällig recht.