Die vollkommene Ehe
Einer der bewundernswertesten Fehlschläge der Zivilisation ist die Einrichtung der Ehe. Ursprünglich um der Kinder willen geplant, nahm sie keinerlei Rücksicht auf die Interessen der Eltern, was zu unausweichlichen Zerwürfnissen zwischen den beiden Ehepartnern führte. Gewöhnlich beginnt das Unheil mit der Frage: »Was ist mir damals nur eingefallen?« und endet mit einem Toast auf eine lange, glückliche Scheidung. Nach Meinung mancher Experten besteht die einzige Möglichkeit einer erfolgreichen Ehe darin, sie nicht zu schließen.
Dies war, wenn auch weniger stilvoll formuliert, das Thema bei unserem jüngsten Partybesuch.
Wie das bei gesellschaftlichen Veranstaltungen mit intellektueller Schlagseite üblich ist, zogen sich die Damen in eine entgegengesetzte Ecke des Salons zurück, und wir Männer blieben für den Rest des Abends unter uns. Der Bogen unserer Gesprächsthemen reichte von den Problemen der Einkommensteuer bis zum »Letzten Tango in Paris«, bei dem wir uns ein wenig länger aufhielten, wahrscheinlich deshalb, weil die meisten Anwesenden im ungefähr gleichen Alter standen wie Marlon Brando.
»In diesem Alter«, bemerkte Ingenieur Glick, »kommt man als Mann nicht länger um die Erkenntnis herum, daß die Institution der Ehe eine Katastrophe ist.«
Wie eine sofort durchgeführte demoskopische Umfrage ergab, sind 85 Prozent aller Ehen schlecht, 11 Prozent schlechthin unerträglich, 3 Prozent gehen gerade noch an und von einer weiß man's nicht.
Wäre es möglich, so fragten wir uns, daß die Schuld an diesen deprimierenden Ziffern bei uns Männern läge? Die Ansichten divergierten. Jemand erzählte von seinem Wohnungsnachbarn, der seit 32 Jahren glücklich verheiratet sei, allerdings mit fünf Frauen hintereinander.
»Das ist keine Kunst.« Einer der bisher schweigsamen Gäste namens Gustav Schlesinger meldete sich zu Wort.
»Sich scheiden lassen und immer wieder eine andere heiraten - mit solchen Tricks kann man natürlich glücklich verheiratet sein. Aber nehmen Sie Ciarisse und mich. Wir leben seit zwanzig Jahren miteinander in vollkommen harmonischer Ehe.«
Alle starrten den gutaussehenden, eleganten, an den Schläfen schon ein wenig ergrauten Sprecher an.
»Nicht als wäre Ciarisse ein Himmelsgeschöpf«, fuhr er fort. »Oder als wären unsere Kinder keine ungezogenen Rangen. Nein, daran liegt es nicht. Sondern wir haben entdeckt, warum so viele Ehen auseinandergehen.«
»Warum? Was ist der Grund?« Von allen Seiten drangen die wißbegierigen Fragen auf ihn ein. »Erklären Sie sich deutlicher! Was ist es, weshalb die meisten Ehen scheitern?«
»Es sind Kleinigkeiten, meine Herren. Es sind die kleinen Dinge des Alltags, die täglichen Reibereien, die zwei miteinander verbundenen Menschen das Leben zur Hölle machen. Lassen Sie mich einige Beispiele anführen.
Ich möchte schlafen gehen - meine Frau möchte noch lesen. Ich erwache am Morgen frisch und tatendurstig -meine Frau fühlt sich müde und wünscht noch zu schlafen. Ich lese beim Frühstück gerne die Zeitung - meine Frau würde es vorziehen, mit mir zu plaudern. Ich esse gerne Radieschen - sie kann keinen Lärm vertragen. Ich gehe gerne spazieren - sie hört gerne Musik. Ich erwarte einen dringenden geschäftlichen Anruf aus New York - sie plappert stundenlang mit einer Freundin über das Dienstbotenproblem. Ich lege Wert darauf -« An dieser Stelle wurde er von mehreren Gästen unterbrochen:
»Keine Details, bitte. Wir wissen, was Sie meinen. Sie sprechen zu erfahrenen Ehegatten. Was ist die Lösung des Problems?«
»Die Lösung liegt im guten Willen der Beteiligten. Man muß die kleinen Gegensätzlichkeiten, wie sie sich unter Eheleuten zwangsläufig ergeben, im Geiste der Toleranz, der Güte, des wechselseitigen Verständnisses bewältigen. Ich erinnere mich an einen Abend, als Clarisse den von unserem heimischen Fernseher ausgestrahlten Tarzan-Film, ich hingegen im jordanischen Fernsehen die Darbietung der vermutlich auch Ihnen bekannten Bauchtänzerin Fatimah sehen wollte. Damals hätte es beinahe einen Krach gegeben. Aber dazu kam es nicht. Mitten in der Auseinandersetzung hielten wir plötzlich inne und begannen zu lachen. >Warum<, so fragten wir einander, >warum sollte jeder von uns nur seine eigenen Handtücher haben? Warum machen wir von dieser Methode nicht auch bei anderen Anlässen Gebrauch?< Und am nächsten Tag kaufte ich ein zweites Fernsehgerät für Ciarisse. Von da an waren alle Streitigkeiten über die Frage, welches Programm wir einschalten wollten, endgültig vorbei.«
Gustav Schlesinger machte eine Pause.
»Ist das alles?« wurde er gefragt.
»Nein, das war erst der Anfang. Nach und nach setzte sich dieses dualistische Prinzip auch für die anderen Aspekte unseres Zusammenlebens durch. Ich abonnierte je zwei Exemplare der von uns bevorzugten Zeitungen und Zeitschriften, wir hatten zwei Transistoren zu Hause, zwei Filmkameras, zwei Kinder. Ich schenkte Ciarisse einen Zweitwagen, um ihre Bewegungsfreiheit zu fördern, und wir vermauerten unseren Balkon, um für mich ein zweites Schlafzimmer daraus zu machen.«
»Aha!« Beinahe einstimmig brach der Kreis der Umstehenden in diesen Ruf aus. »Aha!«
»Kein Aha«, replizierte Schlesinger. »Im Gegenteil, unsere eheliche Beziehung erklomm einen neuen Gipfel, und der Erwerb eines zweiten Telefons beseitigte die letzte Möglichkeit einer Störung unserer Harmonie.«
»Aber all diese Dinge kosten doch eine Menge Geld?« lautete die jetzt an Schlesinger gerichtete Frage.
»Für eine glückliche Ehe darf kein Opfer zu groß sein. Mit etwas gutem Willen lassen sich auch die finanziellen Probleme bewältigen, die durch den guten Willen entstehen. So habe ich zum Beispiel ein Atelier im obersten Stockwerk unseres Hauses gemietet, obwohl ich dafür einen Bankkredit aufnehmen mußte.«
»Atelier? Was für ein Atelier?«
»Meines. Der umgebaute Balkon war zweifellos eine große Hilfe, aber es blieben immer noch ein paar kleinere Reibungsflächen übrig. Etwa das gemeinsame Badezimmer. Oder unsere Kleiderablage. Oder unsere Gespräche. Als Ciarisse in Erfahrung brachte, daß oben ein Atelier frei würde, war unser Entschluß sogleich gefaßt, und eine Woche später übersiedelte ich hinauf. Sie können sich nicht vorstellen, wie gut das unserer Ehe getan hat. Am Morgen brauchten wir einander nicht mehr mit gelangweilten Gesichtern gegenüberzusitzen, ich konnte Radieschen essen, soviel ich wollte, die Post wurde uns gesondert zugestellt -«
»Wie das?«
»Ciarisse hatte wieder ihren Mädchennamen angenommen. Damit begann eine der glücklichsten Perioden unserer Ehe. Aber nichts ist so gut, daß es sich nicht verbessern ließe. Nach wie vor mußte ich damit rechnen, meiner Frau im Stiegenhaus zu begegnen, wenn weder sie noch ich für ein solches Zusammentreffen in der richtigen psychologischen Verfassung wären. Auch der Lärm der Kinder könnte mich stören. Deshalb beschlossen wir meine Übersiedlung ans andere Ende der Stadt.«
»Und das hatte keine nachteiligen Auswirkungen auf Ihr Eheleben?«
»Sie meinen... «
»Ja.«
»Nun, schließlich gibt es ja noch Hotels. Auch im Kino begegneten wir einander dann und wann oder auf der Straße. Bei jeder solchen Gelegenheit winkten wir einander freundlich zu. Und was die Hauptsache war: Es bestanden keine Spannungen mehr zwischen uns. Darüber waren wir für alle Zeiten hinaus. Der einzige vielleicht noch mögliche Streitpunkt hätte sich im Zusammenhang mit den Kindern ergeben können. Aber auch hier fanden wir einen Ausweg. Als ich meinen Wohnsitz nach Jerusalem verlegte, nahm ich meinen Buben mit mir, und das Mädchen blieb bei Ciarisse. Ich kann Ihnen versichern, daß sich dieses Arrangement hervorragend bewährt hat.«
»Und Ihre Frau ist mit alledem zufrieden?«
»Sie ist entzückt. Die letzte Ansichtskarte, die sie mir im Sommer schrieb, war von echter Herzlichkeit getragen. Wir sind stolz, daß es uns gelungen ist, die Probleme unseres täglichen Zusammenlebens mit den Mitteln der Vernunft und des guten Willens aus der Welt zu schaffen. Deshalb möchte ich Ihnen einen Rat geben, meine Freunde: Bevor Sie mit der Idee einer Scheidung zu spielen beginnen, bevor Sie erwägen, aus dem Hafen der Ehe auszulaufen oder an irgendeine andere mondäne Lösung denken, sollten Sie eine gemeinsame Anstrengung unternehmen, die kleinen, unwesentlichen Schwierigkeiten, mit denen Sie es zu tun haben, im gegenseitigen Einverständnis zu beseitigen. Dann werden Sie eine ebenso glückliche Ehe führen wie ich.«
Gustav Schlesinger lehnte sich in seinen Sessel zurück und bot sich nicht ohne Selbstgefälligkeit unseren neidischen Blicken dar.
»Trotzdem«, sagte Ingenieur Glick. »Ich bleibe dabei, daß es mit dem ehelichen Zusammenleben in unserer Zeit nicht mehr richtig funktioniert. Ihr Fall ist eine Ausnahme.«