Wunschloses Neujahr
Die jüngsten Untersuchungen der Regierung haben ergeben, daß - von Heuschreckenplagen abgesehen - der größte Schaden für unsere Volkswirtschaft durch das hemmungslose Versenden von Neujahrskarten entsteht.
Der schwitzende, keuchende Postbote, der in jenen auch klimatisch höchst ungünstigen Morgenstunden tonnenschwere Säcke mit Drucksachen durch die Sanddünen unserer Städte schleppt, ist jedem Bürger ein wohlvertrauter Anblick. Daß die Herstellung dieser Drucksachen überdies einen beträchtlichen Teil unseres Nationalvermögens verschlingt und daß die Beseitigung der weggeworfenen Wunsch- und Grußkarten unsere öffentliche Müllabfuhr und andere sanitäre Dienste aufs schwerste gefährdet, sei nur der Vollständigkeit halber angeführt.
Statistischen Erhebungen zufolge nehmen 60 Prozent der Empfänger die ihnen zugedachten Wünsche überhaupt nicht zur Kenntnis, sondern werfen sie ungelesen in den Papierkorb. Weitere 30 Prozent tun nach einem flüchtigen Blick das gleiche. Die restlichen 10 Prozent der Befragten haben keine Meinung. Und selbst an der Zuverlässigkeit dieser Ziffern muß gezweifelt werden. Ein Geschäftsmann in Jaffa mit einer Versandquote von 400 Neujahrskarten antwortete auf die Frage, warum er so viele Karten verschickt habe:
»Hab ich? Ich kann mich nicht erinnern...«
Offensichtlich handelt es sich bei der ganzen Sache um eine automatische, sinnentleerte Gewohnheit, eine Art Reflexbewegung der Handmuskeln, die einem unkontrollierbaren inneren Antrieb gehorchen. Ein Hobby-Experte hat berechnet, daß die letzte Drucksachen-Serie von »Glück und Erfolg im Neuen Jahr« aneinandergereiht eine Hartpapierkette ergeben würde, die von Tel Aviv bis Bath Jam reicht, die Stadt zweimal umkreist und in einer Ambulanz nach Tel Aviv zurückkehrt.
Natürlich versuchen die Behörden diesem ökonomischen Unglück entgegenzuwirken:
»Mitbürger!« rief der Postminister in einem dramatischen Fernsehappell, »alle Israeli sind Brüder. Wir müssen uns das nicht jedes Jahr aufs neue durch die Post bestätigen. Die Regierung ist fest entschlossen, diesem Unfug ein Ende zu setzen.«
Eine bald darauf erlassene Verordnung begrenzte die glücklichen und erfolgreichen neuen Jahre auf fünf je Einwohner. Zuwiderhandelnden wurden Geldstrafen bis zu 1000 Shekel oder Gefängnisstrafen bis zu zwei Wochen angedroht. Die Einwohnerschaft kümmerte sich nicht darum. Allein in den beiden Vortagen des Neujahrsfestes brachen in Tel Aviv auf offener Straße 40 Briefträger zusammen, die Hälfte davon mit schweren Kreislaufstörungen und sechs mit Leistenbrüchen. Zwei mußten in geschlossene Anstalten überführt werden, wobei sie ununterbrochen »Glück und Erfolg... Glück und Erfolg...« vor sich hin murmelten.
Das Slonsky-Komitee, eine gemeinnützige Organisation zur Erforschung israelischer Charaktereigenschaften, machte die bemerkenswerte Entdeckung, daß viele Israeli den Regierungserlaß umgingen, indem sie ihre Glück- und Erfolgswünsche nicht als Drucksache, sondern als geschlossene Briefe verschickten, also lieber ein höheres Porto bezahlten, als auf Glück und Erfolg zu verzichten. Um die Kosten einzubringen, fügten sie zum vorgedruckten Glück und Erfolg noch handschriftlich Gesundheit, Frieden, guten Geschäftsgang und Gottes Segen hinzu, was weitere Zeitvergeudung und Verluste an Produktionsenergie mit sich brachte.
Als die Regierung ihre Gegenmaßnahmen verschärfte und gelegentliche Stichproben vorzunehmen begann, protestierte eine Gruppe israelischer Bürger beim Generalsekretär der Vereinten Nationen gegen diese Einschränkung der Gruß- und Wunschfreiheit, verlangte den sofortigen Rücktritt der Regierung und drohte mit der Aufdeckung von Mißständen im Verwaltungsapparat. Die Behörden ließen sich das nicht zweimal sagen und reagierten noch schärfer: In einem mit knapper Stimmenmehrheit durchgebrachten Ausnahmegesetz wurde die Versendung von Neujahrskarten überhaupt verboten und die Strafsätze auf Gefängnis bis zu zwei Jahren erhöht. Überdies wurden speziell ausgebildete Kontrolleinheiten ins Leben gerufen, die verdächtig aussehende Briefe öffnen sollten. Binnen kurzem wurden in Tel Aviv mehrere angesehene Bürger verhaftet, unter ihnen ein Versicherungsagent, der nicht weniger als 2600 Karten mit dem Text »Glück und Erfolg im Neuen Jahr innerhalb sicherer und international anerkannter Grenzen« verschickt hatte. Der Verteidiger des Angeklagten stellte sich vor Gericht auf den Standpunkt, daß es sich hier nicht um Neujahrskarten handle, sondern um ein politisches Pamphlet. Daraufhin trat die gesetzgebende Körperschaft abermals in Aktion und ergänzte das Wunschkartenverbot durch einen Zusatz, demzufolge die Worte »Glück«, »Erfolg«, »neu« und »Jahr« sowie ihre Derivate im Postverkehr mit sofortiger Wirkung untersagt wurden. Zu den interessantesten Versuchen, dieses Verbot zu umgehen, zählten die 520 Bar-Mizwah-Telegramme eines jungen Architekten in Haifa, die er mit »Jonas Neujahr, Präsident der Firma Glück & Wunsch« unterzeichnete.
Der Strafsatz für illegales Glückwünschen wurde auf 15 Jahre Gefängnis hinaufgesetzt, aber es half nichts. Eine Woche vor Neujahr entdeckte die Kontrolleinheit IV - sie galt als die tüchtigste von allen - ein Rundschreiben der »Landwirtschaftlichen Maschinenbau AG«, dessen letzter Satz den verdachterregenden Wortlaut hatte:
»Dieses Zirkular ist vor Kälte zu schützen.« Man hielt das Blatt über eine kleine Flamme, und zwischen den vorgedruckten Zeilen erschien in fetten Blockbuchstaben der landwirtschaftliche Text: »Möge die Stärke der Arbeiterklasse im neuen Jahr blühen und gedeihen und möge den Gewerkschaften Glück und Erfolg beschieden sein! Dies ist der aufrichtige Wunsch von Mirjam und Elchanan Gross, Ramat Gan.«
Die über das findige Ehepaar verhängte Freiheitsstrafe lautete auf acht Jahre Gefängnis, verschärft durch Fasten und hartes Lager an jedem Neujahrstag.
Für die Zeit von einem Monat vor bis zu einer Woche nach Neujahr wurden alle öffentlichen Briefkästen versiegelt und von Angehörigen einer eigens geschaffenen »WunschkartenMiliz« bewacht. Briefe wurden während dieser Zeit nur auf den Postämtern entgegengenommen, nachdem die befördernde Person sich durch ein amtliches Dokument (Paß, Identitätskarte, Führerschein) ausgewiesen und eine eidesstattliche Erklärung abgegeben hatte, daß die betreffende Postsendung keine wie immer gearteten Glück- oder Erfolgswünsche enthielt. Ertappte Gesetzesübertreter wurden sofort vor ein Schnellgericht gestellt.
Indessen konnten all diese Maßnahmen nicht verhindern, daß die Glückwunschrate im Vergleich zum Vorjahr um neun Prozent anstieg. Eine Fernseh-Ansprache des Wirtschaftsministers begann mit den Worten:
»Beinahe ein Drittel unseres Nationalproduktes... «
Der Bevölkerung hat sich wachsende Empörung bemächtigt. Panzerwagen patrouillieren in den Straßen der größeren Städte. Gerüchte wollen wissen, daß die Regierung ein Dringlichkeitsgesetz erwägt, das die Einführung von drei Schaltjahren hintereinander ohne Neujahrstag vorsieht. Die Situation spitzt sich zu. Es riecht nach Bürgerkrieg. In den Außenbezirken von Tel Aviv sind gelegentlich Schüsse zu hören. Da hat wieder irgend jemand versucht, einem Mitmenschen Glück und Erfolg zu wünschen.