Joe, der freundliche Straßenräuber

As ich vor ein paar Wochen zu Besuch nach New York kam und an der Wohnungstür meiner im Herzen des Broadway wohnhaften Tante Trude klingelte, erschienen nach längerer Pause zwei ängstliche Augen hinter dem Guckloch:

»Bist du allein?« fragte eine verschreckte Stimme. »Ist dir niemand nachgeschlichen?«

Nachdem ich Tantchen beruhigt hatte, drehte sie den Schlüssel zweimal um, schob drei Riegel zurück, entfernte die Vorhangkette und setzte vorübergehend die elektrische Alarmanlage außer Betrieb. Dann öffnete sie mit der einen Hand die Tür; in der anderen zitterte ein Revolver.

Da man erst kurz zuvor, wie mir Tante Trude unverzüglich berichtete, einen Bewohner des 17. Stockwerks erdrosselt aufgefunden hatte, beschlossen wir, daß ich für die Dauer meines zweiwöchigen Aufenthalts in New York das Haus überhaupt nicht verlassen würde«.

»Ich selbst war schon seit Monaten nicht mehr auf der Straße«, fuhr Tante Trude in ihrer Berichterstattung fort. »Es ist zu riskant. Man wird jetzt schon am hellichten Tag ermordet. Bevor man sich umdreht, hat man ein Messer im Rücken. Deshalb werden wir hübsch zu Hause bleiben und uns immer das beste Fernsehprogramm aussuchen. Außerdem werde ich dir sehr gute Sachen kochen.«

Wie sich zeigte, braucht man auch zum Einkaufen nicht mehr auszugehen. Alles wird ins Haus geliefert. Und selbst hier ist Vorsicht geboten. Als der Bote vom Supermarkt liefern kam, öffnete Tante Trude erst, nachdem sie sich durch telefonischen Rückruf vergewissert hatte, daß es wirklich der Bote vom Supermarkt war und nicht der Würger von Boston.

Trotzdem und dessen ungeachtet: Ich mußte meiner Frau eine Handtasche mitbringen. Nur unter dieser Bedingung hatte sie mir die Reise nach New York überhaupt gestattet. Eine Handtasche aus schwarzem Krokodilleder mit Spangenverschluß.

Drei Tage und drei Nächte hindurch hatte Tante Trude mich umzustimmen versucht: Das Lederwarengeschäft an der Ecke würde mir gerne eine größere Anzahl von Mustern heraufschicken. Aber ich blieb hart, und am vierten Tag machte ich mich auf den Weg.

Es war früher Vormittag, und die meisten New Yorker waren von den Rauschgiften, die sie während der Nacht zu sich genommen hatten, noch ein wenig benommen. So konnte ich ziemlich ungehindert die Häusermauern entlangschleichen und entging ohne sonderliche Mühe etlichen lallenden Alkoholikern, torkelnden Huren und sonstigen Großstadterscheinungen, die mir begegneten.

In guter Verfassung langte ich vor der Lederhandlung an. Hinter der versperrten, durch ein Gitter abgesicherten Glastüre erschien die Gestalt einer Verkäuferin, der ich durch die Höranlage mitteilte, wer ich war und von wo ich kam. Nach einem Kontrollanruf bei Tante Trude ließ sie mich ein.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich, »aber erst gestern wurde die Metallwarenhandlung gegenüber ausgeraubt und der Besitzer an die Wand genagelt.«

Ich gewann allmählich den Eindruck, daß es um die öffentliche Sicherheit in New York nicht zum besten bestellt sei, und wollte meine Besorgung möglichst rasch hinter mich bringen. Schon nach kurzem Suchen fand ich eine passende Krokodilledertasche. »Wir haben noch viel hübschere«, sagte die Verkäuferin und deutete auf ein Prachtstück mit goldenem Henkel in Form eines Krokodilrachens.

»Diese hier würde Ihnen ganz ausgezeichnet stehen.«

»Ich trage keine Handtaschen«, wies ich sie zurück. »Die Tasche ist für meine Frau.«

»Oh, Verzeihung. Es ist heute sehr schwer, einen Mann von einer Frau zu unterscheiden. Da Sie keine langen Haare tragen, habe ich Sie für eine Frau gehalten.«

Auf dem Heimweg geschah es.

Vor einem Pornographieladen, dem dritten hintereinander, an der Ecke der 43. Straße, pflanzte sich ein riesenhafter, salopp gekleideter Neger vor mir auf und hielt mir die geballte Faust unter die Nase:

»Geld her!« sagte er mit großer Bestimmtheit.

Zum Glück fiel mir in diesem Augenblick der Ratschlag eines israelischen Reiseführers ein: In gefährlichen Lagen empfiehlt es sich, hebräisch zu sprechen.

»Adoni«, begann ich in der altehrwürdigen Sprache unserer heiligen Bücher, »lassen Sie mich in Ruhe oder ich müßte zu drastischen Maßnahmen greifen. Sind Sie einverstanden?«

Mein Gegenüber glotzte aus aufgerissenen Augen und ließ mich ziehen.

Zu Hause erzählte ich Tante Trude von meinem Erlebnis. Sie erbleichte:

»Großer Gott«, flüsterte sie und hielt sich am Tischrand fest, um nicht in Ohnmacht zu fallen. »Hat man dir nicht gesagt, daß du dich niemals wehren darfst? Wenn einem an der Ecke der 43. Straße ein Neger den Weg vertritt, spricht man nicht, sondern man zahlt. Nächstes Mal gib ihm alles, was du bei dir hast. Oder noch besser: bleib zu Hause.«

Ich blieb nicht zu Hause. Unter dem Vorwand, meinen Rückflug bei der EI-AI buchen zu müssen, machte ich einen Spaziergang in verhältnismäßig frischer Luft und wieder zurück. Nur ein einziges Mal hielt ich inne, und zwar vor dem Aushängekasten eines Sex-Kinos, wo ich meine Erinnerungen an den Vorgang des Kindermachens auffrischte.

Seltsamerweise war es wieder die Ecke der 43. Straße, an der mir jener riesenhafte Neger entgegentrat. Diesmal packte er mich sofort an den Rockaufschlägen:

»Geld her!« fauchte er.

Ich fand mich blitzschnell zurecht, zog meine Brieftasche hervor und fragte nur ganz leise:

»Warum?«

Der riesenhafte Neger schob sein Gesicht so nahe an das meine, daß ich die von ihm bevorzugte Whiskymarke zu erkennen glaubte: »Warum? Warum, du weißes Schwein? Weil du ein weißes Schwein bist!«

Ringsum herrschte plötzlich gähnende Leere. Was es an Fußgängern gegeben hatte, war längst in den Haustoren verschwunden. In der Ferne entwichen zwei Polizisten auf Zehenspitzen. Wortlos drückte ich dem schwarzen Panther zwei Dollarnoten in die Hand, riß mich los und rannte nach Hause.

»Ich habe gezahlt!« jauchzte ich in Tante Trudes fragendes Gesicht. »Zwei Dollar!«

Tante Trude erbleichte auch diesmal: »Zwei Dollar? Du hast es gewagt, ihm zwei lumpige Dollar zu geben?«

»Ich hatte nicht mehr bei mir«, stotterte ich.

»Geh nie wieder aus, ohne mindestens fünf Dollar mitzunehmen. Der Kerl hätte dir die Kehle durchschneiden können. Wie groß war er?«

»Vielleicht ein Meter neunzig.«

»Nächstens nimm zehn Dollar mit.« Bei meinem folgenden Ausgang wurde ich schon an der Ecke der 40. Straße von einem unrasierten Zeitgenossen um eine einmalige Schenkung ersucht, mußte sie ihm jedoch verweigern:

»Bedaure, ich werde an der Ecke der 43. Straße überfallen.«

Er nahm meine Ablehnung zur Kenntnis. Auch in diesen Kreisen scheint ein Regulativ gegen Doppelbesteuerung zu gelten. Man zahlt entweder an der 40. oder an der 43. Straße, aber nicht zweimal.

An der 43. Straße angelangt, hielt ich nach meinem Neger Ausschau, aber er zeigte sich nicht. Das enttäuschte mich ein wenig, denn ich hatte für ihn eine fabrikneue Zehndollarnote vorbereitet. Ich begann die umliegenden Kneipen abzusuchen und fand ihn schließlich in einer Bar für lesbische Nudisten. Joe - so hieß er ja wohl - saß mit überkreuzten Beinen gegen die Wand gelehnt und begrüßte mich beinahe herzlich:

»He, weißes Schwein! Geld her! Aber diesmal etwas mehr!« Es reizte mich, mein Experiment fortzusetzen: »Leider hab ich nichts bei mir, Joe. Aber ich komme morgen wieder.«

Joe deutete mir durch ein stummes Nicken seine Zustimmung an. Ich betrachtete ihn etwas genauer. So riesenhaft war er gar nicht. Er war nicht größer als ich und hatte viel weniger Zähne im Mund. Ich winkte ihm zu und ging.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde gerade eine hysterisch kreischende Frauensperson vergewaltigt, während die Passanten in den Haustoren verschwanden. Ich pries mich glücklich, einem so zurückhaltenden Charakter wie Joe begegnet zu sein.

»Ephraim«, sagte meine Tante Trude ein paar Tage später, »du mußt deinen Neger aufsuchen, sonst kommt er uns noch ins Haus. Man kennt diesen Typ.«

Ich faltete einen mürben Fünfzigdollarschein zusammen, steckte ihn zu mir und begab mich zum Rendezvous in die 43. Straße. Niemand belästigte mich unterwegs, auch die Zuhälter faßten nicht nach meinem Arm. Alle wußten, daß ich Stammkunde des schwarzen Joe war. Joe erwartete mich in einem Restaurant mit Oben-ohne-Service:

»Hallo, weißes Schwein. Hast du das Moos gebracht?«

»Ja«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

»Her damit, weißes Schwein.«

»Einen Augenblick«, protestierte ich. »Ist das ein Raubüberfall oder bist du auf eine bestimmte Summe aus?« »Weißes Schwein, ich brauche 25 Dollar.«

»Ich habe aber nur eine Fünfzigdollarnote bei mir.« Joe nahm den Schein an sich, torkelte in eine nebenan gelegene Haschisch-Kneipe, die als Bordell für Liebhaber von Ziegenböcken getarnt war, und kam nach einer Weile mit 25 Dollar Wechselgeld zurück. Jetzt war mir endgültig klar, daß ich in ihm einen fairen Partner gefunden hatte. Ich fragte ihn, ob ich vielleicht ein Abonnement bei ihm nehmen könnte. Mit wöchentlichen Zahlungen, wenn's ihm recht wäre.

Joes Auffassungsvermögen kam da nicht mehr ganz mit. »Weißes Schwein«, sagte er, »ich bin jeden Tag hier.«

Ich bat ihn um seine Telefonnummer, aber er hatte keine. Statt dessen zeigte er mir ein leicht verfärbtes Messer - ob die Verfärbung von Blut oder von Rost herrührte, konnte ich in der Eile nicht feststellen - und verzog sein Gesicht zu einer Art Lächeln, das die bräunlichen Restbestände seiner Zähne sichtbar machte. Er war eigentlich ganz nett, dieser Joe. Kein Großunternehmer, ein kleiner, freundlicher Straßenräuber, vielleicht 1,65 m groß, nicht mehr jung, aber von wohlgelaunter Wesensart.

Am Tag meiner Abreise begleitete mich Tante Trude zu ihrer verbarrikadierten Wohnungstür. Sie weinte unaufhörlich in Gedanken daran, daß ich jetzt wieder in den unsicheren Nahen Osten zurückkehren müßte, wo von überallher Gefahren drohten.

Ich schreibe diese Zeilen im sonnendurchglühten Garten meines Hauses in Tel Aviv. So ungern ich es eingestehe: Joe fehlt mir. Wir hatten uns so gut miteinander verstanden. Vielleicht wären wir mit der Zeit richtige Freunde geworden. Ob manchmal auch er, zwischen Haschisch und Oben-ohne, an sein kleines weißes Schweinchen denkt? Wohl kaum. Nicht jeder ist so romantisch veranlagt wie ich.