Schallplatten ohne Schall
Einem alten jüdischen Brauchtum folgend, kaufte ich zu Chanukah - unserem Lichterfest zur Erinnerung an das achttägige Wunder des Öllämpchens im zurückeroberten Tempel - alljährlich eine Langspielplatte. Es ist schön, am feiertäglich zugerichteten Tisch zu sitzen und eine neue Langspielplatte zu hören. Es ist ein kleines Wunder für sich.
Und es hält genauso lange vor wie das große: Nach acht Tagen haben wir die Platte restlos satt und begraben sie bei den anderen, die wir satt haben und nie mehr hören wollen.
So kann ich jedes Jahr zu Chanukah eine neue Platte kaufen, und dazu schickte ich mich auch diesmal wieder an.
Die gewaltige Anzahl der inzwischen auf den Markt geworfenen Produkte ließ mich erbleichen.
»Entschuldigen Sie«, wandte ich mich an eine der Verkäuferinnen, ein anmutiges junges Mädchen, und wies auf einen Plattenumschlag, der unter dem Titel »Gezwitscher aus dem Wienerwald« ein anmutiges junges Mädchen auf einer Waldlichtung zeigte. »Was ist das?«
»Das ist eine Originalaufnahme aus dem Wienerwald«, antwortete das anmutige Mädchen hinter dem Verkaufspult. »Hauptsächlich für Städter, die zu Hause gerne ein wenig Vogelgezwitscher hören möchten. Eine volle Stunde Zirpen und Zwitschern, Stereo. Wollen Sie es haben?«
»Eigentlich nicht«, gab ich zurück. »Mir genügt das Zirpen und Zwitschern meines Töchterchens Renana.«
Eine weitere Durchsicht des aufgehäuften Materials förderte immer unwahrscheinlichere Extreme zutage. Das Feld der klassischen Musik mit all seinen Langspiel-Opern, Symphonien, Ouvertüren und Oratorien ist ja längst abgegrast, Jazz, Beat und Pop haben ihre Ein-Stunden-Schuldigkeit getan, Chöre, Sängerknaben, Wunderkinder und liturgische Gesänge sind von Tanz- und Gymnastikplatten abgelöst worden. Jetzt hält man bei Bestsellern in Prosa und bei den großen Dramen der Weltliteratur.
»Vielleicht wollen Sie zu Hause den Hamlet spielen?« fragte das anmutige Mädchen. »Wir haben gerade die einstündige Langspielaufnahme der Old-Vic-Produktion hereinbekommen. Eine interessante Novität: Hamlets Text ist ausgespart, so daß ihn der Zuhörer selbst sprechen kann, und die größten englischen Schauspieler antworten ihm auf Stichwort...«
»Vielen Dank«, sagte ich. »Ich suche eine Platte für meine Frau.«
»Leider«, sagte die Anmutige. »Eine Ophelia-Ausführung haben wir nicht.«
Wir gingen durch die weiteren Vorräte und stießen auf eine »Rede des amerikanischen Präsidenten in Ostberlin«, »Yehudi Menuhin liest das Alte Testament« und »OriginalTonaufnahmen von der Rennbahn in Ascot«.
»Halt - haben Sie vielleicht das Fußballmatch England gegen Ungarn?«
»Bedaure. Ausverkauft.«
Das anmutige Mädchen schlug mir eine Trappistenplatte vor: »Stille im Kloster von Grace de Dieu«. Ich log ihr vor, daß wir diese Platte schon hätten. Und die Langspielplatte »Beatles essen Peanuts« war zwar angekündigt, aber noch nicht ausgeliefert.
Chanukah kam immer näher. Ich mußte eine Entscheidung treffen und entschied mich für etwas Politisches:
»George Shultz denkt bei Harfenbegleitung nach«.