Gips muß man haben

Die folgende Geschichte begann an einem Morgen gegen Ende September, nicht lange vor Ausbruch des Jom-KippurKriegs. Ihr Held - in des Wortes anrüchigster Bedeutung - ist Ing. Glick. Er verließ an jenem Morgen sein Haus in tiefen Gedanken über die herrschende Zementknappheit, denn Ing. Glick ist im Bauwesen tätig. Seine Gedanken nahmen ihn so sehr in Anspruch, daß er nicht auf den Weg achtgab und in den Graben fiel, der vom Magistrat, Abteilung Straßenbau, vor seinem Haus ausgeschaufelt worden war, um später einmal in einen Abflußkanal umgewandelt zu werden.

Ing. Glick brach sich das linke Bein an zwei Stellen oberhalb des Knöchels. Man brachte ihn ins Krankenhaus, wo er die beste Pflege erfuhr und in der zweiten Oktoberhälfte wieder entlassen wurde. Er trug einen Gipsverband über dem linken Bein und ging auf Krücken, aber er ging.

Während seines Spitalaufenthaltes hatte sich im Nahen Osten wieder einiges an kriegerischen Auseinandersetzungen abgespielt.

Kaum hatte Ing. Glick im Fond des Taxis, das ihn nach Hause bringen sollte, Platz genommen, als der Fahrer sich zu ihm umwandte und teilnahmsvoll fragte:

»Wo ist es passiert? Oben oder unten?«

»Zwei Stellen oberhalb des Knöchels.«

»Das meine ich nicht. Ich meine: oben auf den Golan-Höhen oder unten am Suez?«

Schon wollte Ing. Glick antworten, daß er in der Hajarden-Straße in Tel Aviv verwundet worden sei - da obsiegte seine tief verwurzelte Abneigung gegen Gespräche aus der Intimsphäre; er begnügte sich mit den Worten:

»Sprechen wir nicht darüber. Was soll's.«

Der Fahrer schwieg respektvoll. Erst als sie in der Hajarden-Straße angekommen waren, erlaubte er sich die Bemerkung: »Kerle wie Sie sind die Stütze der Nation!«

Für die Fahrt nahm er keinen Pfennig, hingegen half er seinem Fahrgast aus dem Wagen und geleitete ihn bis zum Haustor, das er fürsorglich öffnete.

Damit begann das Gips-Festival des Ing. Glick.

Wenn er in einen Laden humpelte, wurde er sofort bedient, die Kellner im Restaurant lasen ihm seine Wünsche von den Augen ab, die Angestellten öffentlicher Dienste umsorgten ihn mit der Hilfsbereitschaft einer Privatkrankenschwester. Jedermann hatte das Bedürfnis, den Dank der Nation oder wenigstens einen kleinen Teil davon an ihn abzustatten, jedermann empfand es als persönliche Beleidigung, wenn er für etwas Gekauftes oder Geleistetes zahlen wollte.

Nach einiger Zeit hatte sich Ing. Glick an diesen Zustand gewöhnt. Schwierigkeiten entstanden nur noch dann, wenn die Rede darauf kam, wo er sich seine Verletzung zugezogen hatte. Glick, ein ehrenwerter Charakter und der Lüge abhold, reagierte auf allzu detaillierte Fragen nach der syrischen oder ägyptischen Herkunft seiner Wunde in der Regel mit einem müden Lächeln, das ungefähr besagen wollte: »Es gibt Dinge, die ein Mann lieber vergißt.« Manchmal verstand er sich auch zu verbalen Abwehrversuchen wie: »Ach, lassen Sie doch« oder: »Wozu darüber reden«.

Ende November tauschte er die Krücken gegen einen Stock aus, aber der weiße Gipsverband leuchtete in alter Pracht vom Knöchel aufwärts und verschaffte ihm beim Philharmonischen Konzert einen selbst für ihn überraschenden Empfang. Glick war erst knapp vor Beginn eingetroffen und humpelte den Mittelgang entlang, als das Publikum plötzlich wie ein Mann aufstand und ihm eine donnernde Ovation bereitete. Errötend ließ er diesen Ausbruch nationaler Begeisterung über sich ergehen und dankte mit einem Winken seiner freien Hand. Nach Schluß des Konzerts fand er sich von Autobesitzern umringt, die um die Ehre stritten, ihn nach Hause bringen zu dürfen. Nachdem der Gewinner ihn im Wagen verstaut hatte, streckte Glick sein Gipsbein aus und entdeckte auf dem Verband eine Aufschrift, die sein Sitznachbar in der Dunkelheit hingekritzelt haben mußte:

»Das Volk steht tief in Ihrer Schuld. Wir danken Ihnen.« Allmählich begann die Erinnerung an den Hergang der Dinge in Glicks Gedächtnis zu verschwimmen. Als ein populärer Schlagersänger, der ihn in einer Hotelhalle sitzen sah, sich vor ihm aufpflanzte und gratis drei Lieder zum besten gab, konnte Glick nur mit Mühe ein Schluchzen unterdrücken und murmelte vor sich hin:

»Es war die Mühe wert... und ich täte es wieder...«

Auch für die Anschaffung von Eiern, die in jener Zeit zu den schwer erhältlichen Konsumgütern gehörten, sorgte der Gipsverband, indem er einen anonymen Spender auf den Plan rief. Jeden Montag läutete eine freundliche alte Dame an Ing. Glicks Türe, übergab ihm einen Korb voll frischer Eier und flüsterte unter Tränen:

»Gott segne Sie, junger Mann!«

Dann wandte sie sich ab und entzog sich mit raschen Schritten seinem Dank. Nur einmal blieb sie etwas länger stehen, nahm all ihren Mut zusammen und fragte:

»Wo wurden Sie verwundet, mein lieber Junge?«

Und Ing. Glick antwortete:

»Am Kanal.«

Damit war sowohl der Wahrheit wie den patriotischen Bedürfnissen der Spenderin Genüge getan.

Ing. Glick erwägt, auch nach der endgültigen Heilung seines Knöchels den Gipsverband noch ein paar Monate lang zu tragen. Am liebsten behielte er ihn für alle Ewigkeit. Oder gar bis zum Abschluß eines Friedensvertrags.