regen
11.21 Uhr nachts
25
„Kannst du ihn noch schmecken?“
„Entspann dich.“ Melissa schüttelte den Kopf. „Er ist in die Division abgebogen.“
Jonathan beschleunigte wieder, sah aber trotzdem noch einmal in den Rückspiegel. Entspannung schien ihm im Moment nicht gerade angesagt. Überall in der Stadt wimmelte es von Bullen, die hinter Halloweenvandalen her waren und sämtlichen Kids Ausgangsverbot erteilen würden, die nach ihrem Rundgang länger aufbleiben wollten. Und natürlich würde das Polizeirevier für sein Leben gern die Diebe finden, die all die Feuerwerkskörper geklaut hatten, bevor das Zeug Verwendung fand.
Der Umstand, dass sich in Jonathans Kofferraum ungefähr die halbe Kollektion aus Krachern, Rauchbomben, Feuerrädern, Wunderkerzen und Raketen aller Art befand, trug keinesfalls zu seiner Entspannung bei.
„Sag mir einfach Bescheid, wenn er wieder unsere Richtung einschlägt.“
„Mach dir wegen der Bullen keine Sorgen. Ich kann die Prolls aus einer Meile Entfernung schmecken.“
Er beugte sich vor, um zum stürmischen Himmel hochzusehen. Ein Blitz beleuchtete die Wolken von innen. „Was glaubst du, was aus dem Regen wird?“
„Unwetter im Allgemeinen und im Besonderen, Jonathan, denken nicht. Ich habe also keine Ahnung.“
Er gab einen kurzen Lacher von sich, ganz sicher war er sich nicht, ob das ein Witz sein sollte. Melissa zählte sonst nicht zu seinen liebsten Reisebegleitern, aber heute war er froh, sie bei sich zu haben. Er war zu nervös, um allein zu fahren, vor allem, da die Polizei hinter dem Inhalt seines Kofferraums herjagte.
„Total aufgeregt wegen heute Nacht?“, fragte sie.
„Nervös.“
Jetzt musste Melissa lachen. „Jonathan, ich weiß, dass du das hier nicht so sehr fürchtest.“
Er seufzte. Es hatte keinen Sinn, einer Gedankenleserin etwas vorzumachen. Die vorherige Nacht war ein einziger langer Flugtraum gewesen, eine aufregende Übung im Geist.
Jonathan zuckte mit den Schultern. „Ist mal was anderes.“
„Das ist es, was ich an Bixby mag: Immer wieder mal was anderes.“
„Was ist mit dir?“, fragte er. „Ein ganzer Tag ohne … wie nennst du das? Gedankenlärm? Ist das kein Traum für dich?“
„Sollte man meinen, nicht wahr?“, sagte Melissa. „Aber während der Riss größer wird, werden all die anderen Hirne geschluckt, die unsere Midnight verseuchen. Ehrlich gesagt, Flyboy, mir wäre es am liebsten, wenn die geheime Stunde für immer nur für uns fünf bleiben würde.“
„Hm“, sagte Jonathan leise. So hatte er das noch nicht betrachtet: Zusätzlich zu Tod und Zerstörung würde aus der Midnight etwas Öffentliches werden, etwas weniger Besonderes. „Mir auch.“
Sie bogen in Jessicas Straße ein, fünf Minuten zu früh.
Sie stand schon draußen und rannte auf das Auto zu, riss die Tür auf, noch bevor der Wagen zum Stehen gekommen war. Sie ließ sich auf den Rücksitz fallen und sagte: „Okay.
Fahr los.“
„Entspann dich, Jess“, sagte er. „Wir sind zu früh.“
„Ich muss früh da draußen sein, okay?“
Einen Augenblick lang fragte sich Jonathan, was sie meinte, aber dann, langsam aber sicher, wurde ihm die einzig mögliche Erklärung bewusst.
„Beth?“
„Fahr einfach.“
„Hat sie dir heute Abend Schwierigkeiten gemacht?“ Jonathan schüttelte den Kopf. „Das macht nichts, okay? Bis morgen die Sonne aufgeht, haben tausend Leute die blaue Zeit selbst gesehen. Es gibt kein Geheimnis mehr!“
„Das weiß ich alles.“ Ihre Stimme klang angespannt, ängstlich. „Wir müssen aber losfahren. Beth ist in Schwierigkeiten.“
Er legte den Gang ein und scherte auf die Mitte der Fahrbahn aus. „Ist sie etwa immer noch da draußen unterwegs?“
„Viel schlimmer. Sie ist in Jenks.“
„Was?“
„Sie übernachtet bei Cassie Flinders.“
Melissa griff sich mit einer Hand an den Kopf. „Leute … “
Jonathans Augen weiteten sich. „Das ist aber doch direkt neben dem Riss!“
„Weiß ich!“, heulte Jessica.
„Leute!“, sagte Melissa, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. „Beruhigt eure Gedanken!“
Jonathan hielt an der nächsten Ampel an, sah in beide Richtungen und dann in den Rückspiegel, versuchte, ruhig zu denken, entspannende Gedanken … was nicht ging.
„Links abbiegen“, flüsterte Melissa plötzlich. „Nicht auf die Ampel warten.“
Jonathan riss das Lenkrad herum, trat aufs Gas und peitschte den Wagen auf die Kerr Street.
„Er hat uns gesehen. Er kennt dein Auto … “ Sie zuckte.
„Scheiße. Es ist St. Claire.“
Sheriff Clancy St. Claire – Jonathans Fingerknöchel am Lenkrad wurden weiß, als er an die grinsende Fratze des Gesetzeshüters dachte. Der Sheriff konnte Jonathans Wagen auf eine Meile erkennen.
„Welche Richtung?“, fauchte er.
Melissa schüttelte den Kopf. „Weiß noch nicht. Kann keine anderen Wagen spüren, aber er meldet uns über Funk.“
Jonathan holte mit zusammengebissenen Zähnen Luft. Sie hatten nicht viel Zeit, um St. Claire zu entkommen. Bald würde sich noch ein Streifenwagen in die Jagd einschalten und dann noch einer – Bixbys Polizei gab sich nicht mit halben Sachen ab. Bis die Midnight anrollte, würden sie sich alle in Handschellen meilenweit von ihren Positionen entfernt aufhalten. Absolut unfähig, Beth oder sonst irgendwem zu helfen.
„Festhalten“, sagte er, trat das Gaspedal bis zum Boden durch und raste die Kerr Street hinunter. Wenige Sekunden später tauchten Blinklichter in seinem Rückspiegel auf, und eine Sirene heulte durch die Nacht.
„Oh nein“, sagte Jessica leise. Jonathan fiel ein, dass sie direkt nach ihrer Ankunft in Bixby von den Bullen nach Hause gebracht worden war – ein Teil ihrer Einführung in die Risiken der mitternächtlichen Stunde.
„Keine Sorge, Jess. Wir werden ankommen.“ Wieder riss Jonathan das Lenkrad herum, bog in eine kleine Wohnstraße mit dem Namen Mallard ein und hoffte, dass keine Halloweenbummler mehr unterwegs waren. Glücklicherweise hatte er Jessicas Stadtteil so oft aus der Vogelperspektive gesehen, dass er sich perfekt auskannte. Die Mallard schlängelte sich Richtung Innenstadt, dann gabelte sie sich eine Meile vor dem Highway. Wenn er nur vor der Gabelung ankam, bevor Clancy ihn wieder ins Blickfeld bekam, dann hatten sie eine Fünfzig-fünfzig-Chance, davonzukommen. Und das war besser als nichts.
Sie schlingerten die kurvenreiche Straße entlang, rasten durch enge Passagen zwischen parkenden Autos hindurch.
Jonathan musste sich dazu zwingen, den Blick nach vorn zu richten, statt ständig den Rückspiegel zu kontrollieren.
Dann flog etwas mit einem Klatschen gegen die Windschutzscheibe, und Jonathan spürte, wie ihm das Lenkrad durch die Finger glitt. Reifen quietschten kurz auf, bis er den Wagen wieder unter Kontrolle bekam.
„Was war das?“, rief Jessica.
„Ich weiß nicht … “, hob Jonathan an, dann sah er, wie ein Dreieck aus gelblichem Zeug an seiner Windschutzscheibe aufwärtslief und sich ausbreitete, während der Wind es weiterschob. Ein kleines, weißes Teilchen klebte an der Masse, flatterte einen Moment, dann wurde es weggerissen.
„Bloß Kids“, sagte Melissa. „Und ich glaube, sie haben auch noch ein paar Eier für St. Clancys Karre.“
Blitze zuckten in der Ferne und beleuchteten die Masse, während sie über die Scheibe kroch.
Sie hatten die Gabelung erreicht, und Jonathan hielt sich links. Eine Meile weiter lag der Highway, der sie nach Jenks führen würde.
„Warte! Stopp!“, rief Melissa plötzlich.
„Was soll ich?“
„Anhalten und parken! Clancys Verstärkung ist gerade in diese Straße eingebogen. Sie sind direkt vor uns!“
Jonathan stemmte seinen Fuß auf die Bremse, sodass die Reifen quietschten. Er stellte das Auto hinter einem Camper ab und schaltete Licht und Motor aus.
„Was machst du da?“, schrie Jessica ihn von hinten an. „Wir können hier nicht einfach rumsitzen!“
„Wir sitzen nicht einfach rum, Jess!“, fauchte Melissa. „Wir verstecken uns!“
„Ist schon gut, Jess. Wir werden ankommen.“ Jonathan hoffte, dass dies keine leere Versprechung war. Er ließ sich unter das Lenkrad gleiten, mit einer Hand umklammerte er den pendelnden Zündschlüssel. Er fragte sich, wie schnell er den Motor wieder anlassen könnte, falls der andere Bulle seinen Wagen erkannte.
Wenn sie allerdings hinter ihm hielten, wären sie hier hinter dem Camper eingekeilt …
„Da sind sie“, flüsterte Melissa, die an der Beifahrertür kauerte.
Jonathan hörte, wie die Reifen vorbeisausten, und lauschte dem Geräusch, als sie langsamer wurden. Kein Licht blinkte auf, keine Sirene heulte, und der Wagen verschwand allmählich in der Ferne.
„Sie sind weg“, sagte Melissa. „Und Clancy hat die andere Straße genommen. Er glaubt, jetzt hat er uns.“
Jonathan gab einen Stoßseufzer der Erleichterung von sich.
Als er sich aber wieder zu seinem Sitz hinaufzog, rutschte ihm das Herz in die Hose.
Ein paar Regentropfen hatten bereits die Windschutzscheibe gesprenkelt. Er sah zu, wie sie anfingen, stetiger zu fallen, das Eigelb abwuschen und die zuckenden Blitze wie hundert glühende Augen einfingen.
Donner grollte noch einmal, diesmal direkt über ihren Köpfen.
Er sah auf seine Uhr. Sie hatten immer noch Zeit, Jenks zu erreichen, aber bis Mitternacht würde es in Strömen regnen.
„Genau die richtige Nacht für ein Feuerwerk“, sagte er, ließ den Motor wieder an und legte den Gang ein.