gedankenleser
10.30 Uhr abends
20
„Gib mir noch eine Chance, Loverboy, bitte.“
Rex antwortete nicht und stieg, ohne zu zögern, weiter die Stufen zum Dachboden hinauf. Seine Miene hatte sich nicht verändert, als ob er ihr Flehen gar nicht gehört hätte. Sie hatte auch nicht erwartet, dass er sich mit ihr zusammensetzen würde, um darüber zu plaudern. Seit der Nacht in der Wüste hatte Rex für die anderen eine normale Fassade aufgebaut, aber bei Melissa ließ er häufiger seine nicht so menschliche Seite durchblicken.
Sogar hier, in Madeleines Haus, konnte Melissa die Darklingseite in ihm schmecken, trocken wie ein Mund voller Kreidestaub, der ihre Zunge austrocknete. Man könnte genauso gut mit dem Wüstensand reden, statt an diesen Teil seines Ichs zu appellieren.
Aber hier ging es um Rex, trotz allem. So leicht würde sie nicht aufgeben.
Melissa stürzte hinter ihm her, die Stufen hinauf, bis sie sein Fußgelenk von unten packen konnte. Sie krallte sich mit ihren Nägeln am Hosenbein seiner Jeans fest und brachte ihn mit aller Kraft zum Stehen.
„Jetzt warte doch, Rex!“
Er drehte sich um und sah sie ausdruckslos an. Seine Augen blitzen unheimlich. Seit Neustem schienen sie das Licht des dunklen Mondes irgendwie auch in der normalen Zeit einzufangen.
Seine Lippen entblößten seine Zähne, und einen entsetzlichen Moment lang glaubte Melissa, sie wäre zu weit gegangen.
Er würde sich ein für alle Mal in ein Monster verwandeln, sie gleich hier verschlingen und ihre Knochen auf Madeleines Treppe zum Dachboden zurücklassen.
Aber dann verzog sich sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
„Was ist los, Cowgirl?“, fragte er. „Eifersüchtig?“
„Warte nur eine Minute, Rex. Bitte!“
Er sah auf seinen gefesselten Stiefel hinab und hob eine Augenbraue.
Melissa ließ sein Fußgelenk los, als ihr auffiel, dass sie fast auf den Stufen kniete, wie eine Betrunkene, die ins Bett zu kriechen versuchte. Sie holte tief Luft, um sich zu sammeln, und wandte sich von Rex ab, während sie sich auf der Treppe niederließ. Dann zeigte sie mit einem schwarzen Fingernagel auf den Platz neben sich.
Nach einer nervenaufreibenden Pause, weil seine weltälteste Freundin im Umgang offensichtlich so schwierig war, knarrte die Treppe beim Absteigen unter seinem Gewicht. Er setzte sich neben sie.
„Ich bin nicht eifersüchtig auf Madeleine“, sagte sie. „Das warst du bisher, erinnerst du dich?“
„Unbedingt.“
Melissa schnaubte. „Freut mich zu hören. Ich fänd’s ätzend, wenn du die Eifersucht hinter dir gelassen hättest. Das ist anscheinend das Einzige, was alle gut können. Alle außer mir natürlich.“
„Natürlich.“
„Hier geht’s aber nicht um mich. Hier geht es um uns.“ Melissa zuckte unter ihren eigenen Worten zusammen und sah zu ihm auf. Seine Augen sahen wenigstens wieder normal aus.
Sie spürte ein ungutes Gefühl im Bauch, wie sie es an den Mädels der Bixby Highschool so oft geschmeckt hatte, jene saure Paranoia, ihre Freunde könnten das Interesse an ihnen verlieren. Melissa hatte sie immer unter der Rubrik blöde und verachtenswert abgebucht. Nie war ihr aufgefallen, dass Ablehnung so wehtat.
Natürlich musste es unangenehm werden, wenn sich der eigene Freund in ein anderes Wesen verwandelte.
Sie nahm seine Hand, und sein Geschmack strömte in sie hinein. Sie konzentrierte sich auf die Oberfläche seines Geistes
– die beständigen, beruhigenden Denkschemata von Rex Greene. In all den Jahren, in denen sie nicht fähig gewesen war, ihn zu berühren, waren seine Sicherheit und sein Seherfokus etwas gewesen, woran sie sich halten konnte. Der alte Rex war immer noch dadrin.
Natürlich wurde jener andere Teil durch diese Vertrautheit umso beunruhigender. Wie konnte sich unter so viel Trost und Sicherheit so viel Finsternis verbergen?
„Lass es mich noch einmal versuchen.“
„Wir haben es schon versucht. Es ist zwecklos.“ Er hob die Schultern. „Und wer weiß? Vielleicht kommt Madeleine auch nicht in mich hinein. Es ist aber schon eine Woche her. Ich will nicht, dass das, was ich von den Darklingen bekommen habe, verblasst, bevor sie Gelegenheit hatte, es sich anzusehen.“
„Glaub mir, Rex. Es geht nicht weg.“ Sein schwarzer Kern war solide wie Teer.
„Aber klarer wird es auch nicht, Cowgirl, egal wie oft wir es versuchen. Wir brauchen Madeleines Hilfe. Es sind nur noch sechzehn Tage bis Samhain.“
Statt einer Antwort schob sich Melissa tiefer in ihn hinein und ließ ihre Gedanken über die menschliche Oberfläche seines Geistes streifen.
Diesmal versuchte sie nicht, den finsteren Kern in der Mitte zu knacken. Rex hatte vielleicht recht: Was die Darklinge auch hinterlassen hatten, war so unmenschlich, dass sie es nicht erreichen konnte. Stattdessen bot Melissa ihr eigenes Erinnerungsreservoir an, das akkumulierte Erbe, das über Generationen von einer Hand in die andere weitergereicht worden war.
Bevor er zum Dachboden hinaufsteigen würde, musste Rex wissen, wozu Gedankenleser fähig waren.
Melissa nahm Rex mit an einen Ort im Zentrum dieser Erinnerungen, zu einem Erlebnis, das Gedankenleser seit den alten Zeiten geteilt hatten. Vor langer Zeit, noch bevor die ersten spanischen Siedler in Oklahoma eingetroffen waren, lange vor den Anglos und den Stämmen aus dem Osten, hatte es eine Versammlung gegeben. Gedankenleser mehrerer Stämme waren an einem Feuer zusammengekommen, um Bilder von ihren weiten Reisen zu tauschen – von den ruhigen Gewässern im Golf von Mexiko im Osten, aus dem Norden, wo sich die Rockies erhoben; einer war bis zum Grand Canyon gereist. Seit jenem ersten Treffen waren jene Erinnerungen mehr geworden, mehr Bilder waren aufeinandergestapelt worden, die von einer Generation zur nächsten wanderten. Es war, als ob auf jener Versammlung fast tausend Gedankenleser zusammengekommen wären: all jene, die nach Bixby gekommen und ihr Talent entdeckt hatten, bis das Ganze schließlich seinen Weg zu Melissa gefunden hatte.
„Toll“, sagte er, nachdem er das Bild eine Weile in sich aufgenommen hatte.
„Und kein Funken von Schuldgefühlen“, sagte Melissa leise.
„Wie meinst du das?“
„Keiner von denen hat Gedankenlesen für schlecht gehalten, Rex. Von all den unzähligen Geistern hat niemand gedacht, dass Nachteile damit verbunden wären.“
Rex entzog seine Hand und schüttelte den Kopf, um klare Gedanken zu fassen. „Willst du damit sagen, es stimmt nicht, was Angie sagt? Dass die Grayfoots sie irgendwie zum Narren gehalten haben?“
„Nein.“ Melissa blickte über ihre Schulter die Treppe hinauf, um sicherzugehen, dass sich Madeleine außer Hörweite befand. „Seit Angie uns ihren kleinen Vortrag gehalten hat, habe ich die Erinnerungen nach solchen Dingen durchgeforstet – Zerstörung von Menschen, Veränderungen an Gehirnen aus Profitgier, Massenmanipulationen. Ich habe aber nichts gefunden.“ Sie trommelte mit den Fingern auf ihren Knien.
„Aber aus irgendeinem Grund glaube ich trotzdem, dass sie die Wahrheit sagt. Ergibt das irgendeinen Sinn?“
Rex nickte. „Vielleicht haben sie eine bereinigte Fassung weitergegeben.“
„Was sie weitergegeben haben, zeugt von einer unglaublichen Selbstgefälligkeit. Sie haben nie infrage gestellt, was sie taten. Ich glaube nicht, dass sie es infrage stellen konnten. “
„Wie meinst du das?“
Sie griff wieder nach seiner Hand und zeigte ihm eine unangenehme Erinnerung, die erst wenige Wochen alt war – den Moment, in dem sie Dess gegen ihren Willen berührt und ihr das Geheimnis von Madeleines Existenz entrissen hatte. Melissa zwang sich, bei Dess zu verweilen, der die alte Gedankenleserin den Verstand blockiert und mühelos verbogen hatte, um ihr Wissen zu verbergen. Und wie Melissa es aufgerissen hatte.
Als sie spürte, wie Rex ein eisiger Schauder überlief, ließ sie seine Hand los.
„Warum hast du mir das gezeigt?“, fragte er.
„Weil du dir merken musst, wozu wir fähig sind“, sagte sie.
„Gedankenlesen beeinflusst nicht nur gewöhnliche Leute.
Man kann es auch gegen andere Midnighter einsetzen.“
„Ich weiß.“ Seine Augen verengten sich. „Aber was hat das mit der Geschichte von Bixby zu tun?“
Sie sah zu ihm auf. „Bevor wir fünf Waisen aufgetaucht sind, wuchsen Midnighter in einer Umgebung von Gedankenlesern auf, die bei jedem Händedruck Gedanken austauschten. Wenn es aber nicht nur Neuigkeiten und Erinnerungen waren, die sie weitergaben? Wenn sie Glaubensrichtungen weitergegeben haben? Und wenn sie irgendwann gemeinsam beschlossen haben, dass Gedankenleser nie etwas Böses getan haben?“
„Zu glauben beschlossen haben?“
Melissa rückte näher, redete jetzt leiser, weil sie sich die alte Frau vorstellte, wie sie oben gleich hinter der nächsten Ecke lauschte. Melissa hatte sich Madeleines Haus für dieses Gespräch mit Rex aus einem einfachen Grund ausgesucht: Innerhalb dieser temporalen Kontorsion konnten ihre Gedanken nicht abgehört werden.
„Im Laufe der Jahrhunderte“, hob sie an, „fingen Midnighter an zu glauben, dass alles, was sie taten, in Ordnung wäre, genau wie Leute, die Sklaven hielten, sich für ,gute Herren‘
hielten. Im Unterschied zur Sklaverei hat aber von außen nie jemand infrage gestellt, was die Midnighter in Bixby vorhatten. Alles war geheim, und wann immer Zweifel auftauchten, waren Gedankenleser zugegen, um sie zu zerschlagen. Das war wie bei einer Cheerleadertruppe, die durch die Highschool zieht, wobei alle das Gleiche denken, das Gleiche reden und sich für den Mittelpunkt der Erde halten … und zwar über Jahrtausende. “
Sie sah ihm in die Augen, in der Hoffung, dass er das begreifen würde.
„Bis wir gekommen sind“, sagte Rex.
„Genau. Wir unterscheiden uns mehr von unseren Vorgängern, als wir dachten, Rex. Vielleicht haben sie all die bösen Taten begangen, aber sie wussten nicht, dass sie Böses taten.
Sie konnten es nicht wissen.“
„Madeleine hast du nach all dem noch nicht gefragt?“
Melissa schüttelte den Kopf. „Unmöglich. Ich habe mich noch nicht von ihr berühren lassen, seit Angie ihre kleine Ansprache gehalten hat.“
Rex lächelte leise. „Bist du jetzt also ein Fan von Angie geworden?“
„Nicht ganz, aber ihr gelingt genau das, was die meisten Schaumschläger auszeichnet: Sie sorgt dafür, dass ich mir viel besser vorkomme.“
„Weil du noch nie jemanden gekidnappt hast?“
„Oh nein, viel besser als das.“ Sie legte ihre Hände aneinander und hoffte, dass diese Erkenntnis immer noch einen Sinn ergab, wenn sie sie laut ausgesprochen hatte. „Madeleine sagt immer, dass aus mir nie ein richtiger Gedankenleser wird – ich hätte zu spät angefangen. Diese Erinnerungen sind für mich nur Fragmente, aber für sie sind sie wie wirkliche Leute.“ Melissa schüttelte den Kopf. „Wenn das aber eine gute Sache ist, dass ich nie indoktriniert worden bin? Was ist, wenn ich gar nicht der erste verrückte Gedankenleser in der Geschichte bin, Rex? Wenn ich der erste normale bin?“
„Normal … “, sagte er. So ganz hatte er noch nicht verstanden.
Melissa bedrängte ihn weiter. „Denn egal wie bescheuert ich sein mag, egal was ich mit deinem Dad angestellt habe, ich kann wenigstens erkennen, dass es nicht cool ist, wenn man über Jahrhunderte in den Hirnen von den Einwohnern einer ganzen Stadt herumpfuscht.“
Er nahm ihre Hand, und Melissas Gedanken, die in wirren Worten aus ihr herausgepurzelt waren, schienen sich bei seiner Berührung zu ordnen. Sie flossen in ihn hinein, zusammen mit dem einen, den sie nicht laut ausgesprochen hatte.
Das mit deinem Vater tut mir leid, Rex.
„Du hast mich vor ihm gerettet, so gut du konntest“, antwortete er.
Melissa wandte den Blick ab, mit aufgewühlten Gefühlen.
Scham über ihre Vergangenheit, Sorge, sie könnte Rex bereits an die Darklinge verloren haben, Angst, was Madeleine mit seinem Verstand anstellen mochte – all das quetschte sich in eine einzige Träne. Die rollte ihre Wange hinab wie ein Tropfen Säure.
Rex saß nachdenklich da, dann sagte er schließlich: „Ich glaube, du hast recht. Für Madeleine wird meine neue Sichtweise der Geschichte … eine Herausforderung sein.“
„Dann lass mich mit dir gehen, Rex. Mir ist es egal, dass du in letzter Zeit ein Scheißdarkling warst. Du brauchst meinen Schutz.“
Er lächelte wieder, und sie sah einen violetten Funken in der Tiefe seiner Augen. „Du hast keine Ahnung, was ich bin.“
Sie gab einen kurzen, gepressten Lacher von sich. „Mir egal, Rex. Selbst wenn du ein Monster bist, will ich dich nicht an sie verlieren. Und glaub mir, diese ganzen gruseligen kleinen Gedankenleser in ihrem Hirn würden alles tun, um dich kleinzukriegen.“
Unvermittelt beugte er sich vor und küsste sie – zum ersten Mal seit Mittwochnacht trafen sich ihre Lippen. Er schmeckte bitter und ein bisschen wie sehr dunkle Schokolade.
Wirklich erschrocken stellte sie aber fest, dass sie nirgendwo in ihm Furcht schmecken konnte.
„Wir werden sehen“, sagte er. „Komm schon, Cowgirl. Sie wartet auf uns.“
Madeleine saß in ihrer gewohnten Ecke auf dem Dachboden, umringt von Teeutensilien. „Ihr beiden zusammen, nicht wahr?“
„Vielleicht kann ich helfen“, sagte Melissa.
Die alte Gedankenleserin sah sie missgünstig an, schickte sie aber nicht weg. Wie Rex hatte auch sie keine Angst.
„Nun, dann nehmt Platz, ihr beiden. Der Tee wird kalt. Zu meiner Zeit ließen junge Leute ihre Angehörigen nicht warten.“
Je mehr ich über deine Zeit erfahre, dachte Melissa, desto erfreuter bin ich, dass die Grayfoots dahergekommen sind.
Rex und sie ließen sich in der Ecke nieder, zu dritt bildeten sie ein Dreieck um das Teeservice. Melissa hatte das noch nie zuvor getan – zwei Midnighter gleichzeitig an den Händen gehalten – sie wusste aber aus ihrem Erinnerungsfundus, dass Gedankenleserzirkel früher oft praktiziert wurden.
Kein Wunder, dass sie alle das Gleiche dachten. All diese Geister, die aufeinander abgestimmt waren und sich in ihrem Glauben gegenseitig bestärkten – hätte man denen noch ein paar Pompoms in die Hände gedrückt, dann wäre das genau wie bei den Eröffnungsfeiern an der Bixby Highschool gewesen, nur ohne jemanden, der sich in den Ecken rumdrückt, um heimlich zu rauchen.
Melissa nippte an ihrem Tee. Der war tatsächlich kalt geworden, was den bitteren Geschmack noch stärker als üblich hervortreten ließ.
„Was du letzte Woche getan hast, war sehr gefährlich, Rex“, tadelte Madeleine. „Ich habe dich von dieser Stelle aus genau beobachtet. Niemand hat etwas Derartiges bislang überlebt.“
„Wir hatten sonst niemanden, an den wir uns wenden konnten“, sagte er.
„Ich habe mich in den vergangenen sechzehn Jahren sehr angestrengt, um dich am Leben zu erhalten, Rex. Du hättest diese ganzen Bemühungen in wenigen Minuten zunichtemachen können.“
Melissa holte tief Luft. In ihren Übungssitzungen hatte Madeleine sie unermüdlich daran erinnert, warum sie und Dess erschaffen worden waren – um Rex zu helfen, dem einzigen natürlichen Midnighter in der jüngsten Geschichte von Bixby.
Die alte Gedankenleserin hatte unzählige Mütter in den Wehen vorsichtig manipuliert, um dafür zu sorgen, dass Babys genau um Mitternacht zur Welt kamen. Und all das, um für Rex ein Aufgebot zu schaffen, das er führen konnte, wie es jedem ordentlichen Seher zustand.
Melissa verstand jetzt nur zu gut, was sie alle fünf in Wirklichkeit waren: Madeleines Versuch, jenes Bixby ihrer Jugend wieder auferstehen zu lassen, ein Paradies für Midnighter …
auf Kosten aller anderen.
„Ich lebe immer noch“, sagte Rex mit tonloser Stimme. Die menschliche Nachgiebigkeit, die er sich auf den Stufen erlaubt hatte, war wieder verschwunden.
„Sie hätten dich fressen können“, sagte Madeleine.
„Die Wesen, mit denen ich gesprochen habe, fressen kein Fleisch“, sagte er. „Sie fressen Albträume.“
Sie zog eine Augenbraue hoch.
„Mich hätten sie aber sowieso nicht gefressen. Ich rieche wie sie.“ Rex lächelte der alten Gedankenleserin boshaft zu. Er musste genau wissen, wie sehr sie das kränkte, dachte Melissa, dass ihr kleiner Seher von der Finsternis infiziert worden ist.
In Madeleines Gesicht zuckte es. „Du schmeckst von Tag zu Tag mehr wie sie. Aber glaubst du wirklich, sie würden dir irgendetwas Brauchbares erzählen? Warum sollten sie das tun?“
„Die Darklinge haben mir nichts erzählt“, antwortete er.
„Sie teilen ihre Gedanken auf natürliche Weise, wie Tiere, die aufheulen, wenn sie Beute wittern. Sie wissen das, Madeleine.
Sie hören sie ständig denken.“
„Falls man das Denken nennen kann.“ Sie verzog das Gesicht, als ob ihre Geschmacksknospen nach fünfzig Jahren endlich mitgekriegt hätten, wie bitter ihr Tee schmeckte.
„Nun, dann wollen wir mal sehen, ob mir dein kleines Experiment außer einer gerade noch abgewendeten Herzattacke irgendetwas eingebracht hat.“
Sie streckte beide Hände mit den Handflächen nach oben aus.
Melissa fing Rex’ Blick auf, und zuerst fassten sie sich an den Händen und warteten kurz, bis ihre Verbindung stabil war. Melissas Herz hämmerte. Sie erinnerte sich an jene Gedankenleserversammlung vor langer Zeit, und obwohl sie sicher wusste, dass diese Erinnerung Teil einer großen Lüge war – einer Propaganda, wie Angie gesagt hatte –, wunderte sie sich über die beruhigende Wirkung jener alten, an einem Feuer geteilten Bilder.
Als in ihrem Geist Ruhe eingekehrt war, spürte sie, wie sie aus Rex’ finsterer Sicherheit Stärke zog. Was die Horde alter Gedankenleser in Madeleine für sie beide auch auf Lager haben mochten, sie würden sich dem gemeinsam stellen.
„Macht schon, trödelt nicht herum“, keifte Madeleine.
In völligem Gleichklang hoben sie ihre freien Hände, damit sie sie ergreifen konnte, um den Kreis zu schließen.
Während Madeleine sich sammelte, verwandelte sie sich in eine Geisterversammlung.
Wie üblich wurde Melissa von Ehrfurcht über deren Ausmaß ergriffen: Erinnerungen, die sich als schemenhafte Bilder bis in die Eiszeit zurück erstreckten, als man einen Monat gen Norden wandern musste, um die Gletscher zu erreichen.
Zehntausend Jahre Geschichte, hunderte von Generationen, Gedankenleser zu tausenden.
Sie drückte Rex’ Hand. Im Angesicht dieser akkumulierten Gedankenmasse war sie froh, sein finsteres Wesen neben sich zu spüren.
„Was haben sie dir angetan?“, murmelte Madeleine. Sie versuchte sich an der schwarzen Sphäre seiner Darklinghälfte, suchte auf dieser glatten Oberfläche nach einem Angriffspunkt. Als sich die neugierigen Finger ihres Geistes niederließen, zuckte Rex’ Hand in Melissas.
„Es ist zu deinem Besten“, murmelte die alte Frau. Ihre Konzentration wurde tiefer, ihr rasselnder Atem langsamer in Melissas Ohren.
Es dauerte eine ganze Weile, dann schwoll Rex’ innere Finsternis an, wie etwas Bösartiges und Schweres, das allmählich zu einem Geschwür wurde. Wieder zuckten die Muskeln seiner Finger in ihrer Hand, ein trockener Geschmack keimte in seinen Denkstrukturen auf.
Mit geschlossenen Augen beobachtete Melissa die Veränderungen, die in ihm vorgingen, und fragte sich, ob Madeleine wirklich wusste, was sie tat. Melissa konnte die Arroganz unter den vielen Erinnerungen schmecken, deren Sicherheit, mit der sie tatsächlich alles und jeden zu kontrollieren glaubten. Jemandem wie Rex waren sie allerdings noch nie begegnet.
Dann lief bitteres Metall in ihrem Mund zusammen, wie alte Pennys auf der Zunge.
In Rex’ Gedächtnis hatte sich eine Naht geöffnet, sein Darklingkern begann zu beben und an der Oberfläche zu reißen.
Melissa schmeckte Madeleines Befriedigung.
Rex gab einen schmerzerfüllten Laut von sich.
Melissa schickte ihm beruhigende Gedanken, aber Madeleine wehrte sie ab. Du weißt nicht, was du tust, Mädchen. Bleib weg.
Die alte Gedankenleserin wandte sich wieder an Rex, drängender, und die Finsternis in ihm begann sich zu teilen – ein schwarzer, sternförmiger Schacht ergoss sich über der geistigen Landschaft, aus dem Farbe blutete, wie die Farbe des dunklen Mondes. Bilder eines altertümlichen Samhain flossen aus seinen Gedanken: maskierte Menschen, die Viehknochen aufhäufen und anzünden, Feuer, meilenweit über die Landschaft verteilt, aus denen Schlachtgestank aufsteigt. Melissa verspürte bei dem Geruch ein Hungergefühl und erkannte, dass dies die Reaktion eines Darklings war. Bald wurde sie gierig, spürte den Jagdruf, den Wunsch zu töten.
Scheusal, flüsterte die Gedankenhorde.
Sie meinten Rex – Seher und Darkling in einem. Er entsetzte sie.
Madeleine wurde dreister, ihr Geist quetschte sich in die Risse von Rex’ Darklinghälfte. Er stieß einen kurzen Schrei aus, und seine Fingernägel gruben sich in Melissas Handfläche.
„Halt!“, flüsterte Melissa rau. „Sie tun ihm weh.“
Scheusal, fauchten tausend Stimmen. Die Erinnerungen der Gedankenleserin hatten etwas wie ihn nie zuvor gesehen. Er musste bezwungen, kontrolliert werden.
Aber die Finsternis in Rex wurde nur größer, schwoll an zu einer riesigen Sturmwolke in Melissas Kopf, der mehr Visionen entströmten: Bixby, wie es die Alten vor fünfzig Jahren gesehen hatten, ein geistiges, glitzerndes Mitternachtsspinnennetz über der Wüste. In den Augen der Darklinge war die Stadt ein infizierter Organismus, ein Parasit, dessen Tentakel in jede Faser seines Wirtes krochen – Gedankenleser, die sich leise vorarbeiten, Gehorsam über die Stadt verbreiten und sich ohne jeden Zweifel für die natürlichen Herrscher halten.
Sogar die Darklinge wissen, wer du bist, dachte Melissa.
Madeleine schluckte vernehmlich, als die Gedankenhorde in ihr wütete, weil sie ihr Spiegelbild in Rex’ Erinnerung erkannten. Er war ein Scheusal, und seine Gedanken waren ein Affront gegen eine zehntausend Jahre alte Geschichte.
Er musste vernichtet werden.
Madeleine durchfuhr ein Schauder des Entsetzens bei dem Gedanken, trotzdem konnte sie sich nicht entziehen. Sie konnte nicht gegen den Strom schwimmen.
„Nein“, flüsterte Melissa. Egozentrische Schwachköpfe!
Sie ignorierten sie. Sie wollte ihre Augen öffnen, nach den Händen von Madeleine und Rex greifen, um sie zu trennen, aber ihre Muskeln gehorchten ihr nicht.
Melissa spürte, wie sie vor Ekel begann, den vereinten, sinnlosen Stolz ihrer Vorfahren zu hassen. Sie konzentrierte all ihren Widerwillen – alles, was Angie über die Herrschaft der Midnighter gesagt hatte, ihre Gier und den Kinderdiebstahl und die Gedankenmanipulationen – und schleuderte ihn Madeleine mit aller Kraft entgegen.
Die Gedankenmeute bäumte sich gegen den Angriff auf und wandte sich in einer Flut vereinter Arroganz gegen sie. Sie hatten die Geheimnisse der Midnight über Jahrtausende getragen. Melissa war ein Emporkömmling, eine Waise, ein Nichts.
Wer aufsteht, muss niedergeschlagen werden.
Bevor die Meute jedoch dazu kam, lief in Melissas Mund wieder der Geschmack nach Darkling zusammen. Sie hatte sie gerade lang genug aufgehalten.
Das Wesen in Rex brodelte jetzt unaufhaltsam …
Wie eine Raubkatze strich es mitten durch die Meute bis in Madeleines eigene Erinnerungen hinein, ihre tiefsten Geheimnisse. Mit dem Instinkt des Jägers fand es ihre Ängste …
und weidete sie aus.
„Nein, Rex!“ Madeleine rang nach Luft, aber jetzt war er ein verwundetes Tier, mitleidlos und wütend. Melissa beobachtete entsetzt, wie fünfzig Jahre Schrecken aus den tiefsten Erinnerungen der alten Frau herausbrachen, jede nervöse Minute, die sie seit der Revolte der Grayfoots in ihrem Versteck verbracht hatte.
Du hast ihnen Anathea übergeben, fauchte er, und in Madeleine kamen Jahrzehnte voller Schuldgefühle hoch. Die Erinnerungsmeute wirbelte wie in einem Sturm umher, unfähig, sich in ihrem aufgewühlten Geist zu ordnen, wie Ratten in einem brennenden Haus.
Melissa konzentrierte sich. Rex, das reicht!
„Wir klopfen an deine Tür!“, sagte er laut mit unmenschlicher Stimme. „Endlich haben wir dich gefunden. Wir sind gekommen, um dich zu holen!“
Ein einziger, erstickter Entsetzensschrei kam Madeleine über die Lippen, Darklinge aus tausend Albträumen zerfetzten ihren Geist, ihre Hand zuckte einmal, dann entglitt sie Melissas.
Plötzlich schwieg die Gedankenlesermeute, Madeleines Geist war verschwunden. Melissa fand sich allein mit Rex in der Schwärze hinter geschlossenen Augen wieder. Die Darklinggedanken bewegten sich in ihm, immer noch mächtig, immer noch hungrig. Entsetzt sah Melissa zu, wie sich ihr ältester Freund verwandelte, während die Finsternis immer mehr von seiner Menschlichkeit verzehrte.
Sie fragte sich, ob sie die Nächste sein würde.
Rex, flehte sie. Komm zu mir zurück.
„Unüberwindbar“, sagte er leise mit trockener Stimme.
Der Sturm legte sich, und was von Rex’ Menschlichkeit geblieben war, legte sich über die brodelnde Finsternis. Sie spürte, wie sein altes Ich zurückkehrte.
Ihre Muskeln gehorchten ihr wieder. Melissa entzog ihm ihre Hand und schlug die Augen auf.
Madeleine lag reglos auf dem Speicherboden, zwischen den Scherben ihrer zerbrochenen Teetasse. Der Ausdruck des Entsetzens hatte sich auf ihrer Miene eingebrannt.
„Es hat funktioniert“, sagte Rex gelassen.
Melissa starrte die geschlagene Frau am Boden an. Sie atmete noch, aber ihre Augen waren glasig, ihre Finger zuckten.
Melissa sah zu Rex auf, dessen Augen violett blitzten.
„ Funktionieren nennst du das?“
„Ich weiß es jetzt wieder.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Ich weiß, was Samhain wirklich war.“
Melissa versuchte, ihre Gedanken zu sammeln, und riss ihre Augen von Madeleines verzerrtem Gesicht los. Die Darklinge würden kommen, und das Leben von tausenden stand auf dem Spiel. „Können wir es aufhalten?“
Rex schauderte eine Sekunde, als ob ein letzter flüchtiger Gedanke in seinem Kopf zurückgeblieben wäre. Aber dann nickte er langsam.
„Wir können es versuchen.“